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"Morgen werde ich zwanzig"
Kommunist sein - und gleichzeitig reich

In seinem neuen Roman "Morgen werde ich zwanzig" erzählt der kongolesische Schriftsteller Alain Mabanckou über das Leben des zehnjährigen Michel in der Volksrepublik Kongo in den 1970er Jahren. Eine Kindheit zwischen kommunistischer Propaganda, kongolesischem Geisterglauben und der Entdeckung von Literatur und Liebe.

Von Cornelius Wüllenkemper | 15.01.2016
    Der Schriftsteller Alain Mabanckou (Archivfoto von 2006)
    Der Schriftsteller Alain Mabanckou (Archivfoto von 2006) (dpa / picture-alliance / Abaca Bisson Bernard)
    Mabanckou selbst ist im Kongo geboren und arbeitet heute als Professor für Literatur in Los Angeles. Seit zwanzig Jahren veröffentlicht der gelernte Jurist Gedichte und Romane, die vielfach ausgezeichnet wurden. Mit "Black Bazar", einem Roman über die afrikanische Diaspora in Paris, gelang ihm 2010 auch in Deutschland der Durchbruch. 2013 folgte dann der Roman "Zerbrochenes Glas" über eine Bar in Mabanckous kongolesischer Heimat, deren Gäste das Schicksal des Landes widerspiegeln. Mit "Morgen werde ich zwanzig" legt Mabanckou jetzt einen autobiographischen Roman über seine Kindheit in der damaligen Volksrepublik Kongo vor. Das Ganze erzählt Mabanckou - wie immer - mit einer gehörigen Portion Lust am Lachen und am Geschichtenerzählen.
    "Normalerweise sind Kommunisten einfache Leute"
    "Mein Onkel behauptet, er sei Kommunist. Normalerweise sind Kommunisten einfache Leute, die keinen Fernseher, kein Telefon, keinen Strom, kein fließend Wasser, keine Klimaanlage habe, und sie kaufen sich nicht alle sechs Monate ein neues Auto wie Tonton René. Daher weiß ich jetzt, dass man Kommunist und gleichzeitig reich sein kann. Ich glaube, mein Onkel ist so streng mit uns, weil Kommunisten keinen Spaß verstehen, wenn es um Ordnung geht, wegen der Kapitalisten, die den Verdammten dieser Erde Hab und Gut rauben, einschließlich ihrer Produktionsmittel", sagt Mabanckou.
    Michel ist zehn Jahre alt, er lebt in Point-Noire, der Hafenstadt an der Westküste der heutigen Republik Kongo, auch unter dem Namen Kongo-Brazzaville bekannt. Nach der Unabhängigkeit von Frankreich 1960 erklärte sich das Land zur kommunistischen Volksrepublik, dem ersten realsozialistischen Staat auf dem afrikanischen Kontinent. Michel erlebt eine Kindheit, in der sich alles um Karl Marx, Produktionsmittel und die Allmacht des Chefs der Kommunistischen Partei dreht. Michel, so nennt der kongolesische Schriftsteller Alain Mabanckou sein Alter Ego in seinem autobiographischen Roman "Morgen werde ich zwanzig".
    Mabanckou erzählt: "Man darf nicht vergessen, dass wir in den 1970er und 80er Jahren ein zutiefst kommunistisches Land waren und dass die Kommunisten eine intensive Propaganda betrieben haben. Wir haben als Kinder Dinge gelernt, die eigentlich nicht für unser Alter bestimmt waren. In der Schule hingen Portraits von Lenin und Marx mit den dazugehörigen Zitaten. Wir hatten Bürgerkunde und Moralkunde. Wir waren wie Papageien."
    Eine Kindheit, die geprägt ist von politischen Umbrüchen und der Opposition der Systeme. Die Islamische Revolution unter Ajatollah Chomeini, die Flucht des ugandischen Gewaltherrschers Idi Amin nach Saudi-Arabien, oder auch die Verwicklungen des französischen Präsidenten Valérie Giscard d'Estaing in den Diamantenskandal um den selbsternannten Kaiser von Zentralafrika, Bokassa I. - am kleinen Michel geht das Weltgeschehen nicht vorbei:
    "Auch Afrika nahm in den Jahren 1970/80 an der Globalisierung teil. Man dachte damals, diese Länder wären noch nicht in der Moderne angekommen, weil sie erst kurz vorher unabhängig geworden waren und es überall Bürgerkriege gab. Aber das ist falsch! Wir hatten das Radio! In meinem Roman spielt das Radio eine zentrale Rolle, weil es uns erlaubte, über unseren Tellerrand hinweg in die ganze Welt zu schauen. Mein Buch ist einerseits autobiographisch, aber andererseits soll es auch ein Portrait meiner Epoche sein."
    Michel ist ein aufgeweckter Zehnjähriger
    Mabanckous Michel ist ein äußerst aufgeweckter Zehnjähriger, der die Welt der Erwachsenen langsam zu verstehen und vor allem zu hinterfragen beginnt. Sein Onkel Tonton René, der Verwaltungs- und Finanzdirektor eines lokalen Unternehmens, der sich als Kommunist geriert und in Reichtum lebt, ist Michel suspekt. Und dann ist da noch Papa Roger, der mit dem ersten Kassettenrekorder bescheidenen Wohlstand ins Haus bringt. Alain Mabanckou beschreibt durch die Augen des kleinen Michel nicht nur die politischen Umstände, sondern auch auch das familiäre Gefüge, in dem er aufgewachsen ist.
    Mabanckou: "Mein Vater, der eigentlich mein Stiefvater ist, hat nur seine erste Frau geheiratet. Meine leibliche Mutter Pauline war seine Partnerin, aber sie haben eben beschlossen, nicht formal zu heiraten. Meine Halbgeschwister und ich hatten zwei Mütter und konnten jeweils zwei Mahlzeiten haben, und wir konnten wählen, welche Mutter gerade umgänglicher war. Bis ich zehn war, wusste ich gar nicht, was Polygamie überhaupt war. Die Männer, die nur eine Frau hatten, waren für mich eben unglücklich im Leben."
    Wir erfahren durch Mabanckous jungen Protagonisten nicht nur allerhand unterhaltsame Episoden aus seinem Leben in der Volksrepublik Kongo Ende der 1970er Jahre, sondern folgen ihm auch in die Welt eines Kindes, das dabei ist erwachsen zu werden. Da ist Michels Freundin Caroline, die ihn für Mabele, einen Konkurrenten aus dem Fußballverein, verlässt. Da sind die kleinen Chanson von George Brassens, und natürlich die Werke von Marcel Pagnol, Arthur Rimbaud und Paul Verlaine, die Michel im Bücherregal seines Stiefvaters entdeckt.
    Mabanckou: "Michels Entdeckung der Literatur bedeutet womöglich auch eine Erlösung aus seiner Einsamkeit. Plötzlich lebt er in einer Traumwelt. Er träumt von den Schlössern aus den Geschichten von Marcel Pagnol, er fängt an, Gedichte zu schreiben, er will seiner Freundin ein Schloss bauen. Denn das echte Leben ist schwierig, es ist die Welt der Erwachsenen, die Welt von Mabelé, der ihm seine Freundin ausspannt, weil er bessere Gedichte schreibt. Die Literatur rettet Michel und lässt seine Fantasie aufleben. Für mich ist das zugleich eine Hommage an die Autoren, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin."
    Alleinsein als Leitmotiv
    Das Alleinsein ist in Mabanckous Roman über seine eigene Jugend ein Leitmotiv. Er bleibt das einzige Kind seiner Mutter Pauline, und die andere Familie seines Stiefvaters mit seinen sieben Kindern wird nie ganz zu seiner eigenen. So liegt am Grunde dieses so witzig und leichtfüßig geschriebenen Romans eine schwere Einsamkeit, die Mabanckou bis heute beschäftigt.
    Mabanckou: "Im Kongo gilt ein Einzelkind als jemand, der bei seiner Geburt den Bauch seiner Mutter verschlossen und den Schlüssel versteckt hat. Michel hat diese Geschichte so oft gehört, dass er alles tut, um diesen Schlüssel wiederzufinden damit er nicht nicht mehr allein ist. So läuft er durch die Straßen, sucht den Schlüssel in Mülleimern, spricht mit jedem, bittet Verrückte um Hilfe und beginnt sogar, die Laschen von Sardinenbüchsen aufzusammeln, weil er sie für Schlüssel hält. Um eine solche Geschichte zu erzählen, muss man das Umfeld dieses Kindes beschreiben. Ich wollte ein Buch schreiben, in dem es viel Lärm gibt, viel Poesie, viel Zärtlichkeit, viel Bedauern, viel Einsamkeit, aber auch viel kollektive Freude."
    Und davon findet man in dieser ebenso ernsten wie bunten, ebenso dynamisch wie langsam erzählten Geschichte etwas in jedem Satz. Die naive und zugleich erfrischend aufrichtige Stimme des kleinen Michel erzählt das Erwachsenwerden wie ein einziges großes Abenteuer, in denen Beschwerlichkeiten mit einer guten Portion Leichtigkeit und Lebensbejahung gemeistert werden. Ob es um die Liebe geht oder um den Nachwuchs, der auf sich warten lässt, ob um Fußball oder verstorbene Angehörige. Am Ende sind es die Geister der Vorfahren, die zu jedem Problem eine Lösung kennen. Es ist dieser Geisterglaube, diese gewisse Vorstellung vom großen Ganzen, die in Mabanckous Roman das Bild eines Menschen vermitteln, der trotz aller Einsamkeit eins ist mit sich und seiner Geschichte
    "Ich bin wahrscheinlich Schriftsteller geworden, um diesem Geisterglauben auf den Grund zu gehen. Im Westen mag man das amüsant und komisch finden, wir im Kongo nehmen das aber sehr ernst. Wir wissen, dass jemand nicht einfach so stirbt, und dass es eine Erklärung dafür geben muss. Und diese Erklärung suchen wir bei unseren Vorfahren. Das kann schwierig sein für diejenigen, die beschlossen haben, ein modernes Leben zu führen und den Traditionen den Rücken zu kehren, weil sie glauben, das sei eine barbarische Wissenschaft. Ich bin aber überzeugt, dass Modernität nicht bedeutet, seine Traditionen zu verwerfen."
    Nicht umsonst ist Alain Mabanckou für seine Romane vielfach ausgezeichnet worden und gilt heute als einer der wichtigsten frankophonen Autoren des Kontinents. Dieses Buch liest man so, als höre man einem Geschichtenerzähler am Lagerfeuer zu – eine unbekannte Welt tut sich auf, in die man sich nur zu gern versinken lässt. Selten hat man ein Stimme Afrikas gelesen, die mit so viel Leichtigkeit und zugleich Tiefgang, mit so viel Ironie und zugleich Selbstbewusstsein die eigene Geschichte reflektiert und eine Brücke schlägt zwischen eigenem Leben und Weltgeschehen, zwischen dem postkolonialen Afrika und der globalisierten Gegenwart.
    Alain Mabanckou: "Morgen werde ich zwanzig", Roman, Liebeskind, 363 Seiten, 22 Euro.