Donnerstag, 25. April 2024

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Moldaus dritter Weg (1/4)
Demokratie oder Oligarchie?

Die frühere Sowjetrepublik Moldau wird von Oligarchen regiert - so lautet die Kritik der Moldauer, die in der Hauptstadt Chiᶊinǎu immer wieder für echte Demokratie auf die Straße gehen. Die annullierte Bürgermeisterwahl dort ist ein schlechtes Vorzeichen für die Parlamentswahlen im Februar.

Von Andrea Rehmsmeier | 01.10.2018
    Demonstranten stehen in Moldaus Hauptstadt Chiᶊinǎu einer Polizeikette gegenüber
    Demonstration am Nationalfeiertag: Am Stefansplatz in Moldaus Hauptstadt Chiᶊinǎu wollen die Menschen Blumen niederlegen, doch die Polizei hält sie auf. Zuerst sind die Regierungsvertreter an der Reihe. (Deutschlandradio/ Kerstin Weigand)
    Die Frauen sind aus einem nahegelegenen Dorf angereist. In ihren Händen halten sie noch die Blumen, die sie am Denkmal von Stefan dem Großen niederlegen wollten – jenem rumänischen Herrscher aus dem 15. Jahrhundert, der heute als Symbol für Moldaus Zugehörigkeit zu Europa gilt. Doch bei dem Anblick, der sich ihnen am Stefansplatz bietet, lassen sie ihre Sträuße sinken: abertausende Polizisten in schwarzen Schutzanzügen, mit Schlagstöcken und Helmen mit heruntergeklappten Visieren.
    "In meinem ganzen Leben habe ich sowas noch nicht gesehen! So eine Diktatur hatten wir noch nicht einmal unter den Kommunisten! Diese schwarzen Krähen sind ja überall! Und wie die angezogen sind - wie in einem Horrorfilm!"
    Dieser Beitrag gehört zu der Reportagereihe "Der dritte Weg - Die Bürger der Republik Moldau kämpfen um Selbstbestimmung" in der Sendung "Gesichter Europas".
    Martialische Demonstration von Staatsgewalt
    Die Regierenden legen Blumen am Stefansdenkmal nieder: Seit der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1991 beginnt so der moldauische Nationalfeiertag am 27. August. In diesem Jahr aber ist die Eröffnungszeremonie eine martialische Demonstration von Staatsgewalt. Der Platz und weite Teile der Straße sind durch mehrere Reihen von Polizisten abgesperrt. Am Vortag waren Zehntausende wütende Demonstranten durch die Innenstadt gezogen. In der Nacht haben die Sicherheitskräfte ein Protestlager brutal geräumt. Der Journalist und Oppositionspolitiker Vasile Nastase war dabei:
    "Wir wollten auch Blumen niederlegen, aber sie haben uns blockiert. Und jetzt? Schauen Sie selbst: Das Volk ist verschwunden! Hier gibt es nur noch uns, die Demonstranten, und die Polizei! Unabhängigkeit gibt es also nur für die Machthaber: für die Regierungsvertreter, für den Oligarchen Plahotniuc und seine Verwandten. Er ist ein Dieb unter dem Deckmantel der EU-Integration! Als wenn die Unabhängigkeit nur für sie wäre! Als wenn sie dem Volk nichts bedeutet!"
    Graue Eminenz hinter der Regierung?
    Vasile Nastase: Der hagere Mann mit dem Rucksack ist ein Urgestein der moldauischen Demokratiebewegung. Vor 27 Jahren, in dem geschichtsträchtigen August 1991, gehörte er zu denen, die mit ihrer Unterschrift die unabhängige Republik Moldau aus der Taufe hoben.
    "Ich war damals der jüngste Abgeordnete im Parlament. Und ich war für die Loslösung von der Sowjetunion. Wir kämpften für Demokratie, Rechtstaatlichkeit, eine gesunde Wirtschaftsentwicklung und anständige Löhne. Hier, auf diesem Platz, waren damals eine Menge Leute zusammengekommen. Auch sie waren für die Unabhängigkeit und sie wollten fröhlich sein!"
    Moldau sei in die Hand eines Oligarchen gefallen, schimpft Nastase. Vladimir Plahotniuc, der Vorsitzende der angeblich pro-europäischen "Demokratischen Partei" sei die Graue Eminenz hinter allen Regierungsentscheidungen. Durch Kandidatenbestechung habe er sich die Parlamentsmehrheit erschlichen und sogar den pro-russischen Präsidenten, Igor Dodon, zu seinem Vasallen gemacht. Die Annullierung der Bürgermeisterwahl, die Veruntreuung von Millionenbeträgen, die jüngst beschlossene Steuererhöhung und vor allem die Zusicherung von Straffreiheit für diejenigen, die auf nicht nachvollziehbare Weise zu Geld gekommen sind - all das, glaubt Nastase, geht auf das Konto des umtriebigen Strippenziehers.
    "Bitter muss ich heute bekennen, dass sich keine unserer Hoffnungen erfüllt hat. Die Staatsinstitutionen sind gekapert. Die Moldauer sind in alle Herren Länder verstreut, weil sie in ihrem Heimatland ihre Familien nicht ernähren können. Wir haben die niedrigsten Löhne in ganz Europa, und die Renten liegen bei 40 oder 50 Dollar im Monat. Nein, das haben wir nicht gewollt!"
    Wladimir Plahotniuc, Vorsitzender der "Demokratischen Partei" der Republik Moldau
    Wladimir Plahotniuc, Vorsitzender der "Demokratischen Partei" der Republik Moldau (picture alliance/ EPA)
    "Bald sind alle vernünftigen Bürger ausgewandert"
    Am Denkmal bereiten Polizeikräfte die Ankunft der Präsidentengarde vor. "Nieder mit der Mafia", "Diebe" schreien die Demonstranten und drohen mit Fäusten. Eine Sambagruppe heizt die Stimmung weiter an. Jetzt strömen die Menschen aus allen Richtungen herbei. Eine Frau hat sich vor den Sicherheitskräften aufgebaut und droht ihnen mit ihrem Blumenstrauß.
    "Macht nur so weiter und deckt eine korrupte Regierung, bald sind alle vernünftigen Bürger ausgewandert, dann könnt ihr euch gegenseitig beschützen!" Als im Juni die Bürgermeisterwahl annulliert wurde, sagt die Bankangestellte, hat sie jeden Glauben an die Regierung verloren:
    "In diesem Jahr haben sie uns das Wertvollste gestohlen: unsere Stimme! 250.000 Bürger von Chiᶊinǎu haben einen Bürgermeister gewählt – aber sie haben durch einen seltsamen Gerichtsentscheid die Wahl für ungültig erklärt! Wenn wir bei den Parlamentswahlen im Februar jemanden wählen, der ihnen nicht passt – werden sie diese Wahl ebenfalls annullieren? Und was dann?"
    Am Stefansdenkmal ist der Präsident mit seinem Stab eingetroffen. Ungerührt legt die Politprominenz ihre Sträuße nieder, die tobende Menge würdigt sie mit keinem Blick. Das Blasorchester, das eigentlich die Parade der Trachtengruppen begleiten soll, geht im Protestlärm unter. Auf dem Stephansplatz gibt jetzt die Sambagruppe den Rhythmus vor: Die Demonstranten skandieren ihre Losungen im Takt der Musik und hämmern auf die Absperrgitter. Als die Trommler losmarschieren, folgt ihnen die Menge tanzend und klatschend. Langsam setzt sich der Zug zum finalen Protestaufmarsch in Bewegung - an den Sicherheitskräften vorbei in Richtung Regierungsviertel.