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Mohsin Hamid: "Exit West"
Von der Normalität der Flucht

In dem neuen Roman des Pakistaners Mohsin Hamid "Exit West" geht es um weltbewegende Türen. Ein junges arabisches Liebespaar flieht durch sie aus seinem kriegsgeschüttelten Heimatland. Trotz aller Härte ist es ein sehr menschliches und optimistisches Buch.

Von Mithu Sanyal | 04.09.2017
    Der Schriftsteller Mohsin Hamid auf dem Doha Tribeca Film Festival in Katar 2012
    Mohsin Hamid geht thematisch gern aufs Ganze. Was Mohsin Hamid in "Exit West" praktiziert und als politisches Manifest fordert, ist radikaler Optimismus (picture alliance / dpa / EPA)
    Eine Information vorweg: Mohsin Hamids Roman "Exit West" ist ein Buch über die großen Themen unserer Zeit, doch trotz Krieg und Flucht und Tod und Folter liest es sich so leicht weg wie ... ein Buch ohne Krieg und Tod und Folter:
    "In einer von Flüchtlingen wimmelnden Stadt, in der es überwiegend noch friedlich zuging oder jedenfalls kein offener Krieg herrschte, begegnete ein junger Mann in einem Klassenzimmer einer jungen Frau. Sein Name war Saeed und ihrer Nadia und er hatte einen Dreitagebart, und sie war stets vom Hals abwärts in ein fließendes schwarzes Gewand gehüllt. Damals genossen die Menschen noch das Privileg, in Sachen Kleidung und Haar mehr oder weniger zu tragen, was oder wie es ihnen gefiel, daher hatten die jeweiligen Vorlieben der beiden durchaus etwas zu bedeuten."
    Nämlich, dass niemand Nadia blöd kommen durfte. Zu ihrem tschador-ähnlichen Kleid trägt sie mit Vorliebe einen schwarzen Helm und düst mit ihrem Motorrad durch die Straßen, die noch nicht von militanten Extremisten eingenommen worden sind.
    Normalität besteht auch im Ausnahmezustand fort
    Die Fortbildung, die Nadia und Saeed in ihrer Stadt am Rande der Apokalypse besuchen, ist ein Abendkurs über Corporate Identity und Product Branding. Sie rauchen miteinander Joints und nehmen psychedelische Pilze wie zahllose Verliebte in zahllosen anderen Metropolen. Denn die Frage in "Exit West" ist nicht, ob Normalität und Alltag in einer Ausnahmesituation möglich sind, sondern, ob es möglich ist, Normalität jemals völlig hinter sich zu lassen.
    Als immer weniger Menschen zur Arbeit erscheinen und irgendwann auch kein Gehalt mehr ausgezahlt wird, tun Nadia und Saeed, was alle tun, schleppen ihren Lohn in Form von Laptops und Flachbildfernsehern aus den Büros und verbarrikadieren sich in ihren Wohnungen. Im flackernden Schein der Petroleumlampe, weil das Stromnetz zusammengebrochen ist - ebenso wie die Gas- und Wasserversorgung und auch jede andere Form von Infrastruktur - bemerkt Saeed: "Das Ende der Welt kann manchmal richtig gemütlich sein."
    Türen entwickeln ein weltbewegendes Eigenleben
    Das neue Normal bedeutet, dass Fenster nicht mehr für einen schönen Ausblick stehen, sondern zu Öffnungen werden, durch die jederzeit der Tod hereinschwirren kann - wie die verirrte Patrone, die Saeeds Mutter tötet. Deshalb hieven sie Schränke und Matratzen vor die Fensteröffnungen. Und dann begibt sich der bis dahin überaus realistische Roman in die Gefilde des magischen Realismus. Denn:
    "Auch Türen begannen für die Menschen eine ganz neue Bedeutung zu bekommen. Gerüchte machten die Runde, dass es Türen gab, durch die man überallhin gelangen könne. Eine ganz normale Tür könne sich in eine dieser besonderen Türen verwandeln, und zwar einfach so, ohne Vorwarnung. Die meisten Menschen glaubten inzwischen an diese Türen, vor allem seit die militanten Extremisten verkündet hatten, jeder Versuch, eine solche Tür zu benutzen oder es zu verschweigen, wenn sie von einer neuen erfuhren, werde bestraft, und zwar wie üblich (was beinahe schon ein wenig einfallslos war) mit dem Tod. Und auch weil die angesehensten internationalen Radiostationen die Existenz dieser Türen anerkannten und die führenden Staatschefs der Welt sie als Ursache einer der größten globalen Krisen einstuften."
    Mohsin Hamid hat all die Metaphern genommen, die Menschen für Flucht verwenden, für den Akt des Weggehens in eine ungewisse Zukunft und benutzt sie so, als wären sie real. Als Kind war sein Lieblingsbuch "Die Chroniken von Narnia" von C. S. Lewis. Und so wie die Kinder darin durch einen Schrank nach Narnia gelangen, gehen die Figuren in "Exit West" ebenfalls durch Schränke und andere plötzlich auftauchende Portale in den Westen.
    Die Ortsveränderung verändert das Paar
    Auch Nadia und Saeed bezahlen schließlich einen Agenten, der immer im Flüsterton spricht "wie ein Poet oder ein Psychopat" und der ihnen eine Tür in einer verlassenen Zahnarztpraxis öffnet. Damit endet ihr bisheriges Leben und die erste Hälfte des Romans. War ihre Heimatstadt namenlos, kommen sie an ganz konkreten Orten an: auf der griechischen Insel Mykonos oder in London und schließlich in der Nähe von San Francisco. Doch kommen sie nie wirklich auf Mykonos oder in London oder San Francisco an, sondern nur in abgeriegelten Bezirken, die von der Polizei und dem Militär überwacht werden.
    In diesen unterschiedlichen Formen von Lagern verlagert sich der Konflikt von Außen nach Innen. Eines der Hauptprobleme ist, dass sie nicht arbeiten können und ihnen damit nicht nur das Geld fehlt, das Lebensnotwendige zu kaufen, sondern vor allem das Gefühl, ein nützlicher Teil der menschlichen Gemeinschaft zu sein:
    "Bei jeder räumlichen Veränderung fangen Paare an, den anderen mit anderen Augen zu sehen, denn unsere Persönlichkeiten haben keine unveränderliche Farbe wie zum Beispiel Weiß oder Blau, sondern sind vielmehr wie beleuchtete Leinwände, und die Schattierungen, die wir reflektieren, hängen zum großen Teil von dem ab, was um uns herum ist. So war es auch mit Nadia und Saeed, die sich an diesem neuen Ort in den Augen des anderen verändert hatten."
    Radikaler Optimismus gegen Nostalgiefalle
    Trotzdem erliegt der Roman niemals der Versuchung, eine Dystopie zu werden, da das Leben irgendwie weitergeht, und so lange es Leben gibt, gibt es irgendwann auch wieder Zukunft. Und mit der Zeit entwickeln die beiden Bewältigungsstrategien: Nadia entscheidet sich für politischen Aktivismus, Saeed, der nie sonderlich religiös war, für den Glauben:
    "Seine Gebete waren im Grunde eine Geste der Liebe für das, was verloren war und verloren gehen würde und auf keine andere Weise geliebt werden konnte. Wenn er betete, war er bei seinen Eltern, und er fühlte, dass wir alle Kinder sind, die unsere Eltern verlieren, jeder von uns, und dass auch wir für jene, die nach uns kommen und uns lieben werden, eines Tages verloren sein werden, und dass dieser Verlust alle Menschen vereint."
    Was Mohsin Hamid in "Exit West" praktiziert und als politisches Manifest fordert, ist radikaler Optimismus. Denn im Moment sind die Geschichten über die Flüchtlingskrise zutiefst pessimistisch, angefangen bei dem Wort Krise. Deshalb rief Hamid seine Kolleginnen und Kollegen unlängst in einem Essay in der britischen Tageszeitung "The Guardian" auf, sich der Nostalgie-Falle zu entziehen: Statt make-Amerika-great-again und früher-war-alles-besser, bräuchten wir hoffnungsvolle Visionen. Und die bekämen wir nicht von Politikern, sondern von Schriftstellern, schreibt er.
    "Exit West" ist die Umsetzung dieser Forderung. Sein auf eine dunkle Art heitere Roman ist eine Feier der Resilienz und der Gemeinsamkeiten, die alle Menschen jenseits von Grenzen und Nationen und Migrationsrouten teilen.
    Mohsin Hamid: "Exit West"
    Aus dem Englischen von Monika Köpfer
    Dumont Verlag: 2017, Köln
    224 Seiten, 22 Euro