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Nicole Krauss: "Ein Mann sein"
Monogamie ist ein gestrandeter Wal

Die New Yorker Schriftstellerin Nicole Krauss legt mit „Ein Mann sein“ ihren ersten Band mit Erzählungen vor – reflektierte Prosa, die existentielle Themen und Fragen der Geschlechtsidentität mit interessanten Figuren verbindet.

Von Wolfgang Schneider | 11.05.2022
Nicole Krauss: "Ein Mann sein"
Nicole Krauss: "Ein Mann sein" (Foto: (c) Goni Riskin, Buchcover: Rowohlt Verlag)
„Ein Mann sein“ ist ein aufmerksamkeitsheischender Titel, zumindest wenn es sich um das Buch einer Autorin handelt. Auch wenn Nicole Krauss in den Geschichten alles Plakative, Aufdringliche vermeidet und von ihren Figuren keine Gender-Debatten geführt werden – es geht hier immer auch um das aktuelle Thema der Geschlechtsidentitäten. Was ihr „Sein“ betrifft, sind die meisten Erzählerfiguren in diesem Band weiblich. In allen zehn Geschichten richtet sich der Blick jedoch auf faszinierende, eigenwillige, bisweilen auch befremdliche Männer – auf Väter und Söhne, aber auch auf Geliebte wie den hünenhaften „deutschen Boxer“ in der Titelgeschichte, der eigentlich sehr sanft und sensibel ist.
Die erste Erzählung „Die Schweiz“ handelt von der irritierenden Affäre einer iranischen Internatsschülerin mit einem holländischen Geschäftsmann, der bedrohlich dominant ist. Es geht um die heikle Verbindung von Macht und Sex-Appeal:
„Einmal, als ich vor dem Schaufenster eines Pralinenladens stand, trat ein Europäer in einem schönen Anzug hinter mich. Er beugte sich so vor, dass sein Gesicht mein Haar berührte, und flüsterte:‚ Ich könnte dich mit einer Hand zerbrechen.‘ Dann ging er in aller Ruhe weiter, als wäre er ein Boot, das über stilles Wasser segelt.“

Geburt, Tod, Trennung, Trauer

Die Geschichten sind zumeist um existentielle Grunderfahrungen herum gebaut: Geburt und Tod, Trennung und Trauer. „Der Ehemann“, das längste Stück des Bandes, greift das jüdische Thema der „wiedergefundenen“ Menschen auf. Verstreute Überlebende des Holocaust wurden von Organisationen wie dem Roten Kreuz oft erst nach vielen Jahren wieder mit Angehörigen zusammengeführt. So meldet sich in dieser Geschichte an der Haustür einer alten, leicht verwirrten Witwe in Tel Aviv plötzlich ein „Sozialdienst“ und präsentiert den einst verlorenen „Ehemann“.
Er kommt aus Ungarn; ein charmanter Herr mit Hut, der zunächst etwas verloren in der Wohnung steht, in den Wochen darauf aber mit seinem mitteleuropäischem Charme die ganze Familie bezaubert, jedenfalls alle außer Tamar, der misstrauischen, kurz darauf aus New York anreisenden Tochter der alten Frau, die – Psychotherapeutin von Beruf – einen undurchsichtigen Betrug vermutet. Wohl mit Recht, denn die Daten passen nicht zusammen. Aber muss man eine so glückliche Wendung der Dinge denn zugunsten des Konzepts der Wahrheit in Frage stellen? 
„Tamar ist drauf und dran, zu versichern, dass auch sie seit ihrer Scheidung allein sei und sie sich darum noch lange keine fremden Männer ins Haus hole, oder? Wenn sie die ganze Flut der Worte, die ihre Patientinnen und Patienten in ihre Praxis ergössen, auf eine einzige traurige Wahrheit reduzieren könne, dann sei es die, dass am Ende jeder allein ist.“
Es ist eine wunderbare, psychologisch nuancierte Familienkomödie mit historischer Tiefenschicht und zeitgemäßen Verwicklungen. Tamars eigene Ehe ist an der Disbalance der Alltagspflichten gescheitert. Ihr schwuler Bruder Shlomi kann sich mit seinem Mann den Kinderwunsch dank einer indischen Leihmutter erfüllen. In dieser Form mag die so oft verabschiedete Kleinfamilie literarisch noch reüssieren. Hetero-Beziehungen werden dagegen in den Geschichten regelmäßig als scheiternde beschrieben, Frauen verlieben sich eher in ihre Unabhängigkeit. Und doch bleibt die Sehnsucht.

Der Wellenkamm der freien Liebe

„Nach allem, was sie von ihren Patientinnen in den Zwanzigern oder Dreißigern hörte, war Monogamie ein großer, gestrandeter Wal, dessen aufgedunsener, verfaulter Leib zum Himmel stank… Aber sieh dir Shlomi an: Er hat den Wellenkamm der freien Liebe abgesurft, hat und wurde von ganz Ibiza geliebt, doch am Ende wollte er nichts anderes als das, was seit Menschengedenken jeder haben wollte: Nicht universelle Liebe, sondern allein geliebt zu werden.“
Ein zentrales Thema der Erzählungen ist die jüdische Identität. Viele Familien haben einen Holocaust-Hintergrund. Die religiöse Tradition spielt eine große Rolle, auch wenn sie längst brüchig ist. In „Sussja auf dem Dach“ übersteht ein Columbia-Historiker eine Krebsoperation und begreift sein Überleben als Auftrag: Sein einziges Enkelkind will er vom Bann der dreitausendjährigen jüdischen Geschichte befreien, die sich für ihn verdichtet in der Erinnerung daran, wie sein eigener Vater täglich in frommer Herrgottsfrühe die Gebetsriemen band. In spontanem Aufbegehren verschwindet der Professor mit dem Baby von der Beschneidungsfeier, während im Nebenraum schon das Messer vorbereitet wird.

Gefühl der Bedrohung

Mehrere Erzählungen haben einen leichten Zug ins Phantastische oder Dystopische. „Zukünftige Notstände“, schon 2002 entstanden, greift das Gefühl der Bedrohung nach dem 11. September auf und scheint zugleich die Stimmung der Corona-Pandemie vorwegzunehmen. Als Schutz gegen eine diffuse Gefahr werden in New York an alle Bürger Gasmasken verteilt, von denen sich manche später gar nicht mehr trennen wollen:
 „Vielleicht traute die Person dem Bürgermeister nicht, vielleicht hatte sich der- oder diejenige auch einfach daran gewöhnt, die Maske aufzusetzen, ja sie sogar liebgewonnen und sträubte sich jetzt, sie abzulegen und wieder mit nacktem Gesicht herumzulaufen, allem und jedem ausgesetzt.“
Krauss schreibt eine intelligente Prosa, die in den Geschichten konzentriert zur Geltung kommt, während ihre Romane bisweilen an Weitschweifigkeit leiden. Der Erzählton ist reflektiert, von einer vornehmen Kühle, aber ohne gewollte Coolness; er liefert eher präzise Details als Stimmungswerte. Konventionelle Raffinesse kann man diesen gut gemachten Geschichten bescheinigen. Am Ende macht es aber den Reiz guter Lektüren aus, dass wir alle noch so gute Gemachtheit vergessen und nach ein paar Seiten den Eindruck haben, von „wirklichen“ Menschen zu lesen. Das gelingt Nicole Krauss in diesen Geschichten ein ums andere Mal.
Nicole Krauss: "Ein Mann sein. Storys"
Aus dem Englischen von Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag, Hamburg. 256 Seiten, 24 Euro.