Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Mordparagraf 211
"Mörder ist, wer ... "

Wann ist die Tötung einer Person ein Mord und wann "nur" ein Totschlag? Die Paragrafen 211 und 212 des Strafgesetzbuches stammen im Wesentlichen aus dem Jahr 1941 und führen fallweise zu eklatant ungerechten Urteilen. Justizminister Heiko Maas (SPD) will eine Reform - die schier unmöglich scheint.

Von Gudula Geuther | 16.05.2014
    Das Bild zeigt die Silhouette einer Frau an einem Tatort, der durch ein gelbes Band mit der Schrift "Crime Scene" abgetrennt ist.
    Mord und Totschlag sollen neu definiert werden. (picture alliance / ANP / Lex van Lieshout)

    Anmerkung der Onlineredaktion:
    Zum besseren Verständnis des folgenden "Hintergrunds" als Einleitung die Strafparagrafen §211 und §212 im Wortlaut:
    § 211 Mord
    (1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
    (2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.
    § 212 Totschlag
    (1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.
    (2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen.
    Text des Beitrags:
    "Als Marianne Bachmeier im Lübecker Landgericht den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter erschoss, geschah dies von hinten, also heimtückisch. Die unvermeidliche Mordanklage konnte nur aufgrund einer Hilfskonstruktion fallen gelassen werden, indem man unterstellte, sie habe die Heimtücke ihrer Tat nicht erkannt."
    Die Selbstjustiz im Gerichtssaal am 6. März 1981 führte zu erbitterten öffentlichen Kontroversen, der Strafprozess gegen Marianne Bachmeier geriet zu einem der aufsehenerregendsten der Republik. Von den sechs Jahren Haft, zu denen sie wegen Totschlags und unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt worden war, verbüßte sie drei. Die vergleichsweise geringe Strafe war umstritten - das Urteil lebenslänglich, das nach dem Gesetz auf Mord steht, wäre es vermutlich erst recht gewesen. Der Fall Bachmeier ist kein Einzelfall, sagt der Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Wolfgang Ewer.
    "In den vergangenen Jahrzehnten sah sich die Rechtsprechung immer wieder gezwungen, die Klippen des Mordparagraphen zu umschiffen, um nicht zu unbilligen Ergebnissen zu kommen – beispielsweise durch unbefriedigende Verrenkungen."
    Dogmatische Verrenkungen wie die, dass sich Frau Bachmeier über die eigene Heimtücke irrt. Es ist nur einer der Punkte, die Juristen seit Jahrzenten am Paragraphen 211, dem Mord-Paragraphen im Strafgesetzbuch, kritisieren. Seit den 60er-Jahren werden immer neue Vorschläge für eine Reform vorgelegt, auch Justizminister haben sich daran versucht. Bundesjustizminister Heiko Maas, SPD, machte sich kurz nach Beginn seiner Amtszeit überraschend die neuerliche Forderung von Schleswig-Holsteins Justizministerin Anke Spoorendonk vom Südschleswig'schen Wählerverband und von Anwaltsverbänden zu Eigen. Jetzt will er Nägel mit Köpfen machen. Eine Expertengruppe aus 15 Wissenschaftlern und Praktikern der Strafjustiz soll binnen eines Jahres einen Vorschlag auf den Tisch legen. Am kommenden Dienstag wird die Kommission eingesetzt. Maas hofft auf ein neues Gesetz noch in dieser Legislaturperiode. Auf einer Veranstaltung des Deutschen Anwaltvereins begründete er das Anfang des Monats auch mit der Gesetzgebungsgeschichte.
    "Die heutigen Paragraphen 211 und 212 des Strafgesetzbuches stammen im Wesentlichen aus dem Jahr 1941. Maßgeblicher Autor war einer der furchtbarsten Juristen jener Zeit – Roland Freisler. Berüchtigt als Präsident des sogenannten Volksgerichtshofs, aber zuvor als Staatssekretär im Reichsjustizministerium an der Gesetzgebung beteiligt. Die Struktur der Norm mit der Einleitung 'Mörder ist ... ' und der Begriff der niedrigen Beweggründe, sie stammen von Freisler.
    Der Verweis auf die NS-Herkunft kritisierter Gesetze ist beliebt. In diesem Fall trifft er das Problem - wenn auch unter Fachleuten umstritten ist, wie weit die Paragraphen auf nationalsozialistischer Ideologie beruhen. So weit aber bestimmt: Die Formulierung "Mörder ist, wer ... " ist einzigartig im Strafgesetzbuch, zusammen mit der gleichzeitig eingeführten Formulierung im Schwesterparagraphen 212: "Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger ... bestraft." Nur hier knüpft das Strafgesetz nicht an die Tat, sondern an den Täter an, und das ganz bewusst. Es geht darum, einen Tätertypus zu beschreiben. Heiko Maas bezieht das auf den gesamten Mordparagraphen:
    "Der Richter hatte nach diesem Denken nur noch die Aufgabe, sich anzuschauen, welcher Tätertyp, so Freisler wörtlich, den Strang verdient. Das Strafrecht wurde so zum Einfallstor der Willkür. Rechtsklarheit, wie wir sie brauchen, war gerade nicht gewünscht."
    Mordlust, Habgier, Heimtücke: Besonders strafwürdig ist, wer mit Überlegung tötet
    Der Strang droht heute nicht mehr. Ansonsten ist Paragraph 211 unverändert geblieben:
    "Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet."
    Mordlust, Habgier, Heimtücke – das sind sogenannte Mordmerkmale, die den Ausschlag geben, ob der Richter wegen Mordes oder wegen Totschlags verurteilt. Ausgedacht allerdings haben sich die Nationalsozialisten solche Mordmerkmale nicht. Viele Juristen – auch nationalsozialistischer Ideologie unverdächtige – hatten schon lange vor 1941 eine Reform der Abgrenzung von Mord und Totschlag gefordert. Leicht war das nie. In der deutschen Rechtsgeschichte hatte es Versuche gegeben, die besondere Verwerflichkeit von Tötungen zu umschreiben. Nach und nach hatte sich aber eine andere Unterscheidung durchgesetzt, die wohl ursprünglich aus römischem und kirchlichem Rechtsverständnis stammte, und die Rechtsordnungen auf der ganzen Welt beeinflusste: Besonders strafwürdig ist demnach, wer mit Überlegung tötet. Bis heute richten sich danach eine ganze Reihe von Staaten, darunter Belgien, Frankreich, Finnland, die Niederlande und die USA. In Deutschland spielte die "Überlegung" bei der Tat seit dem 16. Jahrhundert zumindest immer wieder die zentrale Rolle. 1871 kam diese Abgrenzung ins Reichsstrafgesetzbuch. Und bis heute lebt sie in der Vorstellung vieler Deutscher fort, glaubt Justizminister Heiko Maas.
    "Für die meisten Laien gilt heute noch: Mord, das ist die überlegte, vorsätzliche Tötung; Totschlag, das ist die Tötung im Affekt. So galt das bis zur Gesetzgebung der Nazis und so empfinden das bis heute viele Laien, obwohl die Gesetzeslage eigentlich eine andere ist."
    Trotzdem - Juristen hielten die Unterscheidung auch damals für hoch problematisch. Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Rüdiger Deckers nennt einen Paradefall der damaligen Diskussion.
    "Das Beispiel der verzweifelten Mutter, die in ihrem Familienleben keinen Ausweg mehr weiß und deshalb mit ihren Kindern ins Wasser geht, um gemeinsam mit ihnen zu sterben. Sie musste, wenn sie überlebt, fraglos mit Überlegung gehandelt haben und eben auch als solche verurteilt werden."
    Als Mörderin also. Ein Sexualtäter dagegen, der sein Opfer tötet, tut das möglicherweise im Affekt. Soll das nur ein Totschlag sein? An solchen schwierigen Beispielen störten sich schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts viele. Auch der schweizerische Rechtswissenschaftler Carl Stooß. Schon 1893 versuchte er, die besondere Verwerflichkeit einer Tötungshandlung mit klar greifbaren Kriterien, mit Fallgruppen, zu umschreiben. Mit eben solchen Mordmerkmalen, wie sie dann 1941 ins Gesetz geschrieben wurden. Für die deutsche Diskussion nach 1949 galt der schweizerische Entwurf immer wieder als Rechtfertigung dafür, dass das NS-Recht nicht geändert wurde – eben weil es nicht aus nationalsozialistischem Denken entsprungen sein sollte. Damit tut man dem Schweizer Carl Stooß Unrecht, glaubt der Rechtsanwalt Rüdiger Deckers, der sich besonders für eine Reform des heutigen deutschen Rechts einsetzt. Stooß wollte Klarheit und eben nicht Nebulöses, sagt Deckers. Die "sonstigen niedrigen Beweggründe", die seit Roland Freisler im Gesetz stehen, waren Stooß fremd. Und sein Entwurf sah keine Todesstrafe vor, erklärt der Anwalt. Vor allem, so Deckers, waren es erst die Nationalsozialisten, die das Bild des Tätertypus festlegten, mit der Formulierung "Mörder ist, wer ... "
    "Es ist nach dem Bild des Gesetzgebers aus 1941 so, wie es leider ein Rechtsanwalt namens Schmidt-Leichner in einem Aufsatz ausgedrückt hat, ich zitiere: Mörder wird man nicht, Mörder ist man."
    Ginge es nur um diese eine Formulierung, sie wäre schnell geändert. Aber die Kritik vieler Juristen geht tiefer. Es geht um praktische Probleme wie im Fall Marianne Bachmeier. Mal, so die Kritiker, seien die festgefügten Mordmerkmale zu starr, mal zu weit und unbestimmt, mal schlicht die unbedingte Folge "lebenslang" nicht sachgerecht. Als zu starr wird immer wieder gerade das Merkmal der Heimtücke kritisiert, das auch bei den Schüssen im Lübecker Landgericht vorlag. Der Begriff der Heimtücke ist – wie mehr oder weniger alle Rechtsbegriffe – nicht einfach beliebig dehnbar oder vom moralischen Empfinden des Richters geprägt. Seine Konturen sind durch jahrzehntelange Rechtsprechung festgelegt. Auch wenn im Einzelnen vieles umstritten ist: Heimtückisch handelt, wer die Arglosigkeit und die Wehrlosigkeit seines Opfers ausnutzt, und zwar in feindseliger Haltung. Der mutmaßliche Mörder der siebenjährigen Anna Bachmeier hatte der Mutter im Gerichtssaal den Rücken zugekehrt, er war arglos. Er konnte sich gerade deshalb nicht verteidigen oder sich wegducken. Deutlich problematischer ist dieses Kriterium der Heimtücke in einer anderen Konstellation – einer, die geradezu zum Paradebeispiel der Reformbedürftigkeit geworden ist, und die deshalb auch Bundesjustizminister Heiko Maas nennt.
    Eine Hand hält eine Pistole. CZ 75 SP-01 SHADOW, Standard size duty and defence pistol, cal. 9 mm Luger; 9x21.
    Mord und Totschlag unterscheiden sich juristisch gesehen in der Planung der Tat. (picture alliance / dpa / Rene Fluger)
    Ob Frau oder Mann mordet – und wie – macht fallweise einen großen Unterschied bei der Verurteilung
    "Stellen Sie sich einen gewalttätigen Ehemann vor, der seine Frau jahrelang prügelt und misshandelt. Irgendwann erschlägt dieser Mann seine Frau. Wegen Mordes wird er dann vermutlich nicht bestraft, weil er kein Mordmerkmal verwirklicht hat. Die gepeinigte Ehefrau dagegen, die in ihrer Not keinen anderen Ausweg weiß, tötet ebenfalls ihren Peiniger. Aber weil sie ihrem Mann körperlich unterlegen ist, kann sie die offene Konfrontation mit dem gewalttätigen Partner nicht suchen, sie tötet ihn deswegen im Schlaf und hat dann heimtückisch gemordet."
    Im konkreten Fall scheint die Folge schlicht ungerecht.
    "Im Ergebnis hätten wir Totschlag und eine zeitige Freiheitsstrafe für den Mann sowie Mord und lebenslänglich für die Frau."
    Wobei zeitige Freiheitsstrafe heißt: mit benannter Zeit, also nicht lebenslang. Der Vergleich klingt theoretisch. Er ist es nicht. Die Konstellation ist offenbar so häufig, dass sie einen eigenen Namen bekommen hat: Haustyrannenfälle.
    "Mit dieser offensichtlichen Ungerechtigkeit hat die Rechtsprechung oft schwer zu kämpfen. Ein Landgericht etwa hat in genau einem solchen Fall die Strafe der Frau wegen außergewöhnlicher Umstände gemildert. Das erscheint durchaus gerecht. Aber das ist ein Milderungsgrund, der so nirgendwo im Gesetz zu finden ist."
    Andere Gerichte haben auf andere Weise versucht, die starre Folge des Paragraphen 211 zu umgehen. Auf ganz andere Weise ungeeignet findet nicht nur Heiko Maas das Mordmerkmal, das als einziges eindeutig – mindestens zeitlich - nationalsozialistischen Ursprungs ist: die niedrigen Beweggründe.
    "Was sind denn niedrige Beweggründe? Handelt ein Mann, der seine Frau tötet, weil sie ihn verlässt, aus niedrigen Beweggründen? Die Rechtsprechung differenziert hier danach, ob der Mann eher verzweifelt gehandelt hat oder aus Wut. Nur die Wut hält sie für besonders verachtenswert, die Verzweiflung in der Regel nicht. Das mag eine taugliche Abgrenzung sein. Aber diese Unterscheidung können die Gerichte dem Gesetz so nicht entnehmen."
    Für den Justizminister sind die – wie es im Gesetz heißt – sonstigen - niedrigen Beweggründe der wesentliche Grund, an eine Reform des Mordparagraphen heranzugehen. Einig ist man sich in der Formulierung, dass es hier um Motive geht, die – Zitat Bundesgerichtshof - "nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen". Das ist inzwischen nicht mehr ganz so schwammig, wie es klingt. Klar ist heute zum Beispiel, dass rassistische Gründe darunter fallen, auch sonst gibt es nach Jahrzehnten der Rechtsprechung ein gewisses Raster – aber die weite Formulierung gibt doch in etwa das richtige Bild. Das kann als Vorteil sehen, wer der Einschätzung des Richters vertraut, der den konkreten Fall am besten beurteilen kann. Als Nachteil wird es der sehen, der findet, Moral und sittliches Vorverständnis sind schwierige Ratgeber. Es gibt also ein Problem mit dem Mordparagraphen 211 Strafgesetzbuch, mindestens theoretisch. Niedergeschlagen hat sich das in laufenden Metern an wissenschaftlicher Literatur. Aber in der Praxis? Für die, sagt Ulrich Baltzer, Kriminologe und lange Zeit Vorsitzender Richter in Frankfurt am Main:
    "Es scheint so zu sein, dass sich die Schwurgerichte mit der geltenden gesetzlichen Regelung, also mit der Abgrenzung von Mord und Totschlag, ganz gut eingerichtet haben, und zu – nach ihrer Ansicht zumindest – richtigen und auch angemessenen Urteilen kommen."
    Die sprachliche Distanz täuscht – Baltzer spricht aus eigener, 22-jähriger Erfahrung am Schwurgericht. Er und seine Kollegen hätten selten Schwierigkeiten gehabt, die Vorgaben des Rechts mit den konkreten Fällen übereinzubekommen. Allerdings spricht auch der langjährige Schwurgerichtsvorsitzende von Vermeidungsstrategien, die Gerichte seit Jahrzehnten finden.
    "So hat die Frankfurter Schwurgerichtskammer in einem Fall eine Frau, die ihre behinderte Tochter, nachdem sie diese nahezu 50 Jahre aufopferungsvoll gepflegt hatte, dann aber selbst schwer erkrankt war und die Pflege nicht weiter übernehmen konnte – beide hatten, also Mutter und Tochter, schon mehrfach darüber gesprochen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden – hat ihre Tochter getötet, indem sie hinter deren Rücken einen eingeschalteten Fön in die mit Wasser gefüllte Badewanne warf und sodann versuchte, sich selbst das Leben zu nehmen, indem sie sich tiefe Schnittverletzungen am Hals zufügte."
    Auch in diesem Fall vermied die Kammer das Mordurteil. Das Opfer war arglos, es war wehrlos, aber die Mutter handelte nach Ansicht des Gerichts nicht in feindlicher Willensrichtung. Hinzu kamen die seelischen Schwierigkeiten der Mutter selbst, im Ergebnis wurde sie nicht bestraft. Der Fall geht an die Grenzen des rechtlich Fassbaren oder an die Grenzen eines möglichen gesellschaftlichen Konsenses. In der Veranstaltung beim Deutschen Anwaltverein nannte der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer, dieses – wie er polemisch mutmaßte - aus Gründen der Behinderung der Tochter erfolgte - Absehen von Strafe grob ungerecht. Auch Fischer ist einer derjenigen, die eine Reform des Mordparagraphen vorantreiben. Er war Vorsitzender Richter einer Schwurgerichtskammer, die unter anderem über Fragen von Mord und Totschlag richtet, vor allem aber hat er lange Zeit am Bundesgerichtshof Revisions-Praxis gewonnen, also Urteile auf Rechtsfehler überprüft. Dafür gibt es beim Bundesgerichtshof mehrere Senate. Und ein anderer – der fünfte Strafsenat in Leipzig – ist gänzlich anderer Meinung als Fischer: Der gesamte Senat spricht sich gegen Reformen aus.
    "Es gibt eben nichts, was tatsächlich verbesserungswürdig wäre ..."
    … sagt Michael Dölp – und spricht damit auch für seine Kollegen. Das stützt die These des Schwurgerichts-Vorsitzenden Baltzer: Die, die das Recht anwenden müssen, kommen zurecht. Dem allerdings widersprechen andere Praktiker – die Anwälte. Sie beklagen, dass die Mordmerkmale mindestens teilweise auf die Motivation des Täters abheben. Das aber bedeutet, dass schon der Polizist in der ersten Vernehmung gehalten ist, kleinste Tendenzen der Tatgründe zu erforschen – Sätze im Protokoll, die vielleicht genau so gemeint sind, wie sie gesagt werden, vielleicht aber auch nicht – und von denen der Anwalt den Verdächtigen nie wieder wird befreien können. Der Anwalt Rüdiger Deckers antwortet auf den Einwurf eines Richters, es gebe keinen Leidensdruck, der es rechtfertigte, das Strafgesetz zu ändern:
    "Wir Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger haben den Leidensdruck. Jeden Tag. Jeden Tag, wenn es darum geht: Lass ich im Ermittlungsverfahren den Angeklagten reden, oder den Beschuldigten, kann ich ihn überhaupt begleiten? Wie kriege ich das weg, was er im Vernehmungszimmer im Dialog mit dem Vernehmungsbeauftragten ausgehandelt hat?"
    Weg mit den Mordmerkmalen?
    Der BGH-Richter Fischer, der Anwalt Deckers und andere ziehen daraus einen einfachen Schluss: Weg mit den Mordmerkmalen. Sie glauben, wenn es keine festen Kriterien mehr gebe, werde sich die Rechtsprechung – sprich: die Tatgerichte, korrigiert durch dem Bundesgerichtshof – schon Kriterien überlegen. Ganz im Gegenteil, widersprechen andere: Richter könnten schließlich nicht aus dem Bauch heraus entscheiden, sie bräuchten Maßstäbe. Und wenn es keine mehr im Gesetz gebe, müsse man sich erst recht nach dem richten, was die Gerichte in der Vergangenheit gemacht haben. Seit Jahrzehnten suchen Juristen deshalb nach neuen Lösungen, am intensivsten der Freiburger Rechtswissenschaftler Albin Eser. Nach seinen Vorschlägen forderte der Deutsche Juristentag schon 1980 eine Reform, und zwar ganz grundsätzlich. Den Mord ganz abschaffen, das wollten die Juristen nicht. Die schlimmste Tat sollte weiter klar benannt sein. Aber was die schlimmste Tat nun ist, das sollte sich an dem entscheiden, wofür Strafrecht nach heutigem Verständnis vor allem da ist – der Prävention. Deshalb lehnten sie das frühere Kriterium der "Überlegung" genauso ab wie das der Verwerflichkeit der Tat. Stattdessen sollten besonders gefährliche Taten oder besonders gefährliche Täter strenger bestraft werden.
    Albin Eser schlug vor, typische Konstellationen ins Gesetz zu schreiben – etwa dass der Täter mehrere Menschen oder aus sexuellen Motiven tötet. Anders als bisher soll der Richter aber nicht streng an diese Kriterien gebunden sein, wenn es gute Gründe gibt, sollte er von den gesetzlichen Vorgaben abweichen können. Inzwischen liegen viele Vorschläge auf dem Tisch. Die meisten versuchen, die heutige starre Rechtsfolge zu vermeiden:
    "Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft."
    Auch wenn das Urteil "lebenslänglich" nur selten bedeutet, dass der Verurteilte buchstäblich in der Haft stirbt – der Unterschied zwischen der Strafe nach Jahren und lebenslang ist beträchtlich. Die Verbüßungsdauer unterscheidet sich eklatant, sagt Justizminister Heiko Maas.
    "Bei einer Verurteilung zu lebenslänglich liegt sie im Schnitt bei 18 Jahren und sechs Monaten. Bei einer Verurteilung wegen Totschlags dagegen nur bei sechs Jahren und fünf Monaten. Für den Verurteilten ist es also ein immenser Unterschied, ob er für einen Mörder oder für einen Totschläger gehalten wird. Es ist deswegen, wie ich finde, hochproblematisch, dass das Gesetz kaum vorgibt, wie zwischen Mord und Totschlag genau differenziert werden soll."
    Es ist der einzige Hinweis, den Maas bisher gegeben hat, in welche Richtung seiner Ansicht nach die Reform gehen soll. Offenbar will er dem Richter eher nicht freiere Hand geben als bisher, sondern im Gegenteil klarere Kriterien. An sich aber will Maas der Kommission, die am Dienstag kommender Woche eingesetzt wird, keine Vorgaben machen. Schon jetzt regt sich Kritik am Reformversuch. Gerade Juristen, die finden, in der Praxis führten die Paragraphen 211 und 212 zu angemessenen Ergebnissen, kritisieren, es gehe um bloße symbolische Gesetzgebung oder mutmaßen, Maas wolle sich lediglich einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern. Andere fürchten um die lebenslange Freiheitsstrafe. So Bayerns Justizminister Winfried Bausback, CSU. An der absoluten Strafdrohung für Mord, also an der Strafe "lebenslang" für jeden Mord, dürfe nicht gerüttelt werden. Bausback fürchtet noch weitere Aufweichungen. Es sind solche und viele andere Fragen, die sich die Kommission stellen muss. Der Zeitplan – ein Vorschlag in einem Jahr, ein Gesetz noch in dieser Legislaturperiode – ist mehr als ambitioniert. Denn die Aufgabe der Kommission ist schwer. Der langjährige Schwurgerichtsvorsitzende Ulrich Baltzer erinnert an den Gründer des Deutschen Juristentages, den Rechtswissenschaftler und Publizisten Franz von Holtzendorff.
    "So hat er schon 1875 resigniert festgestellt, dass es bisher keiner Rechtswissenschaft und keiner Gesetzgebung gelungen ist, ein rechtlich brauchbares Merkmal zu finden, das es erlaubt, die schwersten – damals noch mit der Todesstrafe bedrohten – Delikte von den nicht ganz so schwerwiegenden Taten zu unterscheiden."