Montag, 29. April 2024

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Moralismus auf der Bühne
Theater darf auch mal wehtun

Das Theater verhandelt Themen wie Diversität, Gleichberechtigung und Rassismus hinter und auf der Bühne. Theatermacher warnen, dass die Häuser zu einer moralisierenden Anstalt verkommen könnten, die Kunstfreiheit gegen den besserwisserischen Zeigefinger eintauschen. Theater müsse auch das Böse zeigen dürfen.

Von Barbara Behrendt | 31.01.2021
Manuel Harder als Orlando hält ein Bild der AFD-Politikerin Alice Weidel vor seinem Gesicht während der Fotoprobe zu Ode von Thomas Melle in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin, 18. Dezember 2019.
Der Autor Thomas Melle will nicht nur das Gute auf der Bühne zeigen - wie in seinem Stück "Ode" am Deutschen Theater Berlin (IMAGO / Martin Müller)
Auf einem Online-Panel zum Thema "klimaneutrales Theater" fasste die Theatermacherin Nicola Bramkamp die gewachsenen strukturellen Ansprüche an den eigenen Betrieb neulich halb augenzwinkernd so zusammen: "Ich verstehe jeden Theaterleiter und jeden Technischen Direktor. Seit 2013 peitscht ein Thema das nächste. Wir müssen die Arbeitsbedingungen der Künstler*innen verbessern. Wir müssen familienfreundlich werden, wir müssen geschlechtergerecht werden. Wir dürfen, #MeToo, keine Hospitantinnen mehr vernaschen. Und dann kommt auch noch die Klimadebatte um die Ecke. Irgendwann ist auch mal gut. Trotzdem glaube ich, dass wir nicht überlebensfähig sind, wenn wir uns diesen Fragen nicht stellen. Das muss unsere Gesellschaft leisten."
Bramkamp hat ganz Recht, wenn sie sagt: Jedes Unternehmen muss sich mit diesen Fragen beschäftigen – warum also nicht die Theater? Ausgerechnet jene Institutionen, staatlich subventioniert, die sich schon im 18. Jahrhundert als "Sittenschule" begriffen haben. Für Friedrich Schiller war das Theater ein Instrument der Aufklärung, ein "Wegweiser durch das bürgerliche Leben" – eine "moralische Anstalt".

Theater muss auch das Böse zeigen

Doch sollte man nicht unterscheiden zwischen Forderungen nach Gerechtigkeit in den Strukturen des Theaters – und der Kunst auf der Bühne? Wäre es nicht ein Aus für die Kunstfreiheit und schrecklich langweilig, wenn Schauspielerinnen nur Figuren spielen dürften, die für die gute Sache kämpfen? Wenn auf dem Theater nichts Unzivilisiertes mehr gezeigt werden darf? Ein rundum abgesicherter Ort, Verletzungsgefahr ausgeschlossen? Für den Dramatiker Thomas Melle eine Sackgasse.
"Das Theater oder die Kunst muss auch das Reich des Bösen sein dürfen. Und es muss das Böse nicht nur abgebildet werden können, sondern auch überformt und ins Groteske verzerrt. Und dazu muss es Formen geben dürfen und Worte, die uns als gesellschaftliche Wesen erst mal abstoßen."

Ist das Theater also keine "Moralische Anstalt" mehr? Doch, so Thomas Melle. "Gerade deshalb muss das Böse ja gezeigt werden können. Als Böses. Mephisto. Der Teufel muss auf der Bühne sein können, um das aufzuzeigen, Conditio Humana, wie der Mensch ist. Um das Theater als moralische Anstalt aufrechterhalten zu können."

Politisch-moralische Botschaften sind en vogue

Nach Jahrzehnten des postdramatischen Theaters, das an keine Wahrheit, keine Identität mehr glaubte und jede Wertedebatte ironisch verjuxte, scheint das Pendel in der Kunst nun in die Gegenrichtung ausgeschlagen zu sein: Wer heute keine politische, moralische Botschaft zu verkünden hat, wird leicht als irrelevant abgetan. Gefördert und gefeiert werden Künstlerinnen, die Diversität, Feminismus und Klimaschutz auf der Bühne predigen.
Der Potsdamer Dramaturgin Natalie Driemeyer etwa ist der Klimawandel ein besonderes Anliegen – auch auf der Bühne. Ihre Frage lautet nicht, welche Themen fürs Theater spannend sein könnten, sondern wie man das Theater benutzen kann, um Menschen für das Thema Klimagerechtigkeit zu begeistern. "Ich für mich habe entschieden, dass ich mit meiner Theaterarbeit versuche, die Gesellschaft etwas besser zu machen. Es gibt bestimmte Themen, wie Gendergerechtigkeit, Diversität und Klimawandel, für die ich einstehe. Wenn ich diese Anliegen nicht hätte, würde ich kein Theater machen."

Theater darf keine einfachen Antworten geben

Doch wie aufregend kann Kunst sein, die eine aktivistische Agenda hat? Wird die moralische Anstalt hier nicht zur moralisierenden, die oft unterkomplexe und selbstgerechte Forderungen an unser Zusammenleben stellt? In vielen Theaterabenden sieht man heute Schauspieler oder Laien von der Bühne herab dozieren: Über den richtigen Umgang mit Frauen, Transgender, Roma, dem Klima, Trump oder Putin. Gut gemeint, aber braucht es dafür das Theater? Kunst, die sich gesellschaftspolitisch geriert, kann bewegend sein, wenn sie Widersprüche auslotet, unsere dunkelsten Seiten beleuchtet – doch nicht, wenn sie auf alle Fragen die richtigen Antworten kennt.
Das findet auch der Regisseur Christopher Rüping: "Es gibt keine leichten Antworten. Und sobald man im Theater sitzt und denkt: Jetzt habt ihr’s euch aber leichtgemacht, in die eine oder in die andere Richtung, ist es zum Beispiel auch langweilig. Das ist nicht politisch, das ist politisierend (also: moralisch – moralisierend, politisch – politisierend) weil es sich den Anstrich des Politischen gibt, aber eigentlich nur eine Phrase drischt."

Offen sein für andere Perspektiven

Trotzdem setzt sich Rüping für gleichberechtigte Probenprozesse ein – gerade diese Offenheit in der Entstehung sei es, die kontroverse, vielstimmige Kunst erzeuge. Es gebe zwar auch die Möglichkeit, dass eine Person unterschiedliche Perspektiven bündele, aber: "Der einfachere und demokratischere Prozess ist, ihn zu öffnen für andere Perspektiven. Die Chance, dass man dann ins Theater geht und einfach nur Antworten präsentiert bekommt, schwindet dann." Mehr Diversität im Ensemble führt also zu aussagekräftigerem Theater? Das wäre schön. Doch noch muss sich diese These, diese Hoffnung in der Theaterpraxis erst beweisen.