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Mordfall Lübcke
Mihalic (Grüne): Fokus auf Einzeltäter führt in die Irre

Die Grünen-Politikerin Irene Mihalic plädiert dafür, beim Mordfall Lübcke stärker das Umfeld des Tatverdächtigen zu untersuchen und sich nicht auf den "juristischen Einzeltäterbegriff" zu fokussieren. Außerdem sei ein Umbau der Verfassungsschutzbehörden nötig, sagte Mihalic im Dlf.

Irene Mihalic im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 26.06.2019
Der Stuhl auf der Ehrentribühne, der für den erschossenen Kasseler Regierungspäsidenten Walter Lübcke reserviert war, ist am Tag des Festumzugs mit einem Foto und einem Blumenstrauß geschmückt. Der Festumzug markiert auch in diesem Jahr wieder das Ende des Hessentages.
Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) wurde Anfang Juni durch einen Kopfschuss getötet (picture alliance / Yann Walsdorf)
Dirk-Oliver Heckmann: Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat die Republik erschüttert und eine heftige Debatte über Rechtsextremismus und die Rolle des Rechtspopulismus in Deutschland ausgelöst. CDU und CSU haben bekräftigt, dass eine Zusammenarbeit mit der AfD für sie nicht in Frage komme. Viele machen die Alternative für Deutschland direkt mitverantwortlich für den Tod von Walter Lübcke. Heute kommt der Innenausschuss des Bundestages zu einer Sondersitzung zusammen.
Am Telefon ist jetzt Irene Mihalic. Sie ist innenpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Mitglied im Innenausschuss. Sie war auch Obfrau im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss. Schönen guten Morgen, Frau Mihalic.
Irene Mihalic: Guten Morgen!
Heckmann: Heute kommt der Innenausschuss zu einer Sondersitzung zusammen, zu Gast Innenminister Seehofer und Generalbundesanwalt Frank. Was genau möchten Sie von denen wissen?
Mihalic: Wir möchten uns natürlich erst einmal über den Stand der Ermittlungen nach dem schrecklichen Mord informieren lassen. Wir möchten natürlich mehr über die Hintergründe erfahren. Eine wichtige Frage für uns ist, gibt es einen Bezug zum NSU-Trio. Die Verbindungen, die der mutmaßliche Tatverdächtige da zu haben scheint, in Richtung "Combat 18", zur rechten Szene in Kassel und Nordhessen, sind ja sehr, sehr augenfällig. Deswegen liegt da eine Verbindung sehr, sehr nahe, aber darüber möchten wir uns natürlich zunächst einmal informieren lassen, wie da der Stand der Ermittlungen ist.
Ermittlungen im Fall Lübcke werden ausgeweitet
Heckmann: Wie bewerten Sie denn derzeit den Stand der Ermittlungen und die Erfolge?
Mihalic: Man hat ja bisher noch nicht viel herausgefunden, beziehungsweise man hat bisher noch nicht viel über den Stand der Ermittlungen gehört. Deswegen sind ja diese Fragen für uns auch so wichtig. Erst mal ist es sicherlich sehr, sehr gut, dass man einen Tatverdächtigen festnehmen konnte. Ich finde es auch gut, dass der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernommen hat, wegen der Schwere und wegen der Bedeutung dieser Straftat. Und ich finde es auch richtig, was ich der Presse entnehmen konnte, dass die Polizei versucht, auch andere Straftaten jetzt noch genauer auszuermitteln, um zu sehen, gibt es da vielleicht einen Tatzusammenhang, gibt es da Verbindungen zu dem Tatverdächtigen.
Heckmann: Welche Ermittlungen meinen Sie?
Mihalic: Ich habe das der Presse entnommen, dass die Polizei auch andere mutmaßlich rechtsextreme Straftaten daraufhin untersuchen möchte, ob der jetzt festgenommene Tatverdächtige etwas damit zu tun hat. Das finde ich zunächst einmal sehr, sehr gut, um da vielleicht auch noch mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Denn wir fragen uns ja alle, war Stephan E. eingebunden in ein rechtsextremistisches Netzwerk, gibt es da vielleicht noch weitere Straftaten oder Tatzusammenhänge, die zuzuordnen sind, und nicht zuletzt auch die Verbindung zu den NSU-Taten. Wir haben da den Mord in Kassel und auch da ist die Indiziendecke relativ dünn, was den Tatnachweis betrifft.
Deswegen ist es wichtig, auch da noch mal genau hinzugucken, denn es war ja auch schon eine Vermutung, die wir im NSU-Untersuchungsausschuss geäußert haben, dass das NSU-Trio eigentlich gar kein Trio war, sondern dass der NSU aus mehr als drei Personen bestanden haben muss, weil ansonsten diese Morde gar nicht durchzuführen gewesen wären. Deswegen ist es naheliegend, dass es da vielleicht doch eine Verbindung gibt.
Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) spricht am 17.02.2017 bei der Sitzung des Deutschen Bundestages in Berlin. 
Grünen-Politikerin Irene Mihalic: "Weit verzweigte, rechtsextreme Strukturen" (dpa/picture alliance/Bernd von Jutrczenka)
Heckmann: Kommen wir zurück auf Stephan E., den Mord an Walter Lübcke. Wenn der dringend tatverdächtige Stephan E. die Tat begangen haben sollte - wie gesagt, er ist ja dringend tatverdächtig -, wie wahrscheinlich ist es denn aus Ihrer Sicht, dass er nicht alleine gehandelt hat?
Mihalic: Na ja. Ich glaube, wir müssen da ein bisschen unterscheiden. Jetzt wird ja sehr die Einzeltäter-These auch bemüht, von unterschiedlicher Seite, und ich finde, man muss hier wirklich unterscheiden zwischen dem juristischen Einzeltäter-Begriff, hatte er da möglicherweise Tatkomplizen, Mittäter, Mithelfer, oder war er eingebunden in ein Netzwerk. Weil ich glaube, dass diese strenge Fokussierung auf den juristischen strafrechtlichen Einzeltäter-Begriff uns einfach in die Irre führt. Das erleben wir auch an anderer Stelle.
Auch bei der Fokussierung auf das NSU-Trio gab es diese Unterscheidung. Oder auch, wenn Sie an andere politische Straftaten denken wie den Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz. Auch da: Amri soll ein Einzeltäter gewesen sein. Ich glaube einfach, dass dieses Gerede vom Einzeltäter uns wirklich sehr, sehr in die Irre führt und auch die Sicherheitsbehörden zu sehr darauf fokussiert, eben nicht das Umfeld anzuschauen.
"Weit verzweigte, rechtsextreme Strukturen"
Heckmann: Es gibt ja offensichtlich Hinweise, Zeugenaussagen, die darauf hindeuten, dass es sich bei Stephan E., wenn er die Tat begangen hat, nicht um einen Einzeltäter gehandelt haben kann.
Mihalic: Ja, da haben Zeugen ausgesagt, dass da irgendwo noch ein zweites Fahrzeug gewesen sein soll, wenn ich mich richtig erinnere. Auch das sind natürlich Details, die wir heute noch mal in der Sitzung erfragen wollen, wie es darum steht. Aber wichtig ist natürlich, erst einmal zu begreifen oder wirklich genau herauszuarbeiten, in was für einem Umfeld der mutmaßlich Tatverdächtige agiert hat, und da reden wir dann über rechtsextreme Strukturen, die sehr, sehr weit verzweigt sind, von Personen, die sich da vernetzen.
Da ist auch die Frage, woher hat er die Waffe beschafft, wer war da möglicherweise beteiligt, mit wem hatte er Kontakt, wie ist es denn mit "Combat 18", gibt es da irgendwelche Verbindungen. Wenn wir uns dann zu sehr auf die Frage konzentrieren, war er jetzt tatsächlich ein Einzeltäter, oder gab es da im juristischen Sinne noch weitere Helfer, und wenn es die nicht gab, blendet man das aus, das wäre aus meiner Sicht ein schwerwiegender Fehler, weil so eine Betrachtung führt tatsächlich nur in die Irre.
Heckmann: Frau Mihalic, die Süddeutsche Zeitung hatte schon vor der Festnahme von Stephan E. mehrfach unter Berufung auf interne Polizeiquellen berichtet, man vermute hinter dem Mord eher das persönliche Umfeld von Walter Lübcke. "Vergessen Sie einen möglichen politischen Hintergrund", wurde ein Ermittler sinngemäß zitiert. Haben die Sicherheitsbehörden aus der Katastrophe, die mit der rechtsextremen Terrorgruppe NSU verbunden war, nichts gelernt?
Mihalic: Bei einem Mord ist es zunächst einmal naheliegend, dass man auch im persönlichen Umfeld des Opfers beginnt mit den Ermittlungen. Es hat sich ja dann anhand der DNA-Spur, die am Tatort gefunden wurde, ziemlich schnell herausgestellt, dass es offensichtlich nichts mit dem persönlichen Umfeld zu tun hatte, sondern dass Stephan E. dringend tatverdächtig ist, diesen Mord begangen zu haben. Insofern ist es der Auswertung der Spuren zu verdanken, dass wir jetzt diesen Tatverdächtigen haben und dass jetzt in eine entsprechende Richtung auch ermittelt wird.
Aber wie gesagt, das sind natürlich Details, das möchten wir natürlich heute auch in der Innenausschuss-Sitzung genauer erfahren, wie ist es denn da mit den Ermittlungen gelaufen, wer hat da wie wohin geschaut. Das können wir, glaube ich, dann im Anschluss ganz gut bewerten, wenn wir da mehr Informationen haben.
Der geistige Boden - und die AfD
Heckmann: Viele machen jetzt die AfD, die Alternative für Deutschland mitverantwortlich für den Mord an Walter Lübcke. Auch die CDU hat sich in der Richtung positioniert. Ist das nicht maßlos überzogen?
Mihalic: Wenn Sie darüber nachdenken, ob es jetzt eine Schuld auch wieder im juristischen Sinne gibt - die gibt es wahrscheinlich nicht. Aber man muss sich natürlich schon anschauen, auf was für einem geistigen Boden solche Straftaten begangen werden. Da geht es um Hass auf Andersdenkende, da geht es um Rechtsextremismus.
Wenn Sie das sehen in rechtsextremen Kreisen, wie über das Opfer auch geredet wird, mit was für einer Häme - da ist vom Volksverräter die Rede und all solche Dinge - dann sehen Sie schon, auf wessen geistigem Boden so etwas zum Beispiel wächst. Und wir wissen ja auch über Personenverbindungen zwischen AfD-Funktionären und auch der rechtsextremen Szene.
Das ist alles nichts Neues und insofern kann ich den Gedankengang schon nachvollziehen, wenn man sagt, da gibt es eine Gruppierung, da gibt es Parteien, da gibt es eine Szene, die bereitet mit ihrem Hass und mit ihrer Rhetorik einen gewissen Nährboden, und auf Worte folgen Taten. Dann ist dieser Schritt einfach nicht weit.
Verbindungen des Tatverdächtigen zum Verfassungsschutz?
Heckmann: Der Generalbundesanwalt, Frau Mihalic, hat gestern bekanntgegeben, dass er Anklage erhebt gegen Mitglieder der sogenannten "Revolution Chemnitz", auch eine rechte Gruppierung. Es wird gemeldet, Medien berichten, dass der Hauptverdächtige Kontakt zum Verfassungsschutz gehabt haben soll. Kommt da das nächste große Thema auf uns zu?
Mihalic: Ja, das werden wir uns natürlich auch noch mal ganz genau anschauen müssen, wie da eigentlich die Verbindungen genau waren, denn das ist etwas, das uns ja auch schon im Zusammenhang mit dem NSU stark beschäftigt hat: Wie ist eigentlich die Verbindung zwischen Verfassungsschutzbehörden mit ihren V-Personen und der rechten Szene. Das war damals schon ein riesen Skandal und ich glaube, es lohnt auf jeden Fall, in jedem Einzelfall sich das mal ganz genau anzuschauen.
Denn wir müssen ja auch über Veränderungen bei den Behördenstrukturen reden, wenn es darum geht, rechte Netzwerke zu erkennen und auch solche Gruppierungen besser zu beleuchten. Da hat sich einfach das V-Leute-Wesen eher als kontraproduktiv erwiesen und nicht gerade als hilfreich bei der Beobachtung der rechtsextremistischen Szene und ihren Personen und ganzen Zusammenhängen.
Deswegen ist natürlich auch von uns eine wichtige Forderung, dass wir die Verfassungsschutzbehörden auch strukturell umbauen müssen. Aber das erste, was wir von der Bundesregierung jetzt auch im Zusammenhang mit dem Mord an Walter Lübcke erwarten, ist, dass das Bundesinnenministerium eine Task Force einrichtet und auch Rechtsextremismus-Experten und Akteure aus der Zivilgesellschaft zurate zieht, um jetzt wirklich das, was akut ist im Bereich der rechten Szene, aufzuarbeiten und wirklich Strategien zu entwickeln, wie man diese effektiv bekämpft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.