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"Mord aus einem falschen Ehrbegriff heraus"

Eine Dokumentation und ein begleitendes Sachbuch rekonstruieren jetzt den Mord an Hatun Sürücü im Jahr 2005. Solche sogenannten Ehrenmorde hätten mit Traditionen und Rollenmustern zu tun, die es schon in der Kita aufzubrechen gelte, sagt Bilkay Öney (SPD), Ministerin für Integration in Baden-Württemberg.

Bilkay Öney im Gespräch mit Gerwald Herter | 28.07.2011
    Gerwald Herter: Soweit unser Korrespondent Beitrag in Informationen am Morgen (MP3-Audio) Jürgen König über dieses wichtige Buch, das heute erscheint. Auch Bilkay Öney hat diesen Beitrag gehört, sie ist Ministerin für Integration in Baden-Württemberg. Frau Öney wurde in der Türkei geboren, sie wuchs in Berlin auf, wurde dort Mitglied der Grünen und wechselte dann zur SPD. Guten Morgen, Frau Öney!

    Bilkay Öney: Guten Morgen!

    Herter: Frau Öney, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Ehrenmord - dieser Begriff gefällt mir überhaupt nicht. Haben Sie eine bessere Bezeichnung für diese schrecklichen Morde?

    Öney: Ja, der Begriff passt tatsächlich nicht, ich würde sagen, es ist ein Mord aus einem falschen Ehrbegriff heraus begangen.

    Herter: Wie viele solcher Morde sind nach Ihren Informationen in Deutschland in den letzten Jahren begangen worden?

    Öney: Also es gibt Schätzungen, in Berlin waren es innerhalb kürzester Zeit, glaube ich, fünf Morde, da war auch Hatun Sürücü mit dabei, und deswegen - Hatun Sürücü war eben auch der populärste Fall oder der Fall, der in die Medien, in die Schlagzeilen kam. Es gab aber auch sehr viel schrecklichere Geschichten, auch in anderen Bundesländern. Insofern kann ich jetzt auch nur schätzen, aber die Schätzungen der UNO liegen bei circa 6000 Ehrenmorden im Jahr.

    Herter: Weltweit?

    Öney: Weltweit, genau.

    Herter: Sehr lange waren diese Morde in Deutschland fast unbekannt, obwohl es sie auch gegeben haben muss. Wie erklären Sie das?

    Öney: Es kann sein, dass die Morde vielleicht als Selbstmorde getarnt wurden, oder man hat vielleicht auch den Täter gar nicht ermitteln können. In einem Fall in Nordrhein-Westfalen war es so, da wurde eine Leiche eines jungen Mädchens im Wald aufgefunden, sie war vorher erdrosselt und dann mit einem Messer auch verletzt und letztendlich aber überfahren worden und kam zu Tode, und das sind Sachen, die erst sehr viel später aufgeklärt werden teilweise.

    Herter: Was haben diese sogenannten Ehrenmorde oder Morde aus falschen Motiven aus Ihrer Sicht mit Religion zu tun, wenn überhaupt?

    Öney: Mit Religion eher weniger, ich würde sagen, das hat zu tun mit Traditionen, die über Jahrhunderte gewachsen sind. Insofern ist das auch ganz schwierig, mit ein bisschen integrationspolitischen Maßnahmen dagegen anzukämpfen. Also was man tun muss, ist natürlich, die Kinder und Jugendlichen schon sehr, sehr früh aufklären und auch versuchen, gegen diese Traditionen oder diese Rollenmuster, die die Kinder ja auch in sich haben, obwohl sie hier geboren werden und aufwachsen, dass man das aufbricht, schon eventuell in der Kita.

    Herter: Und haben die deutschen Behörden inzwischen geeignete Mittel und Wege gefunden, um gegen diese Morde auch strafrechtlich wirksam vorzugehen?

    Öney: Also man hat natürlich verschiedene Mittel dann erprobt beziehungsweise auch strafrechtlich festgesetzt: Zwangsheirat ist jetzt eine besonders schwere Form von Nötigung und wurde ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Insofern hat man auch gleich reagiert, aber man wird solche Morde wahrscheinlich nie ganz ausschließen können.

    Herter: Man muss in Familien eindringen, um zu ermitteln und später zu verurteilen - auch die Familie von Hatun Sürücü ist daran offenbar zerbrochen, kaputtgegangen -, und es ist sehr schwierig, in diesen Familienverbund einzudringen. Wie lässt sich da etwas verbessern?

    Öney: Ich habe das vorhin eben versucht zu erklären, dass, wenn man die Kinder, die ja in den Familien groß werden und dann mit diesen Traditionen aufwachsen, dass die Schule da etwas machen kann oder auch die Kita, weil anders kommen wir an die Familien nicht ran, da haben Sie recht.

    Herter: Also kurzfristig lässt sich da nicht mehr machen als ohnehin schon?

    Öney: Ich glaube, es ist ganz schwer, weil ich sagte ja, es sind Traditionen, die über Jahrhunderte gewachsen sind, und wie wollen wir diese Traditionen ersetzen durch andere Traditionen? Das funktioniert ja nicht. Das ist auch der Grund, warum viele sagen, Integration ist gescheitert, weil die leben in ihrer eigenen Welt und haben mit unseren Werten nichts zu tun oder wollen auch damit nichts zu tun haben. Das ist sehr, sehr schwierig.

    Herter: Wenn es um Prävention geht, spielen auch Medien eine ganz wichtige Rolle. Wie sollten Medien mit diesen Morden umgehen, um Populismus keinen Vorschub zu leisten?

    Öney: Ich glaube, dass gerade in dem Fall Hatun Sürücü die Medien sehr, sehr sensibel damit umgegangen sind. Das zeigt auch der Film, den ich leider nicht sehen konnte, oder auch Bücher, die darüber geschrieben worden sind inzwischen. Insofern spielen die Medien eine große Rolle und haben auch eine sehr verantwortungsvolle Rolle. Aber ich glaube, diese Fälle wurden sehr sensibel aufgearbeitet, und ich habe keinen Populismus entdecken können. Also vielleicht in einigen Medien, aber der Großteil der Medien hat sich eigentlich sehr seriös verhalten.

    Herter: Wie kann das überhaupt sein, dass Familien, wir haben es gehört, 35 Jahre lang in Deutschland leben, ohne Werte anzunehmen, die eine wichtige Rolle spielen? Was ist Ihre Erklärung?

    Öney: Die Erklärung ist, dass es Familien sind, die aus ländlichen Gebieten zu uns gekommen sind, die sehr konservativ sind und diese Werte eben auch sehr konservieren. Das heißt, sie geben diese Werte nicht auf, sie haben Angst vor Identitätsverlust und klammern sich auch an diese Werte, an ihre Traditionen, an ihre Religion. Und deshalb sieht man eben auch ganz, ganz viele muslimische Menschen mit Kopftüchern oder ... In der Regel sind das dann eben die Muslime, die noch mit diesen Wertvorstellungen hier leben und Schwierigkeiten haben, sich irgendwie zu öffnen.

    Herter: Sie haben die Erfahrung aus Berlin, aber jetzt auch aus Baden-Württemberg: Gibt es da wichtige Unterschiede?

    Öney: In Baden-Württemberg ist es so, dass die Arbeitsmarktsituation entspannter ist und die Integration sich ja oft am Arbeitsplatz vollzieht, insofern da mehr Austausch zwischen Deutschen und Migranten am Arbeitsplatz stattfindet. In Berlin ist ein ganzer Industriesektor oder mehrere Sektoren sind weggebrochen, insofern ist das für die Migranten in Berlin schwieriger, Arbeit zu finden und da sich auch mit deutschen Kollegen am Arbeitsplatz auszutauschen. Das ist glaube ich ein großes Problem.

    Herter: Das war die Integrationsministerin von Baden-Württemberg Bilkay Öney, SPD, über Ehrenmorde und Integration in Deutschland. Frau Öney, vielen Dank für das Gespräch!

    Öney: Ich habe zu danken!

    Herter: Alles Gute!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.