Becker: Nun sind Sie als Vorsitzender des Marburger Bundes ja in einer Art Tariffunktion tätig; Sie haben selber den Bereich 'wir müssen über Tarifverhandlungen etwas regeln' angesprochen. Wenn die Zustände in Krankenhäusern sind, wie sie sind, wenn es also kritisierbare Arbeitszustände gibt, muss sich da auch die Tarifvertragspartei Marburger Bund nicht sagen lassen, dass sie Fehler gemacht hat?
Montgomery: Nein, so würde ich das nicht formulieren, weil - wir haben ja seit ´96 gefordert, dass man Tarifverhandlungen mit uns führt. Wir haben auch Showverhandlungen der Arbeitgeber über uns ergehen lassen müssen. Nur - das Problem ist, dass man ja in Verhandlungen zu gemeinsamen Lösungen kommen muss. Und bisher hat in fünf oder sechs Runden die Arbeitgeberseite zu keinem einzigen Zeitpunkt gezeigt, dass sie bereit war, mit uns vernünftige Verträge zu machen. Insofern sage ich: Wir haben keine Fehler gemacht. Wir haben versucht, was wir konnten; wir haben versucht, was ging. Aber gegen eine derartig hartleibige Arbeitgeberpolitik ist eben schwer Ankommen. Und deswegen musste man den Druck erhöhen, und das haben wir jetzt getan.
Becker: Nun sind Sie ja als Marburger Bund Mitglied eines Tarifverbundes, einer Tarifkooperation. Künftig wird das eine Kooperation mit Ver.di, mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft sein. Wenn Sie sich nun eine Tarifpartei wie etwa die Pilotenvereinigung Cockpit angucken, die Forderungen aufstellen kann, die in der restlichen Tariflandschaft die Schamesröte ins Gesicht treiben: Ist das Modell Cockpit nicht auch für Krankenhausärzte das Bessere, also so ein special interest club, der dann seine ganz speziellen Forderungen und Wünsche geltend machen kann?
Montgomery: Ja, zu dem Modell Cockpit gibt es zwei ganz große Unterschiede. Das eine ist: Es gibt in der Bundesrepublik 140.000 Krankenhausärzte, die auch noch untereinander in starken Hierarchien verbunden sind, und nicht nur 4.200 Piloten bei der Lufthansa, die ein sehr viel größeres Zusammengehörigkeitsgefühl haben auf der einen Seite und einen sehr viel höheren Organisationsgrad in einer einzigen Organisation, nämlich Cockpit. Das ist der eine Unterschied. Der zweite - und in meinen Augen zentrale - Unterschied ist: Fliegen muss man nicht. Man kann entscheiden, ob man ein anderes Verkehrsmittel wählt oder ob man eine andere Airline wählt. Krankwerden kann man sich nicht aussuchen, und wir können deswegen nicht, wie die Piloten ihre Flugzeuge stehen lassen, einfach die Krankenhäuser dichtmachen, weil - dadurch würden wir nicht die Arbeitgeber treffen, sondern die Patienten. Und deswegen verbietet sich für Ärzte ein platter Streik in Form von Arbeitsniederlegungen. Wir haben dafür andere Instrumente. Ich kann Ihnen versichern, dass wir die auch früher oder später nehmen werden, aber natürlich geht der Abstimmungsprozess unter 140.000 Krankenhausärzten viel langsamer und viel schwieriger vor sich als der unter 4.200 Piloten bei der Deutschen Lufthansa.
Becker: Sie haben ja nun im Verlauf des Ärztetages die Bundesgesundheitsministerin mit Ihren Forderungen konfrontiert. Sie haben darauf hingewiesen, 15.000 neue Stellen für Ärzte hielten Sie für erforderlich - Mehrkosten von rd. 2 Milliarden Mark. Die Ministerin zeigte sich ziemlich indifferent zum ganzen Thema Krankenhaus. Haben Sie den Eindruck, dass Sie sie mit Ihren Optionen - 2 Milliarden, 15.000 neue Stellen - nicht so richtig erschreckt haben, dass sie das gar nicht realisiert?
Montgomery: Also ich glaube, dass diese Ministerin ja auch einen Auftrag zu erfüllen hat, nämlich den, den großen Unmut der niedergelassenen Ärzte zu befriedigen. Das war sicherlich eine der Aufgaben, warum Gerhard Schröder sie in dieses Bundeskabinett berufen hat. Und sie hat, glaube ich, bisher sich vor allem um die Belange der niedergelassenen Ärzte gekümmert; sie hat von Arzneimittelbudgets was gesagt, sie hat etwas zum Risikostrukturausgleich, zum Fremdkassenausgleich gesagt. Das sind die drei Themen, die niedergelassene Ärzte sehr viel mehr bewegen als das Krankenhaus. Ich habe in zwei Vorgesprächen, die wir gehabt haben, deutlich gemacht, dass die Mehrheit der deutschen Ärzte Krankenhausärzte sind und dass die Probleme im Krankenhaus in unseren Augen noch viel größer sind. Sie hat diese Botschaft nur zum Teil aufgenommen. In ihrer Rede konnte ich zwei Punkte entnehmen, die für uns wichtig sind. Erstens hat sie gesagt, dass sie noch prüfen, ob die europäischen Richtlinien und das europäische Urteil zu Veränderungen im deutschen Arbeitszeitgesetz führen müssen. Ich bin davon überzeugt, dass das so ist. Aber sie hat wenigstens die Prüfung zugesagt. Das ist nicht genug, aber schon mal was . . .
Becker: . . . die aber nicht in ihr Ressort fällt . . .
Montgomery: . . . nein, deswegen habe ich sie ja immer gebeten, dem Arbeitsminister Riester auf die Zehen zu treten. Aber ein Teil fällt dann doch in ihr Ressort, nämlich die Auswirkungen dieser Prüfung. Wenn nämlich nach der Prüfung sich ergibt, dass wir mehr Stellen brauchen, dann wird man diese Stellen finanzieren müssen, und dann wird man darüber reden müssen, wie man das in den Budgets der Krankenhäuser richtet. Und da ist die Bundesgesundheitsministerin direkt gefragt. Die zweite Botschaft, die sie uns gebracht hat, ist, dass bei der Einführung des neuen Krankenhausfinanzierungssystems, das ja zur Zeit noch auf einer sehr unreifen Vorlage basiert und nicht bis ins Detail durchdacht und durchkalkuliert ist, werden wir wohl zu - sage ich mal - zu einer Streckung des Zeitplans kommen, der die Krankenhäuser aus dem extremen Druck einer übereilt eingeführten neuen Finanzierungsordnung befreit. Auf welchem technischen Weg man das macht, darüber sind wir noch uneins. Die Ministerin möchte natürlich mit so wenig Gesichtsverlust wie möglich aus der Sache herauskommen, dafür habe ich Verständnis. Wir brauchen aber eine juristisch so stringente Festlegung wie nur möglich. Und diesen Kompromiss - darüber werden wir noch reichlich Gelegenheit haben zu diskutieren, zu streiten und uns am Ende auch zu vertragen und zu einigen.
Becker: Nun haben Sie selber gesagt, es sei Aufgabe der Ministerin, zu einer gewissen Befriedung im Gesundheitswesen zu kommen. Das Projekt, das Sie angesprochen haben, die geplante Einführung von so genannten DRGs, von diagnosebezogenen Fallpauschalen im Krankenhaus - an der Stelle ist es ja so, dass es sich da um ein Projekt handelt nach der Bundestagswahl, also ein Projekt für gegebenenfalls weniger friedliche Phasen. Haben Sie nicht den Eindruck, dass die gegenwärtige Harmonie, die da aufgezeigt wird, nach einer Bundestagswahl dann erlischt?
Montgomery: Also, eine alte Erfahrung der Gesundheitspolitik ist, dass vor jeder Wahl die Ärzteschaft als Gruppe umgarnt und gepflegt und gehegt wird und nach der Wahl die Grausamkeiten kommen - übrigens völlig egal, wie die Farbe der Bundesregierung ist. Das ist eine Lebenserfahrung, die wir inzwischen haben machen dürfen. Ich will jetzt nicht darüber spekulieren, was man nach der Wahl machen will mit den Krankenhäusern. Ich gehe erst mal von der Ernsthaftigkeit von Politik aus, und da hat Frau Schmidt klar gesagt, dass in ihrem Ministerium keine - sage ich mal - 'schwarzen' Entwürfe oder Vorentwürfe irgendwelcher Reformgesetze schlummern, die man uns erst mal nicht zeigt und dann nach der Neuwahl der Regierung rausholt. Und zweitens hat sie uns zugesagt, den Zeitplan der Einführung des Fallpauschalensystems zu überdenken. Erst mal gehe ich von Ernsthaftigkeit von Politik aus, und deswegen glaube ich ihr und deswegen arbeiten wir nun gemeinsam an konstruktiven Lösungen. Was nach der Wahl ist - da bin ich eigentlich eher noch der Meinung, dass wir fast zu wenig Vorarbeit leisten für die Zeit nach der Wahl. Mit 'wir' meine ich jetzt die Selbstverwaltung, also die Ärzte, die Krankenkassen, die Politik zusammen, weil die Erfahrung uns lehrt, dass man die Grausamkeiten im ersten Jahr nach einer Wahl begehen muss, um im zweiten Jahr nach der Wahl die Erfahrungen mit den Grausamkeiten zu machen, die man dann im dritten Jahr noch rechtzeitig, bevor der Wahlkampf einsetzt, wieder korrigieren kann. Das heißt, wir bräuchten eigentlich jetzt die ganz intensive Debatte um die Zukunft der Krankenversicherungen, damit dann im Jahre 2003 die Gesetzesentwürfe für die Neustrukturierung der Gesetzlichen Krankenversicherung auf dem Tisch liegen könnten. Und da habe ich so ein bisschen Sorge, dass der Impetus - der Druck - aus der Politik nicht groß genug ist, dieses zu tun, weil das natürlich Projekte sind, die weit über eine Legislaturperiode hinausgehen. Und Politiker haben sich abgewöhnt, in Zeiträumen zu denken, die vier Jahre überschreiten.
Becker: Das sagen Sie trotz des Runden Tisches, den die Bundesgesundheitsministerin ja eingerichtet hat?
Montgomery: Ja, weil - den Runden Tisch, den ich ausgesprochen begrüße, damit Sie das nicht falsch verstehen -, der Runde Tisch ist eine sehr vernünftige Einrichtung, es ist immer gut, wenn man miteinander redet und nicht übereinander. Und das halte ich deswegen für einen sehr konstruktiven Ansatz. Nur: Wir müssen aufpassen, dass der Runde Tisch nicht zu einem Debattierclub der Überschriften wird, weil die Konzeptpapiere, die ich gesehen habe, die in die Arbeitsgruppen des Runden Tisches eingeflossen sind, doch sehr systembeharrend - systemimmanent - sind, sehr auf dem heutigen System aufbauen und sehr wenig konstruktiv in die wirklich weite Zukunft denken - und vor allem ein zentrales Problem von vornherein durch politischen Beschluss ausgespart bleibt, nämlich die Frage: Wie bringt die Krankenversicherung das Geld in der Zukunft in die Kasse? Mir geht es nicht um die Höhe. Das halte ich für vernünftig im Ansatz, dass man erst mal die Leistungen definiert, das ist ja die Arbeitshypothese des Runden Tisches im Moment; dann durch die Multiplikation von Leistung mal Preis - die Kosten im Gesundheitswesen ...
Becker: . . . obwohl man an der Stelle ja auch sagen könnte: Was nützt es, über optimale Versorgung zu sprechen, wenn man nachher feststellt, die ist aber nicht zu finanzieren . . .
Montgomery: . . . dann hat man zumindest die Aufgabe, entweder der Bevölkerung klar zu sagen, dass die Versorgung eben nicht optimal ist, oder aber durch Gesetzesänderung die Finanzmittel zu besorgen. Aber man hat eine klare Ausgangsposition, insofern finde ich das vernünftig. Mir geht es aber eigentlich um etwas anderes. Wir müssen ja langfristig eine Abkehr von dem heutigen umlagefinanzierten - paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern - auf der Basis der in abhängiger Beschäftigung erwirtschafteten Einkünfte in die Gesetzliche Krankenversicherung einfließenden Finanzmittel - dieses System müssen wir neu strukturieren hin zu einem Prämien orientierten Krankenversicherungssystem, das sehr viel mehr privatwirtschaftliche Anteile hat. Anders bewältigen wir die Herausforderungen der Demographie - also des Älterwerdens der Bevölkerung - und des medizinischen Fortschritts nicht. Und da fehlt mir ein bisschen der Mut in der Politik. Hier gäbe es Tapferkeitsmedaillen durchaus zu verdienen.
Becker: Wenn ich versuche, Sie ein bisschen zu interpretieren oder auch zu verkürzen, dann heißt Ihr Zukunftsprojekt, die GKV abzuspecken, in eine Grundversorgung zu wandeln und dann ein System frei wählbarer Zusatzversorgungen drüber zu setzen. Auch aus medizinischer Sicht: Geht das denn, den Leistungskatalog der GKV - der Gesetzlichen Krankenversicherung - so weit übers Ausreichende, Zweckmäßige, Notwendige - das sind ja die gegenwärtigen Kriterien - so weit darüber hinaus abzuspecken? Kann man da so tief schneiden, dass es dann nachher auch billiger wird?
Montgomery: Nein, da interpretieren Sie mich völlig falsch, weil - ich bin ein Gegner der Debatte um die Ausgrenzung von Leistungen oder des Abspeckens des Leistungskatalogs. Wir dürfen zwei Dinge hier nicht miteinander verwechseln: Es gibt im Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung ja unstreitig und von allen Parteien so akzeptierte so genannte versicherungsfremde Leistungen, also Leistungen, die da rein gekommen sind, weil Politik sie wollte, aber sie nicht bezahlen wollte. Die auszusortieren, ist einfach. Das sind nach heutiger Rechnung etwa 4 Milliarden Mark; darüber herrscht Einigkeit . . .
Becker: . . . damit ist die GKV nicht zu sanieren . . .
Montgomery: . . . aber damit ist a) die GKV nicht zu sanieren, und b) ist ja noch nicht gesagt, dass die Politik bereit ist, diese Leistungen dann zu bezahlen. Ganz problematisch wird es bei den eigentlichen medizinischen Kernleistungen. Und da gibt es unendlich viel Geschwätz von vielen Menschen, die sagen, sie wollen den Leistungskatalog entforsten oder durchforsten, entfrachten - was auch immer. Meine Erfahrung in 20 Jahren Berufspolitik und diversen Anläufen an diesem Thema ist, dass das am Ende immer an den Interessen vieler einzelner Gruppierungen scheitert. Es ist noch niemandem gelungen, den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung wirklich zu durchforsten . . .
Becker: . . . vielleicht geht das auch gar nicht . . .
Montgomery: . . . ich glaube auch, über die versicherungsfremden Leistungen hinaus geht das auch praktisch nicht, denn wir werden in der Bundesrepublik nie Einigkeit erzielen über zum Beispiel so interessante Dinge wie Medikamente, die weiter in der GKV sind, obwohl sie ihren wissenschaftlichen Wert in keiner einzigen Studie beweisen müssen. Solange wir uns da nicht einigen können, dass man entweder nur wissenschaftliche Medizin oder nur Schamanentum betreibt, solange werden wir auch nicht zu einem Konsens kommen. Deswegen halte ich es für einen Irrweg von einer Nebelkerze der Politik, mit der viel Zeit vergeudet wird. Meine Voraussetzung ist: Wir nehmen einfach mal den heutigen Leistungskatalog minus die versicherungsfremden Leistungen als Ausgangsbasis. Und wir fangen nicht an, die Vergangenheit aufzuarbeiten, sondern wir sagen einfach, dass neue Leistungen nur eingeführt werden dürfen, nachdem sie vorher eine bestimmte Plausibilitäts- und Wirtschaftlichkeitsprüfung über sich haben ergehen lassen, bei der auch geprüft wird, welche alte Leistung vielleicht durch die neue ersetzt wird. So. Das ist - glaube ich - eine Arbeitsbasis, von der aus man weitergehen kann. Nur - damit sanieren wir überhaupt nicht die Gesetzliche Krankenversicherung. Das ist wieder nur das Schauen auf die Ausgabenseite. Das Problem der Gesetzlichen Krankenversicherung in der Zukunft liegt ja auf der Einnahmenseite; eine ganz platte Zahl: Während heute drei Arbeitnehmer einen Rentner in der Krankenversicherung finanzieren - wir werden in 30 Jahren jeder Arbeitnehmer seinen privaten Rentner haben, den er mit in der Gesetzlichen Krankenversicherung finanzieren muss. Das Verhältnis verkehrt sich von 3 : 1 zu 1 : 1. Und da werden einfach die jungen Menschen von heute, die dann die Arbeitnehmer der Zukunft sind, werden uns einen solidarischen Vogel zeigen und werden sagen: 'Wir haben überhaupt keine Lust, unsere gesamte Arbeitskraft zu 100 Prozent in die Finanzierung der Alterssicherungs- und Krankenversicherungssysteme der Rentner zu investieren.' Das muss man einfach nüchtern so sehen. Und deswegen sollen wir heute ein Versicherungssystem aufbauen, das den jungen Menschen von heute und den Rentnern der Zukunft die Chance gibt, ihre eigene kapitalgedeckte Krankenversicherung der Zukunft aufzubauen - so ähnlich, wie der Walter Riester das in der Rente anfängt zu tun mit seinen kapitalgedeckten Anteilen.
Becker: Das war auch deutlich während des Ärztetages zu merken, dass die Rentenreform der Bundesregierung die Ärzteschaft gleichsam hellhörig gemacht hat. Gesetzt den Fall, es gäbe nach der Bundestagswahl erneut eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung: Trauen Sie der zu, dass sie die Rentenreform für das Gesundheitswesen kopiert, sprich: gesetzliche Leistungen kürzt und die Lücken via Privatpolice füllen lässt?
Montgomery: Also, ich bin ja selber Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und kenne die Strukturen ganz gut. Und ich glaube, dass die großen Probleme weder im Kanzleramt noch im Gesundheitsministerium sitzen, sondern das große Problem besteht in der Fraktion der SPD, wo nach wie vor doch sehr traditionelles, gewerkschaftsnahes, sozialpolitisches Gedankengut vorherrscht und man meint, dass die Gesetzliche Krankenversicherung um jeden Preis mit den alten Finanzierungsprinzipien erhalten werden muss. Ich habe eine fundamental andere Meinung, dass Sozialpolitik nicht im Aufrechterhalten erstarrter Strukturen sich erschöpfen darf, sondern die Qualität der Leistungen erhalten bleiben muss und man dann auch unkonventionelle neue Wege gehen muss, um diese zu finanzieren.
Becker: Geht - was in der Rente vielleicht funktioniert; wir wissen's ja noch nicht - kann das auch funktionieren in punkto Gesundheit?
Montgomery: Davon bin ich fest überzeugt. Und es gibt ja inzwischen bereits zwei private Krankenversicherer, die Tarife anbieten, die diese Überlegungen aufnehmen und die schon Modellrechnungen gemacht haben, wie diese privaten Krankenversicherer einen erheblichen Teil der Gesetzlichen Krankenversicherung - ich sag's mal in 'Tüddelchen' - 'übernehmen' könnten und unter privatwirtschaftlichen Voraussetzungen mit Kapitaldeckung - also mit der Absicherung durch richtige Mark und Pfennig dahinterstehendem eingezahlten Kapital - wie man das finanzieren könnte. Und ich halte das für sehr vernünftige Ansätze, habe mit beiden Vorstandsvorsitzenden dieser Versicherungen gesprochen, und wir sind uns einig, dass wir diese Modelle auch für andere empfehlen wollen.
Becker: Nun mag eine Gesellschaft ja noch damit leben können, dass sie in der ferneren Zukunft vielleicht ärmere ältere Leute zu verkraften hat. Kann eine Gesellschaft damit leben, dass für den Fall, dass in punkto der kapitalgedeckten medizinischen Versorgung es eben im Einzelfalle fehlt - kann eine Gesellschaft damit leben, dass man Krankheit dann eben auch unkommentiert hinnimmt? Denn das wäre ja logische Folge dessen, was Sie vorschlagen, oder kann es als Risikofaktor passieren?
Montgomery: Nein, das ist ein in der Politik aufgeworfener Risikofaktor, der nicht eintreten kann, weil ich es für unmöglich halte, in der Bundesrepublik ein Sozialversicherungssystem aus dem heute vorhandenen zu entwickeln, das nicht die Versicherungspflicht für alle am Ende mit beinhaltet. Also, den unversicherten und damit krankbleibenden Patienten wird es in der Zukunft nicht geben. Und wenn das die Konsequenz des von mir vorgeschlagenen Systems wäre, dann wird es dieses System nicht geben, denn das ist in Deutschland nicht durchsetzbar. Aber man muss sich mit solchen Totschlagsargumenten natürlich, wenn man etwas Neues will, am Anfang auseinandersetzen. Wir haben aber genügend Instrumente und ja auch Beispiele - wie zum Beispiel die Schweiz, die ja so etwas ähnliches macht, die auf dem Wege dahin ist -, dass man das machen kann. Ich will jetzt nicht das abgenutzte Wort vom 'sozialverträglichen Umbau' dafür benutzen, sondern ich sage, man kann das unter dem Erhalt der Qualität unserer Sozialversicherung privatwirtschaftlich besser machen als das, was heute in den Gesetzlichen Krankenversicherungen geschieht.
Becker: Nach der - ich sage mal - sozialpolitischen Ethik vielleicht ein Stück Medizinethik. Der Ärztetag in der rückliegenden Woche hat sich schon verdient gemacht um medizinethisch heikle Themen dadurch, dass diese Themen sehr intensiv diskutiert wurden. Es gab ein klares Votum der Ärzteschaft gegen aktive Sterbehilfe nach niederländischem Vorbild. Etwas anderes hätte Sie erstaunt?
Montgomery: Ja, etwas anderes hätte mich total erstaunt, aber das hat auch nie in meiner politischen Rechnung überhaupt gestanden. Die deutsche Ärzteschaft ist sich wirklich sehr, sehr einig dahin, dass der Ruf nach aktiver Tötung von kranken Menschen ein Fehlverständnis von Schmerztherapie und Sterbebegleitung ist. Und dazu haben wir uns klar geäußert. Wir waren nicht ganz so klar in den Äußerungen zu den ganz modernen Forschungsprojekten, embryonale Stammzellenforschung oder auch der Frage des Einsatzes der Präimplantationsdiagnostik. Meine Position hierzu ist immer gewesen, dass der Artikel des Grundgesetzes, der festlegt, dass die Menschenwürde allen Menschen in gleicher Weise zukommt, diese Methoden verbietet. Aber wir haben starke, sehr - sage ich mal - wissenschaftsgläubige, ja wenn nicht sogar wissenschaftswütige Fraktionen auch auf dem Ärztetag. Wir haben aber sehr besonnene Positionen formuliert, indem wir auf der einen Seite gesagt haben: Die Frage nach der Präimplantationsdiagnostik ist keine juristische Frage, sondern ist eine ethische Frage, die die Gesellschaft klären muss - will sie das oder will sie das nicht. Und das muss die Gesellschaft auch durch Beschluss des Bundestages am Ende entscheiden. Und die Frage der Stammzellenforschung ist für uns derzeit noch keine Alternative, weil für uns im Moment die ethischen Risiken noch die Zukunftsperspektiven überwiegen.
Becker: Für Sie persönlich wäre es inhaltlich angenehmer, inhaltlich zutreffender gewesen, die Ärzte hätten sich zu einem klaren Votum in Sachen Präimplantationsdiagnostik - also für oder gegen genetische Tests an im Reagenzglas erzeugter Embryonen - entschließen können. Das ist nicht geschehen. Ihnen wäre ein klares Votum lieber gewesen?
Montgomery: Mir - und meine Position ist da unverändert - erscheint die Präimplantationsdiagnostik als der Einstieg in die vollkommene Entwürdigung menschlichen Lebens. Wenn man in Zukunft Menschen im Reagenzglas selektieren darf, wenn man in Zukunft Menschen nach dem Wert ihres vielleicht später zu lebenden Lebens aussondern darf, dann frage ich mich, warum man nicht das gleiche auch mit alten Menschen tun darf, die schwerstkrank und sterbend im Bett liegen. Also, es gibt direkt ethische Verbindungen zwischen der Präimplantationsdiagnostik und der Euthanasie. Und wenn man stringent und konsequent denkt, dann muss man in beiden Dingen den gleichen Beschluss fassen, nämlich: Man muss ethische Grenzen setzen und einfach sagen: Das wollen wir nicht.
Becker: Ist diese Forderung, die auf dem Ärztetag erhoben wurde, der Gesetzgeber möge zügig zu einer Klarstellung der Rechtslage kommen - ist das eine Forderung, die nicht auch den Gesetzgeber zwangsläufig überfordern muss? Hat sich die Ärzteschaft da nicht ein Stück weit hinter den Gesetzgeber zurückgezogen, hinter dem Gesetzgeber versteckt?
Montgomery: Nein. Also, das hat Politik außerdem selber zu verantworten, denn der ja leicht erkennbare Versuch von Bundeskanzler Gerhard Schröder, den Diskussionsentwurf einer Richtlinie zum Management der Prägimplantations-Diagnostik, den die Bundesärztekammer vorgelegt hat, umzuinterpretieren, indem er gesagt hat: 'Wenn selbst die Bundesärztekammer gesagt hat, das darf man machen, dann brauchen wir ja wohl das Embryonenschutzgesetz nicht zu ändern' - dieser durchsichtige Versuch der Verantwortungsverlagerung hat ja nicht geklappt. Und wenn nun die Bundesregierung aus Wirtschaftsüberlegungen oder aus sozialethischen Überlegungen, wie Schröder das unlängst in einem ,Spiegel'-Interview gesagt hat, gerne all diese modernen Dinge will, dann muss sie es auch entscheiden. Und das Tempo und den Zeitpunkt entscheidet die Politik. Das sind keine Entscheidungen, die in Wissenschaftszirkeln getroffen werden können, es sind keine Entscheidungen, die in Ärztezirkeln getroffen werden können. Es sind gesamtgesellschaftliche Entscheidungen, und dafür ist in meinen Augen nach wie vor immer noch der Bundestag zuständig.
Becker: Können oder sollten solche Entscheidungen noch in der laufenden Legislaturperiode getroffen werden?
Montgomery: Also, in der Präimplantationsdiagnostik erscheint mir im Prinzip die Debatte geführt. Ich kenne fast alle Argumente - behaupte ich jetzt mal etwas vermessen. Und ich habe im letzten halben Jahr eigentlich keine wesentlichen neuen Argumente mehr dazugelernt. Wenn man das mal alles zusammenträgt, könnte der Bundestag sicherlich entscheiden. Ich glaube, das wird er auch tun. In der Frage der embryonalen Stammzellenforschung glaube ich, dass der Dissens, den man so schön festmachen kann an den Äußerungen des Bundespräsidenten und den Äußerungen des Bundeskanzlers, noch nicht reif zur Abstimmung ist. Ob das noch in dieser Legislaturperiode geht, wage ich zu bezweifeln, wage ich auch nicht, gut zu finden, weil - ich fände es schade, wenn dieses wichtige Thema in die wirklich ja schon sich abzeichnenden Entsetzlichkeiten des vor uns liegenden Wahlkampfes kämen. Hier ist die Debatte noch überhaupt nicht reif, und ich glaube nicht, dass wir in dieser Legislaturperiode über die embryonale Stammzellenforschung zu einer abschließenden Meinung kommen können.