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Moral und Globalisierung
Sklaveneinsatz für das neue Handy

Manche überfällt das schlechte Gewissen im Discount-Textilkaufhaus, andere beim Griff zum in Fernost gefertigten Smartphone. In ihrem Buch nimmt Evi Hartmann das Individuum direkt in die Verantwortung für Hungerlöhne und Ausbeutung in der globalisierten Welt.

Von Wolfram Weltzer | 27.06.2016
    Chinesische Arbeiter bauen eine Smart-Watch zusammen.
    Chinesische Arbeiter bauen eine Smart-Watch zusammen. (AFP)
    "Wie viele Sklaven halten Sie? Über Globalisierung und Moral."
    Der Titel des Buches klingt ein wenig reißerisch - und nach wenig neuer Kapitalismuskritik; nach Anklage und politischem Aktivismus. Stutzig macht nur, dass Evi Hartmann eine Professorin der Betriebswirtschaft ist. Und so ist es – so viel vorab – spannend zu verfolgen, wie sich die Autorin dem Thema nähert. Persönlicher Auslöser und argumentativer Ausgangspunkt für sie: Der Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesh vor drei Jahren.
    "Das ist ja eine Katastrophe, wie es schlimmer nicht ging. Aber auf der anderen Seite viele Firmen, die sich gar keiner Schuld bewusst waren, weil es ja Reglementierungen mit den Lieferanten gab zum Feuerschutz, zu allem Möglichen. Und dann passiert trotzdem so eine Katastrophe. Und erst mal keine richtige Reaktion, auch im Bekanntenkreis: Hat sich da das Konsumverhalten geändert, waren die Leute erschüttert und haben erst mal überprüft, was sie da einkaufen? Und das war der Auslöser, warum ich mich gefragt habe: Denken wir falsch nach, wie gehen wir an so ein Problem heran?
    Nur kurz und auch für den ökonomischen Laien verständlich erklärt Evi Hartmann die Mechanismen der Ausbeutung in den ellenlangen Lieferketten von der Rohstoffproduktion bis zur fertigen Ware; wie die Preisdrückerei beim Endprodukt nach unten bis zur Näherin weitergegeben wird.
    Die Logik des Auspressens
    Squeezing, also Auspressen, nennt Evi Hartmann das gängige Modell der Behandlung von Lieferanten in Afrika und Asien. Die Näherinnen oder Metallschürfer arbeiteten nicht nur zu Hungerlöhnen, sondern unter Zwang – daher der Begriff Sklaven. An praktischen Beispielen erläutert sie aber auch, dass die Global Player selbst in hart umkämpften Märkten fairere Preise bezahlen könnten, wenn sie sich nur intelligenter anstellten.
    Mit der Mehrzahl der Manager geht Hartmann dabei hart ins Gericht – was sie sich erlauben kann, weil ihr Spezialgebiet Supply Chain Management ist, also die praktische Ökonomie der moralisch bedenklichen Liefer- und Wertschöpfungsketten. Die Manager wüssten genau, was sie täten und versteckten sich nur hinter dem Konkurrenzdruck, der ihnen angeblich keine Wahl lasse. Gleiches gelte aber auch für die Kunden in Deutschland mit ihrer Geiz-ist-Geil-Mentalität:
    "Wir haben ein Problem zwischen Ethik und Moral. Wir wissen, was zu tun wäre (Ethik), aber wir tun es nicht (Moral). Schlimmer: Wir echauffieren uns gerne und heftig, auch medial, auch und gerade im Internet, über den moralischen Mangel unserer Zeiten. Doch wir tippen diese wohlfeile moralische Entrüstung in ein Notebook, für das unser anonymer, aber persönlicher Sklave Blutmineralien schürfen musste."
    An dieser und noch an vielen anderen Stellen des Buches ist Empörung herauszuhören. Es ist nicht die Empörung einer jungen Wilden aus dem linksgrünen Spektrum, sondern die einer etablierten, erfolgreichen Bildungsbürgerin, die über den Tellerrand ihrer Disziplin weit hinausblickt.
    Spannend ist nun, was Hartmann aus dem Befund eines ausbeuterischen Wirtschaftssystems und des daraus folgenden moralischen Desasters macht: Sie fordert nicht mehr Staat, auch kein anderes Wirtschafts- oder auch nur Steuersystem. Und verwirft trotz heftiger Kritik auch den Gedanken, die Globalisierung zurückzudrehen.
    "Also, ich bin ganz klar für die Globalisierung. Ich wende mich gegen die Auswüchse der Globalisierung, gegen die Unfairness; aber die Globalisierung, die ist nicht wegzudenken, die ist ein großer Benefit für alle."
    Wie Verhalten moralischer machen?
    Hartmann arbeitet sich daran ab, warum wir uns im globalen Wirtschaftsleben nicht moralischer verhalten. Und daran, mit welchen Marketingtricks oder anderen Anreizen Menschen zu moralischerem Handeln gebracht werden könnten. Der größte Teil des Buches handelt deshalb von Verhaltenspsychologie, Moralpsychologie und Moralphilosophie. Harte Kost, aber Dank lockerer Schreibweise doch gut zu lesen.
    Zentral ist bei diesem Ansatz die Rolle des Individuums. Während viele Menschen angesichts der schieren Größe der globalen Probleme den eigenen Beitrag gering schätzen und auf Staat und Unternehmen zeigen, fordert Hartmann genau das Gegenteil:
    "Mein Standpunkt lautet: Ich verhalte mich moralisch, auch wenn mir dafür keiner applaudiert und ich im Zweifel nichts damit ausrichten kann. Diesem meinem Moralverständnis folgend folgend halte ich Moral auch nicht für ein demokratisches Phänomen. Die Mehrheit bestimmt nicht, was Moral ist (unsere eigene Geschichte sollte uns das eigentlich gelehrt haben)."
    Offen bleibt an dieser Stelle, welche moralische Instanz dann in einer pluralistischen Gesellschaft den Maßstab für richtiges Handeln setzen soll. Hartmann glaubt allerdings, dass Reflexion und Kommunikation zu besserem Handeln führen. Deswegen tritt sie auch für einen "Moral Monday" ein, einen Tag pro Woche, in dem Fragen der Moral im Unternehmen diskutiert werden.
    Im Übrigen argumentiert sie aber letztlich pädagogisch und kritisiert - auch das erstaunlich für eine Betriebswirtin - die zu starke Ausrichtung von Schule und Erziehung an verwertbaren, wirtschaftlichen Interessen.
    "Die Persönlichkeitsentwicklung bleibt notorisch auf der Strecke. Schlimmer: Wir erziehen so unbewusst und absichtlich wie leider auch systematisch und wirksam Kinder und Erwachsene zur Anpassung an die Identifikation mit Status, externer Anerkennung und Erfolg. Damit ist die Gleichung der Unmoral aufgestellt: keine eigene Identität = keine Moral".
    Wäre die Gleichung der Moral demzufolge Persönlichkeit stärkende, zum Widerspruch befähigende Bildung = Manager und Konsumenten, für eine moralischere Globalisierung? Hartmann schreibt das nicht explizit. Aber ihre Argumentation legt es nahe.
    Was ist die Konsequenz, wenn man dieser Haltung folgt? Ist sie vielleicht sehr ehrenwert, aber doch naiv? Müsste nicht doch die Politik stärker in die Pflicht genommen werden?
    Die Autorin scheint daran zu glauben, dass der Schlüssel tatsächlich beim Individuum liegt. Das macht die Besonderheit ihrer Argumentation aus: Kein Leser kann sich nach der Lektüre darauf zurückziehen, dass in Sachen gerechterer Globalisierung die anderen am Zug wären.
    Das ist unbequem, aber Evi Hartmann liegt so mit ihrer gleichzeitig wertkonservativen und doch modernen, globalisierungskritischen Haltung wohltuend quer zum politischen Rechts-Links-Schema.
    Buchinfos:
    Evi Hartmann: "Wie viele Sklaven halten Sie? Über Globalisierung und Moral", 224 Seiten, Campus Verlag, Preis: 17,95 Euro