Müller: Nein, sehen Sie: Wir haben 2,75 Prozent erwartet - plus/minus -, also sagen wir so 2,6 bis 2,9 Prozent. Und nun ist sie etwas nach unten korrigiert worden, die Wachstumsprognose, weil erstens alle wissenschaftlichen Institute, weil der Internationale Währungsfonds, die europäischen Gremien nun für Europa ein geringeres Wachstum erwarten, weil sich die Entwicklungen gegenüber dem Herbst letzten Jahres - von daher kommen ja die besseren Prognosen - in Amerika und Japan deutlich ungünstiger entwickelt haben. Aber eines kann die Bundesregierung nicht machen - aus gutem Grund nicht machen: Sie kann nicht an der Spitze der Pessimisten stehen. Wenn Sie die Meinungen der Wirtschaftsverbände nehmen, ist die oftmals weit besser als die der prognostizierenden Institute. Und nun warten wir's ab. Wissen Sie, so prognosegläubig sollte keiner sein. Eine Prognose enthält auch immer ein bisschen - wie soll ich mal sagen - das, was man sich auch wünscht. Wir wünschen uns wirklich gutes Wachstum. Und wenn alle Welt jetzt sagen würde: "In Deutschland ist nichts mehr los", hat das in sich eine Negativspirale; das kann die Bundesregierung nicht verantworten.
Münchenberg: Auf der anderen Seite: Es gibt ja deutliche Warnzeichen. Nehmen wir einmal den ifo-Geschäftsklimaindex, der nach unten zeigt; nehmen wir den Monatsbericht des Finanzministeriums - auch da heißt es, das Wachstum hat sich verlangsamt. Dann gibt es ja auch außenwirtschaftliche Risiken - der unsichere Konjunkturverlauf in den USA. Das sind alles keine Faktoren zur Beunruhigung?
Müller: Was heißt Beunruhigung? Sehen Sie mal: Nehmen Sie doch das Institutsgutachten, was die Wachstumsraten jetzt nach unten korrigiert hat. Da steht aber auch klar drin, dass irgendeine Konjunkturkrise oder so was mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen ist. Wenn wir zwei Prozent Wachstum haben, haben wir mehr als im Mittel der 90er Jahre; wir liegen dann schon um 50 Prozent über dem Wachstumsniveau der 90er Jahre. Ich verhehle nicht: Mir ist das zu wenig. Wir haben Chancen in Deutschland, ein Jahrzehnt lang auch drei Prozent Wachstum realisieren zu können - etwa nach dem Muster, wie in Amerika von 1990 bis 2000 immer sehr gute Wachstumsraten geschrieben worden sind. Zwei Prozent Wachstum ist deutlich nicht das, was ich eingangs des Jahres erwartet habe. Aber - wie gesagt - es ist noch nicht irgendwie Anlass, um hier in Pessimismus zu verfallen, sondern es muss Ansporn sein, dass wir drüber kommen.
Münchenberg: Ein anderer Aspekt bei der Debatte auch, was die Wachstumsmöglichkeiten angeht, ist ja der soziale Bereich. Verkrustung auf dem deutschen Arbeitsmarkt wird immer als ein Grund genannt, warum das Wirtschaftswachstum nicht so wächst, wie man es erwartet. Teilen Sie diese Einschätzung? Sollte hier die Regierung mehr machen, beispielsweise auch in der nächsten Legislaturperiode - beispielsweise beim Kündigungsschutz, dass eben auch mehr eingestellt wird wieder?
Müller: Also, ich glaube nicht, dass das Thema Kündigungsschutz unmittelbar Auswirkungen auf das Einstellungsverhalten hat. Das wäre so, wenn man nicht befristet einstellen könnte. Sehen Sie: Sie können heute jemanden mit mehrmonatigen Verträgen, ein paarmal hintereinander eine und die selbe Person, bis zu zwei Jahren befristet beschäftigen. Zwei Jahre müssen ja wohl reichen, festzustellen, a) - ist vielleicht eine Auftragsspitze im Betrieb in dauerhaftes Wachstum überführt, b) - es müsste auch reichen, eine Person kennenzulernen - taugt er was? Will ich den hier auf Dauer beschäftigen? Das ist also aus meiner Sicht wirklich ein Ammenmärchen. Ich will noch hinzufügen, dass die Möglichkeit, befristet einzustellen, für ältere Mitarbeiter nicht mehr an die Begrenzung gebunden ist. Die können Sie also von 58 an bis 65 befristet einstellen, immer wieder. Also, so glaube ich nicht, dass das Thema Kündigungsschutz hier so eine zentrale Bedeutung hat. Nicht zuletzt das, was diese Bundesregierung zurückgenommen hat, betrifft ja nur die kleinen Unternehmen.
Münchenberg: Herr Müller, wenn man das mal überträgt auf die 'Faulheitsdebatte', die der Kanzler persönlich angestoßen hat, dann heißt das doch auch, dass diese Debatte eigentlich ohne praktische Folgen bleiben wird, zumal ja jetzt auch zum Beispiel Herr Jagoda von der Bundesanstalt für Arbeit - der Präsident - in die Bresche gesprungen ist und die Arbeitslosen verteidigt hat. Auch Arbeitsminister Riester hat die Arbeitslosen verteidigt . . .
Müller: . . . ich verteidige auch die Arbeitslosen. Der Bundeskanzler ist der Erste, der die Arbeitslosen verteidigt, weil er derjenige ist, der die Senkung der Arbeitslosigkeit zum zentralen Punkt des SPD-Wahlkampfes gemacht hat und nach der Wahl diesen Punkt weiter hochgehalten hat . . .
Münchenberg: . . . aber der Vorwurf der Faulheit steht weiter im Raum . . .
Müller: . . . hören Sie mal, Sie sind doch nicht weltfremd. Ich behaupte mal, dass jeder unserer Zuhörer schon einen kennt, der wissentlich nicht vermittelt werden will und der sagt: 'Ich tu' mal so als ob - und ich lebe von der Sozialhilfe gut'. Nur genau diesen Teil meinte der Bundeskanzler - ich weiß, das ist ein relativ geringer Teil. Irgendwie plötzlich klang es so in den Medien wieder, als habe der Kanzler alle Arbeitslosen hier diffamieren wollen. Das ist Unsinn. Aber es hilft auch nichts, die Augen davor zu verschließen, dass eine Minderheit innerhalb der großen Zahl der Arbeitslosen wirklich nicht vermittelt werden will.
Münchenberg: Lassen Sie uns nochmal auf die Konjunkturentwicklung zurückkommen. Das heißt im Umkehrschluss auch, wenn die Konjunktur sich jetzt langsamer entwickelt als ursprünglich gedacht, dann sind wahrscheinlich auch die Steuereinnahmen geringer. Dazu gibt es ja auch noch einige Haushaltsrisiken - es gibt verschiedene Forderungen aus den Ministerien, die mehr Geld haben wollen. Es gibt die Kindergelderhöhungspläne zum Beispiel. Und selbst die Grünen sagen ja inzwischen, zwischen 3 und 5 Milliarden Haushaltsrisiken - die sind sehr realistisch, sehr wahrscheinlich. Eine höhere Neuverschuldung lehnen Sie grundsätzlich ab?
Müller: Ja, die lehne ich absolut ab, weil: Was hat an und für sich den wirtschafts- und finanzpolitischen Charakter der Politik in den Jahren von 1980 bis 2000 verdorben? Das war der Glaube, dass wir das Leben im Jetzt finanzieren können, indem wir immer mehr Geld von den Kindern leihen. Das ist diese exorbitant gestiegene jährliche Netto-Neuverschuldung, die dann immer auf den sich auftürmenden Schuldenberg noch oben drauf kam. Die Bundesregierung steht völlig einheitlich - der Kanzler, der Wirtschaftsminister - mit Herrn Eichel da, dass unser oberstes Ziel ist, im Jahre 2006 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt zu haben. Das wäre dann das erstemal seit 33 Jahren, damals übrigens auch ein SPD-Finanzminister; aber das nur am Rande. Und dieses Ziel dominiert alles andere.
Münchenberg: Herr Müller, nun steigen ja die Benzinpreise wieder in ungeahnte Höhen. Droht nicht auch von dieser Seite möglicherweise Gefahr für die Konjunktur, und sei es auch nur, dass sich die Inflationsrate erhöht? Nun hat ja auch das Statistische Bundesamt wieder neue Zahlen vorgelegt, und die sind ja eher sehr bedenklich - 2,8 Prozent - heißt es da - Teuerungsrate im April.
Müller: Die Teuerungsrate ist gestiegen, ganz ohne Zweifel. Eine leicht - die Betonung ist immer noch 'leicht' - inflationäre Tendenz beschränkt die Möglichkeiten der Zentralbank - da sage ich auch 'leider'. Ich hoffe nicht, dass die Benzinpreise auf anhaltend diesem hohen Niveau sind, aber ich will auch deutlich sagen: Ich kann das nicht prognostizieren, zumal wir hier bei den Benzinpreisen eine gewisse Sonderkonjunktur haben, denn der Dieselpreis ist, wie Sie wissen, nicht so arg gestiegen. Das liegt daran, dass die Bundesrepublik ein Drittel des Benzins als Benzin importieren muss, was wiederum daran liegt, dass wir in Deutschland in den letzten 10 Jahren zuviel Raffineriekapazität abgebaut haben. Wir können den deutschen Bedarf an Produkten nicht mehr durch deutsche Raffination von Rohöl decken. Und in dem Moment, wo Sie zwingend Benzin als solches importieren müssen, bestimmt der Rotterdamer Benzinpreis automatisch das Niveau des deutschen Benzinpreises. Das ist eine Sonderentwicklung, die ein bisschen unabhängig ist von der Rohölpreisentwicklung.
Münchenberg: Im Streit um die Benzinpreise haben Sie ja zunächst die Ölkonzerne verteidigt, haben sie in Schutz genommen gegen den Vorwurf der Preistreiberei. Dann - kann man sagen - erfolgte doch eine kleine Kehrtwende . . .
Müller: . . . nein, sicher nicht, sondern man muss zwei Dinge auseinanderhalten: Diejenigen, die Deutschland versorgen, haben keinerlei Preisabsprachen gemacht, sondern der Niveauunterschied im Benzinpreis ist in Rotterdam entstanden. Und der überträgt sich automatisch auf das deutsche Benzinpreisniveau. Da kann ich mich also noch so sehr darüber ärgern - ich tanke ja auch jeden Samstag zu Hause. Aber da liegen keine Preisabsprachen vor, sondern wir sind ja gezwungen, das Benzin aus Rotterdam zu importieren und müssen die Preise, die wir dort bezahlen, ja an unseren Tankstellen irgendwo auch wieder sehen, denn sonst würden die Leute ja permanent mit Verlust verkaufen.
Münchenberg: Das heißt, Sie stehen dann trotzdem im Gegensatz zum Kanzler, weil der Kanzler ja schon . . .
Müller: . . . nein, der Kanzler hat darauf hingewiesen, wo der Gewinn gemacht wird. Der Gewinn wird am Bohrloch gemacht. Den Gewinn machen die großen internationalen ölfördernden Konzerne - das ist eine Exxon in New York - die machen satten Gewinn. Ich will das denen nicht vorwerfen, das gehört zu unserem System dazu. Die Frage ist doch: Wird hier bei den deutschen Tankstellenketten in irgendeiner Weise Preisabsprache gemacht, sonst ein Beschiss gemacht oder - wie soll ich mal sagen - ganz bewusst, wie das so heißt, der Verbraucher abgezockt? Und da habe ich gesagt, 'das ist so nicht richtig'. Und da bleibe ich auch bei, völlig unabhängig davon, dass die Ölförderer - leider gibt es kein deutsches Unternehmen, das in der Ölförderung drin ist - die Ölförderer machen satten Gewinn. Darauf hat der Kanzler hingewiesen, das ist auch richtig.
Münchenberg: Nun heißt es ja immer, auch das Kartellamt überprüft die Konzerne, ob es denn Preisabsprachen gegeben habe. Wird da nicht der Eindruck erweckt in der Öffentlichkeit, dass hier wirklich eine Kontrolle möglich sei? Weil - selbst wenn es diese Absprachen gäbe, würden die doch wahrscheinlich so gut vertuscht werden, dass das Kartellamt den Konzernen nicht auf die Schliche käme - gerade im sensiblen Bereich 'Benzin'?
Müller: Es ist Aufgabe des Kartellamtes, so etwas zu beobachten. Dass es schwierig ist, dass der Nachweis trotz Haussuchungen oder so wahrscheinlich kaum gelingt, das ist eine realistische Beobachtung der Dinge. Auf der anderen Seite darf das nicht dazu führen, den Eindruck zu erwecken, dass das Kartellamt nicht weiterhin prüfen soll. Wir brauchen das Kartellamt.
Münchenberg: Wenn der Benzinpreis jetzt weiterhin hoch bleibt, wird dann die Bundesregierung erneut reagieren? Bei der letzten Preisrunde gab es ja immerhin die Entfernungspauschale, den Heizölzuschuss.
Müller: Das haben wir auch vorausschauend schon so beschlossen, weil wir in etwa das Preisniveau, wie es jetzt ist, damals antizipiert haben. Wenn das damals in der Erwartung nur eine Monatssache gewesen wäre, hätten wir nicht sehr grundsätzlich den Finanzrahmen ändern müssen bezüglich Entfernungspauschale. Also, da ist vorausschauend reagiert worden.
Münchenberg: Aber mehr drauf kommt auch nicht?
Müller: Ich sehe das nicht.
Münchenberg: Was ist mit der Ökosteuer? Die wird auch nicht entschärft?
Müller: Ja, sehen Sie: Ökosteuer - nennen Sie es einfach auch mal Rentenfinanzierungssteuer. Wir schieben das Geld ja nicht irgendwo hin, sondern unmittelbar in die Rentenauszahlung. Wenn Sie die Ökosteuer streichen würden, dann müssen Sie mir sagen, wo Sie dann die 35 Milliarden Mark Rentenauszahlung hernehmen.
Münchenberg: Herr Müller, zu dem großen Thema Ökosteuer und Energie gehört im weitesten Sinne auch die Neuausrichtung der deutschen Energiepolitik. Als Sie 1998 als Minister angetreten sind - als Wirtschaftsminister -, haben Sie als eine Ihrer dringlichsten Aufgaben die Verhandlungen mit den Energiekonzernen über den Ausstieg aus der Atomstromerzeugung als Ziel genannt. Bekanntlich waren die Verhandlungen ja erfolgreich. Letztes Jahr hat man sich geeinigt über die Bedingungen des Ausstiegs. Seither aber stocken die Gespräche. Die Atomindustrie weigert sich bislang, den Konsens zu unterzeichnen. Woran hakt es im Augenblick?
Müller: Es hakt nicht ernsthaft, sondern die Atomwirtschaft hat einen Konsens mit unterzeichnet - die Bundesregierung auch - oder sagen wir genauer 'paraphiert'. Und sie sagt, sie wird sich so und so verhalten, sie wird ihre Kraftwerke nur noch begrenzt nutzen, dann abschalten usw., und das alles im Rahmen eines geänderten Atomgesetzes. Ich halte es nicht für illegitim, dass die Stromwirtschaft sagt 'ehe wir nun endgültig Tinte unter das Papier setzen, müssen wir ja auch sehen, dass das Atomgesetz konkret so geändert wird, wie es in dieser Konsensvereinbarung skizziert ist'. Das heißt, wir müssen jetzt den Änderungsentwurf für das Atomgesetz vorlegen, und dann sind wir ein Stück weiter.
Münchenberg: Aber nun gibt es doch Streit über die Ausformulierung der Gefahr, die von der Atomenergie ausgeht. Das ist doch ein Punkt, wo die Konzerne sagen: 'wir möchten hier eine sehr vorsichtige Formulierung' - wo es wohl auch innerhalb der Koalition unterschiedliche Auffassungen gibt.
Müller: Das will ich nicht abstreiten. Aber sehen Sie: Man begann, die Atomenergie im großen überparteilichen Konsens nach 1955 zu nutzen, und das letzte Atomkraftwerk ist irgendwann Mitte der 70er Jahre bestellt worden; da war auch noch weitestgehend überparteilicher Konsens da. Der lag begründet in der allgemeinen Überzeugung, dass der Nutzen die Risiken weit überwiegt. So - in diesem Bewusstsein ist privates Investment getätigt worden. Wenn wir jetzt plötzlich sagen würden, dass die Risiken bei weitem den Nutzen überwiegen, wäre das in einer relativ kurzen Frist eine Fundamentaländerung der deutschen Politik, die aus meiner Sicht so auch sachlich nicht gerechtfertigt ist, in jedem Falle aber die Konzerne vor das Problem stellt, dass ja jemand dann auf sofortige Stilllegung klagen könnte.
Münchenberg: Das heißt, Sie unterstützen die Position der Konzerne in dem Punkt?
Müller: Ich unterstütze nicht die Position der Konzerne; ich unterstütze hier keine radikale Position in die eine wie in die andere Richtung. Sondern aus meiner Sicht hat die deutsche Politik, nicht zuletzt auch die große Mehrheit der Bürger, entschieden, á la longue sollte man das Risiko der Kernenergie nicht eingehen. Das Jetzige soll zu Ende genutzt werden, aber es soll nichts Neues gebaut werden.
Münchenberg: Aber haben Sie den Eindruck, die Industrie, die Stromwirtschaft spielt trotzdem auf Zeit? Weil: Ich meine, dass sie über den Ausstieg nicht begeistert ist, trotz Konsens, liegt ja auf der Hand.
Müller: Ob sie begeistert ist oder nicht, kann ich Ihnen nicht sagen. Jedenfalls hat sie nichts Unvernünftiges unterschrieben - auch wirklich im Sinne der sinnvollen Verwaltung des Vermögens der Aktionäre. Und ich glaube nicht, dass sie auf Zeit spielt, sondern noch einmal - ich bitte einfach um Verständnis: Die Atomwirtschaft sagt, 'wir unterschreiben den Konsens, wenn wir wissen, wie das geänderte Atomgesetz aussieht'.
Münchenberg: Neuausrichtung der Energiewirtschaft - der Atomwirtschaft - die eine Seite. Eine andere ist die Liberalisierung des Strommarktes. Sind Sie denn mit der Entwicklung der bisherigen Öffnung des Strommarktes zufrieden? Es gibt ja auch die Kritik, dass bisher nur die Großen weitgehend profitiert haben von der Öffnung des Strommarktes, aber dass die Reduzierung des Strompreises zum Beispiel in Privathaushalten gar nicht angekommen ist.
Müller: Sie haben zwei Probleme angesprochen. Also, alles in allem bin ich zufrieden, weil - bedenken Sie: Einhundert Jahre lang ist das geliefert worden, da konnten Sie beim Preis nichts mitreden. Und ein solches System überhaupt auch im Bewusstsein aller Leute umzustellen, dass Sie Strom heute kaufen können wie Eier oder Mehl, dass Sie dahin gehen, wo es eben billiger ist, das muss sich erst in das allgemeine Bewusstsein verpflanzen. Am schnellsten haben das die Großbetriebe kapiert. Deswegen haben wir Strompreissenkungen - in der Spitze bis zu 50 Prozent.
Münchenberg: . . . die natürlich auch die Marktmacht haben . . .
Müller: . . . die haben natürlich auch Einkaufsmacht, das ist richtig. Aber - wenn ich mal so sagen darf - Otto Normalverbraucher tut sich noch schwer. Da müssen wir halt noch weiterhin Propaganda machen, wirklich die Strompreise anzugucken, sich Vertragsentwürfe geben zu lassen und zum Billigsten zu gehen. Bis hierhin bin ich zufrieden. Der Wechselwillen des Einzelnen müsste größer sein. Jetzt kommt aber ein Punkt, da werde ich doch zunehmend misstrauisch. Ich habe mich jetzt in den letzten zwei Monaten persönlich beschäftigt mit der Problematik eines Stromlieferanten - als Normalbürger wechseln zu wollen. Da will ich in aller Deutlichkeit sagen: Da ist unglaublich viel Beschiss im Spiel; schlicht Beschiss. Und der Sache werde ich nachgehen. Ich werde auf der Jahrestagung der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke das deutlich an den Pranger stellen. Und wenn sich das nicht ändert, werden wir hier auf dem Rechtswege eingreifen.
Münchenberg: Wenn man mal auf die anderen europäischen Länder schaut, haben ja viele trotzdem den Weg der Regulierung gewählt, gerade was Liberalisierung Strom- und Energiemärkte angeht. Insofern ist es ja durchaus ein guter und auch denkbar gehbarer Weg.
Müller: Ja, aber Sie müssen jetzt Länder nehmen, in denen die Stromversorgung vorher so geordnet war, wie bei uns der Telekommunikationsmarkt: Ein einziges Unternehmen - manchmal zwei -, das landesweit alle technischen Einrichtungen besitzt - da müssen Sie Wettbewerb generieren. Wir hatten in Deutschland schon immer die allermeisten Stromversorgungsunternehmen in Europa, die allermeisten Verteilungsunternehmen. Also insofern sind wir da nicht vergleichbar.
Münchenberg: Auf der anderen Seite: Ironie der Marktöffnung ist die Tatsache, dass selbst die Stadtwerke teilweise mehr Geld verdienen, als sie vorher verdient haben, weil sie billiger ihren Strom einkaufen können, aber diese Preise gar nicht an die kleinen Kunden weitergeben.
Müller: Ja ich freue mich, dass Sie das ja auch mal festgestellt haben, weil - wenn Sie den Kampftruppen der kommunalen Verbände folgen, stehen die alle kurz vor dem Konkurs. In Wirklichkeit ist es genau so, wie Sie sagen. Die kommunalen Unternehmen, insbesondere ohne Eigenerzeugung, kaufen billig im Wettbewerb ein und geben das nur sehr zögerlich an ihre Kundschaft weiter. Gut, das ist ein Teil Marktwirtschaft. Es wird umso mehr Marktwirtschaft, wie jetzt der einzelne Bürger nicht wirklich den Lieferanten wechselt. Aber wie gesagt: Gerade im kommunalen Bereich erlebe ich ja auch viel von dem Beschiss, den ich gerade angeprangert habe.
Münchenberg: Aber die Schaffung einer Regulierungsbehörde wird es nicht geben - in jedem Fall?
Müller: Um den Beschiss zu beseitigen, brauche ich keine Regulierungsbehörde. Da muss es unter Umständen beim einmaligen Regelwerk Anpassungen geben. Aber das ist ja dann - wie soll ich mal sagen - im laufenden Verfahren nicht notwendig.
Münchenberg: Nicht zuletzt dank Ihrem energischen Intervenieren darf die Post ihr Monopol im Briefbereich bis 2007 behalten. Steht denn dieser Schritt nicht doch im eklatanten Widerspruch zu Ihrem sonstigen Bekenntnis 'Der Wettbewerb soll es richten'?
Müller: Ja, wir müssen faire Wettbewerbsbedingungen haben. Die Deutsche Post hat zur Zeit noch ein Monopol, und wir sind das einzige Land der großen Industrieländer in Europa, dass das Monopol ja schon abgeschafft hat. Nach heutiger Rechtslage gibt es am 1.1.2003 keinerlei Postmonopol mehr. Das ist nicht der Fall, und kurz vor Weihnachten tagte noch einmal der Rat der europäischen Postminister. Und dort habe ich also festgestellt, dass man noch nicht einmal in Europa Einigkeit darüber herstellen kann, dass bis 2010 das Postmonopol abgeschafft werden soll. Deswegen gehe ich davon aus: Es wird sich in England und Frankreich nichts tun. Jetzt müssen Sie folgendes sehen: Dann kämpfen auf einem liberalisierten Postmarkt Staatsmonopole aus England und Frankreich gegen die Deutsche Post, und auf dem internationalen Markt haben wir noch einmal dasselbe. Das heißt: Die Deutsche Post ist dann echt behindert.
Münchenberg: Wenn die Post jetzt ihr Monopol behält im Briefbereich bis 2007, ist da nicht trotzdem automatisch eine Portosenkung fällig, zumal ja selbst die EU-Kommission gesagt hat: 'wir müssen diese 1,10 DM prüfen - von der Höhe her'?
Müller: Ja, sie wird ja geprüft - durch die Regulierungsbehörde. Die Post muss für den 1.1.2003 einen von der Regulierungsbehörde genehmigten Posttarif haben. Da habe ich keinen Einfluss, und nach allem, was man so an Rahmendaten kennt, gehe ich mal davon aus, dass in der Summe aller Postpreise eine Ermäßigung stattfinden wird. Ich betone: In der Summe. Es kann ja sein, der Briefpreis bleibt bei 1,10 DM, aber dafür wird der Postkartenpreis deutlich gesenkt oder so. Das muss die Regulierungsbehörde wissen; das muss die Post wissen, wie sie es beantragt. Sie hat ja Körbe von Leistungen, aber in der Summe - sage ich noch einmal - wird die Post nach meiner bisherigen Sicht der Dinge billiger werden.
Münchenberg: Ihnen fehlt ja - ich sage mal - der parteipolitische Stallgeruch, und Sie haben ja auch jetzt nicht unbedingt eine Hausmacht. Fühlen Sie sich denn manchmal noch immer als Exot in der Koalition, in der Regierung? Oder sind Sie jetzt auch - ich sage mal - 'richtiger' Politiker geworden?
Müller: Man ist immer Exot, wenn man in so einem Leben nicht groß geworden ist. Der richtige Politiker hat irgendwo an der Basis angefangen, war im Kreisverband und war dann vielleicht Kreistagsabgeordneter, Delegierter beim Landesparteitag und dann Delegierter beim Bundesparteitag usw., und ist dann irgendwann Bundestagskandidat geworden etc. Das fehlt mir ja alles. Ich habe in meinem Leben noch kein Wahlkampfplakat geklebt, und ich kann mir ehrlich auch nicht vorstellen, dass ich mal eins kleben werde. Also, insofern bleibt man ein Exot - einerseits. Andererseits habe ich nicht den Eindruck, dass die SPD - die Fraktion - mit mir nicht relativ gut leben kann.
Münchenberg: Das heißt mit anderen Worten: Wenn alles gut läuft für die Koalition, heißt auch der nächste Wirtschaftsminister dann Werner Müller?
Müller: Das entscheidet ja zu allererst der Wähler. Sie haben ja gesagt: Wenn es gut läuft - ich gehe davon aus, dass diese Koalition wiedergewählt wird: danach entscheidet es der Bundeskanzler. Und wenn das alles so kommt, dann stellt sich mir die Frage. Also, das kann man noch abwarten. Grundsätzlich bin ich nicht abgeneigt. Aber ich habe ja hier bei Amtsantritt ein etwas geändertes Ministerium vorgefunden; das war ja auch der Grund, warum der vorgesehene Kandidat sehr plötzlich vor der Vereidigung abgesprungen ist. Und da hätte ich dann schon einige Wünsche an den Kanzler.
Münchenberg: Ist das ein Junktim?
Müller: Was heißt Junktim? Also, warten wir das mal ab. Es müssen ja erst die Events vorher erfüllt werden.
Münchenberg: Aber wenn Sie die Abteilung nicht zurückbekommen, hieße das auch, Sie stünden nicht mehr zur Verfügung?
Müller: Also noch einmal - das ist die weitere Zukunft. Ich bin hier mit dem Bundeskanzler im Reinen.
Münchenberg: Auf der anderen Seite: Es gibt ja deutliche Warnzeichen. Nehmen wir einmal den ifo-Geschäftsklimaindex, der nach unten zeigt; nehmen wir den Monatsbericht des Finanzministeriums - auch da heißt es, das Wachstum hat sich verlangsamt. Dann gibt es ja auch außenwirtschaftliche Risiken - der unsichere Konjunkturverlauf in den USA. Das sind alles keine Faktoren zur Beunruhigung?
Müller: Was heißt Beunruhigung? Sehen Sie mal: Nehmen Sie doch das Institutsgutachten, was die Wachstumsraten jetzt nach unten korrigiert hat. Da steht aber auch klar drin, dass irgendeine Konjunkturkrise oder so was mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen ist. Wenn wir zwei Prozent Wachstum haben, haben wir mehr als im Mittel der 90er Jahre; wir liegen dann schon um 50 Prozent über dem Wachstumsniveau der 90er Jahre. Ich verhehle nicht: Mir ist das zu wenig. Wir haben Chancen in Deutschland, ein Jahrzehnt lang auch drei Prozent Wachstum realisieren zu können - etwa nach dem Muster, wie in Amerika von 1990 bis 2000 immer sehr gute Wachstumsraten geschrieben worden sind. Zwei Prozent Wachstum ist deutlich nicht das, was ich eingangs des Jahres erwartet habe. Aber - wie gesagt - es ist noch nicht irgendwie Anlass, um hier in Pessimismus zu verfallen, sondern es muss Ansporn sein, dass wir drüber kommen.
Münchenberg: Ein anderer Aspekt bei der Debatte auch, was die Wachstumsmöglichkeiten angeht, ist ja der soziale Bereich. Verkrustung auf dem deutschen Arbeitsmarkt wird immer als ein Grund genannt, warum das Wirtschaftswachstum nicht so wächst, wie man es erwartet. Teilen Sie diese Einschätzung? Sollte hier die Regierung mehr machen, beispielsweise auch in der nächsten Legislaturperiode - beispielsweise beim Kündigungsschutz, dass eben auch mehr eingestellt wird wieder?
Müller: Also, ich glaube nicht, dass das Thema Kündigungsschutz unmittelbar Auswirkungen auf das Einstellungsverhalten hat. Das wäre so, wenn man nicht befristet einstellen könnte. Sehen Sie: Sie können heute jemanden mit mehrmonatigen Verträgen, ein paarmal hintereinander eine und die selbe Person, bis zu zwei Jahren befristet beschäftigen. Zwei Jahre müssen ja wohl reichen, festzustellen, a) - ist vielleicht eine Auftragsspitze im Betrieb in dauerhaftes Wachstum überführt, b) - es müsste auch reichen, eine Person kennenzulernen - taugt er was? Will ich den hier auf Dauer beschäftigen? Das ist also aus meiner Sicht wirklich ein Ammenmärchen. Ich will noch hinzufügen, dass die Möglichkeit, befristet einzustellen, für ältere Mitarbeiter nicht mehr an die Begrenzung gebunden ist. Die können Sie also von 58 an bis 65 befristet einstellen, immer wieder. Also, so glaube ich nicht, dass das Thema Kündigungsschutz hier so eine zentrale Bedeutung hat. Nicht zuletzt das, was diese Bundesregierung zurückgenommen hat, betrifft ja nur die kleinen Unternehmen.
Münchenberg: Herr Müller, wenn man das mal überträgt auf die 'Faulheitsdebatte', die der Kanzler persönlich angestoßen hat, dann heißt das doch auch, dass diese Debatte eigentlich ohne praktische Folgen bleiben wird, zumal ja jetzt auch zum Beispiel Herr Jagoda von der Bundesanstalt für Arbeit - der Präsident - in die Bresche gesprungen ist und die Arbeitslosen verteidigt hat. Auch Arbeitsminister Riester hat die Arbeitslosen verteidigt . . .
Müller: . . . ich verteidige auch die Arbeitslosen. Der Bundeskanzler ist der Erste, der die Arbeitslosen verteidigt, weil er derjenige ist, der die Senkung der Arbeitslosigkeit zum zentralen Punkt des SPD-Wahlkampfes gemacht hat und nach der Wahl diesen Punkt weiter hochgehalten hat . . .
Münchenberg: . . . aber der Vorwurf der Faulheit steht weiter im Raum . . .
Müller: . . . hören Sie mal, Sie sind doch nicht weltfremd. Ich behaupte mal, dass jeder unserer Zuhörer schon einen kennt, der wissentlich nicht vermittelt werden will und der sagt: 'Ich tu' mal so als ob - und ich lebe von der Sozialhilfe gut'. Nur genau diesen Teil meinte der Bundeskanzler - ich weiß, das ist ein relativ geringer Teil. Irgendwie plötzlich klang es so in den Medien wieder, als habe der Kanzler alle Arbeitslosen hier diffamieren wollen. Das ist Unsinn. Aber es hilft auch nichts, die Augen davor zu verschließen, dass eine Minderheit innerhalb der großen Zahl der Arbeitslosen wirklich nicht vermittelt werden will.
Münchenberg: Lassen Sie uns nochmal auf die Konjunkturentwicklung zurückkommen. Das heißt im Umkehrschluss auch, wenn die Konjunktur sich jetzt langsamer entwickelt als ursprünglich gedacht, dann sind wahrscheinlich auch die Steuereinnahmen geringer. Dazu gibt es ja auch noch einige Haushaltsrisiken - es gibt verschiedene Forderungen aus den Ministerien, die mehr Geld haben wollen. Es gibt die Kindergelderhöhungspläne zum Beispiel. Und selbst die Grünen sagen ja inzwischen, zwischen 3 und 5 Milliarden Haushaltsrisiken - die sind sehr realistisch, sehr wahrscheinlich. Eine höhere Neuverschuldung lehnen Sie grundsätzlich ab?
Müller: Ja, die lehne ich absolut ab, weil: Was hat an und für sich den wirtschafts- und finanzpolitischen Charakter der Politik in den Jahren von 1980 bis 2000 verdorben? Das war der Glaube, dass wir das Leben im Jetzt finanzieren können, indem wir immer mehr Geld von den Kindern leihen. Das ist diese exorbitant gestiegene jährliche Netto-Neuverschuldung, die dann immer auf den sich auftürmenden Schuldenberg noch oben drauf kam. Die Bundesregierung steht völlig einheitlich - der Kanzler, der Wirtschaftsminister - mit Herrn Eichel da, dass unser oberstes Ziel ist, im Jahre 2006 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt zu haben. Das wäre dann das erstemal seit 33 Jahren, damals übrigens auch ein SPD-Finanzminister; aber das nur am Rande. Und dieses Ziel dominiert alles andere.
Münchenberg: Herr Müller, nun steigen ja die Benzinpreise wieder in ungeahnte Höhen. Droht nicht auch von dieser Seite möglicherweise Gefahr für die Konjunktur, und sei es auch nur, dass sich die Inflationsrate erhöht? Nun hat ja auch das Statistische Bundesamt wieder neue Zahlen vorgelegt, und die sind ja eher sehr bedenklich - 2,8 Prozent - heißt es da - Teuerungsrate im April.
Müller: Die Teuerungsrate ist gestiegen, ganz ohne Zweifel. Eine leicht - die Betonung ist immer noch 'leicht' - inflationäre Tendenz beschränkt die Möglichkeiten der Zentralbank - da sage ich auch 'leider'. Ich hoffe nicht, dass die Benzinpreise auf anhaltend diesem hohen Niveau sind, aber ich will auch deutlich sagen: Ich kann das nicht prognostizieren, zumal wir hier bei den Benzinpreisen eine gewisse Sonderkonjunktur haben, denn der Dieselpreis ist, wie Sie wissen, nicht so arg gestiegen. Das liegt daran, dass die Bundesrepublik ein Drittel des Benzins als Benzin importieren muss, was wiederum daran liegt, dass wir in Deutschland in den letzten 10 Jahren zuviel Raffineriekapazität abgebaut haben. Wir können den deutschen Bedarf an Produkten nicht mehr durch deutsche Raffination von Rohöl decken. Und in dem Moment, wo Sie zwingend Benzin als solches importieren müssen, bestimmt der Rotterdamer Benzinpreis automatisch das Niveau des deutschen Benzinpreises. Das ist eine Sonderentwicklung, die ein bisschen unabhängig ist von der Rohölpreisentwicklung.
Münchenberg: Im Streit um die Benzinpreise haben Sie ja zunächst die Ölkonzerne verteidigt, haben sie in Schutz genommen gegen den Vorwurf der Preistreiberei. Dann - kann man sagen - erfolgte doch eine kleine Kehrtwende . . .
Müller: . . . nein, sicher nicht, sondern man muss zwei Dinge auseinanderhalten: Diejenigen, die Deutschland versorgen, haben keinerlei Preisabsprachen gemacht, sondern der Niveauunterschied im Benzinpreis ist in Rotterdam entstanden. Und der überträgt sich automatisch auf das deutsche Benzinpreisniveau. Da kann ich mich also noch so sehr darüber ärgern - ich tanke ja auch jeden Samstag zu Hause. Aber da liegen keine Preisabsprachen vor, sondern wir sind ja gezwungen, das Benzin aus Rotterdam zu importieren und müssen die Preise, die wir dort bezahlen, ja an unseren Tankstellen irgendwo auch wieder sehen, denn sonst würden die Leute ja permanent mit Verlust verkaufen.
Münchenberg: Das heißt, Sie stehen dann trotzdem im Gegensatz zum Kanzler, weil der Kanzler ja schon . . .
Müller: . . . nein, der Kanzler hat darauf hingewiesen, wo der Gewinn gemacht wird. Der Gewinn wird am Bohrloch gemacht. Den Gewinn machen die großen internationalen ölfördernden Konzerne - das ist eine Exxon in New York - die machen satten Gewinn. Ich will das denen nicht vorwerfen, das gehört zu unserem System dazu. Die Frage ist doch: Wird hier bei den deutschen Tankstellenketten in irgendeiner Weise Preisabsprache gemacht, sonst ein Beschiss gemacht oder - wie soll ich mal sagen - ganz bewusst, wie das so heißt, der Verbraucher abgezockt? Und da habe ich gesagt, 'das ist so nicht richtig'. Und da bleibe ich auch bei, völlig unabhängig davon, dass die Ölförderer - leider gibt es kein deutsches Unternehmen, das in der Ölförderung drin ist - die Ölförderer machen satten Gewinn. Darauf hat der Kanzler hingewiesen, das ist auch richtig.
Münchenberg: Nun heißt es ja immer, auch das Kartellamt überprüft die Konzerne, ob es denn Preisabsprachen gegeben habe. Wird da nicht der Eindruck erweckt in der Öffentlichkeit, dass hier wirklich eine Kontrolle möglich sei? Weil - selbst wenn es diese Absprachen gäbe, würden die doch wahrscheinlich so gut vertuscht werden, dass das Kartellamt den Konzernen nicht auf die Schliche käme - gerade im sensiblen Bereich 'Benzin'?
Müller: Es ist Aufgabe des Kartellamtes, so etwas zu beobachten. Dass es schwierig ist, dass der Nachweis trotz Haussuchungen oder so wahrscheinlich kaum gelingt, das ist eine realistische Beobachtung der Dinge. Auf der anderen Seite darf das nicht dazu führen, den Eindruck zu erwecken, dass das Kartellamt nicht weiterhin prüfen soll. Wir brauchen das Kartellamt.
Münchenberg: Wenn der Benzinpreis jetzt weiterhin hoch bleibt, wird dann die Bundesregierung erneut reagieren? Bei der letzten Preisrunde gab es ja immerhin die Entfernungspauschale, den Heizölzuschuss.
Müller: Das haben wir auch vorausschauend schon so beschlossen, weil wir in etwa das Preisniveau, wie es jetzt ist, damals antizipiert haben. Wenn das damals in der Erwartung nur eine Monatssache gewesen wäre, hätten wir nicht sehr grundsätzlich den Finanzrahmen ändern müssen bezüglich Entfernungspauschale. Also, da ist vorausschauend reagiert worden.
Münchenberg: Aber mehr drauf kommt auch nicht?
Müller: Ich sehe das nicht.
Münchenberg: Was ist mit der Ökosteuer? Die wird auch nicht entschärft?
Müller: Ja, sehen Sie: Ökosteuer - nennen Sie es einfach auch mal Rentenfinanzierungssteuer. Wir schieben das Geld ja nicht irgendwo hin, sondern unmittelbar in die Rentenauszahlung. Wenn Sie die Ökosteuer streichen würden, dann müssen Sie mir sagen, wo Sie dann die 35 Milliarden Mark Rentenauszahlung hernehmen.
Münchenberg: Herr Müller, zu dem großen Thema Ökosteuer und Energie gehört im weitesten Sinne auch die Neuausrichtung der deutschen Energiepolitik. Als Sie 1998 als Minister angetreten sind - als Wirtschaftsminister -, haben Sie als eine Ihrer dringlichsten Aufgaben die Verhandlungen mit den Energiekonzernen über den Ausstieg aus der Atomstromerzeugung als Ziel genannt. Bekanntlich waren die Verhandlungen ja erfolgreich. Letztes Jahr hat man sich geeinigt über die Bedingungen des Ausstiegs. Seither aber stocken die Gespräche. Die Atomindustrie weigert sich bislang, den Konsens zu unterzeichnen. Woran hakt es im Augenblick?
Müller: Es hakt nicht ernsthaft, sondern die Atomwirtschaft hat einen Konsens mit unterzeichnet - die Bundesregierung auch - oder sagen wir genauer 'paraphiert'. Und sie sagt, sie wird sich so und so verhalten, sie wird ihre Kraftwerke nur noch begrenzt nutzen, dann abschalten usw., und das alles im Rahmen eines geänderten Atomgesetzes. Ich halte es nicht für illegitim, dass die Stromwirtschaft sagt 'ehe wir nun endgültig Tinte unter das Papier setzen, müssen wir ja auch sehen, dass das Atomgesetz konkret so geändert wird, wie es in dieser Konsensvereinbarung skizziert ist'. Das heißt, wir müssen jetzt den Änderungsentwurf für das Atomgesetz vorlegen, und dann sind wir ein Stück weiter.
Münchenberg: Aber nun gibt es doch Streit über die Ausformulierung der Gefahr, die von der Atomenergie ausgeht. Das ist doch ein Punkt, wo die Konzerne sagen: 'wir möchten hier eine sehr vorsichtige Formulierung' - wo es wohl auch innerhalb der Koalition unterschiedliche Auffassungen gibt.
Müller: Das will ich nicht abstreiten. Aber sehen Sie: Man begann, die Atomenergie im großen überparteilichen Konsens nach 1955 zu nutzen, und das letzte Atomkraftwerk ist irgendwann Mitte der 70er Jahre bestellt worden; da war auch noch weitestgehend überparteilicher Konsens da. Der lag begründet in der allgemeinen Überzeugung, dass der Nutzen die Risiken weit überwiegt. So - in diesem Bewusstsein ist privates Investment getätigt worden. Wenn wir jetzt plötzlich sagen würden, dass die Risiken bei weitem den Nutzen überwiegen, wäre das in einer relativ kurzen Frist eine Fundamentaländerung der deutschen Politik, die aus meiner Sicht so auch sachlich nicht gerechtfertigt ist, in jedem Falle aber die Konzerne vor das Problem stellt, dass ja jemand dann auf sofortige Stilllegung klagen könnte.
Münchenberg: Das heißt, Sie unterstützen die Position der Konzerne in dem Punkt?
Müller: Ich unterstütze nicht die Position der Konzerne; ich unterstütze hier keine radikale Position in die eine wie in die andere Richtung. Sondern aus meiner Sicht hat die deutsche Politik, nicht zuletzt auch die große Mehrheit der Bürger, entschieden, á la longue sollte man das Risiko der Kernenergie nicht eingehen. Das Jetzige soll zu Ende genutzt werden, aber es soll nichts Neues gebaut werden.
Münchenberg: Aber haben Sie den Eindruck, die Industrie, die Stromwirtschaft spielt trotzdem auf Zeit? Weil: Ich meine, dass sie über den Ausstieg nicht begeistert ist, trotz Konsens, liegt ja auf der Hand.
Müller: Ob sie begeistert ist oder nicht, kann ich Ihnen nicht sagen. Jedenfalls hat sie nichts Unvernünftiges unterschrieben - auch wirklich im Sinne der sinnvollen Verwaltung des Vermögens der Aktionäre. Und ich glaube nicht, dass sie auf Zeit spielt, sondern noch einmal - ich bitte einfach um Verständnis: Die Atomwirtschaft sagt, 'wir unterschreiben den Konsens, wenn wir wissen, wie das geänderte Atomgesetz aussieht'.
Münchenberg: Neuausrichtung der Energiewirtschaft - der Atomwirtschaft - die eine Seite. Eine andere ist die Liberalisierung des Strommarktes. Sind Sie denn mit der Entwicklung der bisherigen Öffnung des Strommarktes zufrieden? Es gibt ja auch die Kritik, dass bisher nur die Großen weitgehend profitiert haben von der Öffnung des Strommarktes, aber dass die Reduzierung des Strompreises zum Beispiel in Privathaushalten gar nicht angekommen ist.
Müller: Sie haben zwei Probleme angesprochen. Also, alles in allem bin ich zufrieden, weil - bedenken Sie: Einhundert Jahre lang ist das geliefert worden, da konnten Sie beim Preis nichts mitreden. Und ein solches System überhaupt auch im Bewusstsein aller Leute umzustellen, dass Sie Strom heute kaufen können wie Eier oder Mehl, dass Sie dahin gehen, wo es eben billiger ist, das muss sich erst in das allgemeine Bewusstsein verpflanzen. Am schnellsten haben das die Großbetriebe kapiert. Deswegen haben wir Strompreissenkungen - in der Spitze bis zu 50 Prozent.
Münchenberg: . . . die natürlich auch die Marktmacht haben . . .
Müller: . . . die haben natürlich auch Einkaufsmacht, das ist richtig. Aber - wenn ich mal so sagen darf - Otto Normalverbraucher tut sich noch schwer. Da müssen wir halt noch weiterhin Propaganda machen, wirklich die Strompreise anzugucken, sich Vertragsentwürfe geben zu lassen und zum Billigsten zu gehen. Bis hierhin bin ich zufrieden. Der Wechselwillen des Einzelnen müsste größer sein. Jetzt kommt aber ein Punkt, da werde ich doch zunehmend misstrauisch. Ich habe mich jetzt in den letzten zwei Monaten persönlich beschäftigt mit der Problematik eines Stromlieferanten - als Normalbürger wechseln zu wollen. Da will ich in aller Deutlichkeit sagen: Da ist unglaublich viel Beschiss im Spiel; schlicht Beschiss. Und der Sache werde ich nachgehen. Ich werde auf der Jahrestagung der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke das deutlich an den Pranger stellen. Und wenn sich das nicht ändert, werden wir hier auf dem Rechtswege eingreifen.
Münchenberg: Wenn man mal auf die anderen europäischen Länder schaut, haben ja viele trotzdem den Weg der Regulierung gewählt, gerade was Liberalisierung Strom- und Energiemärkte angeht. Insofern ist es ja durchaus ein guter und auch denkbar gehbarer Weg.
Müller: Ja, aber Sie müssen jetzt Länder nehmen, in denen die Stromversorgung vorher so geordnet war, wie bei uns der Telekommunikationsmarkt: Ein einziges Unternehmen - manchmal zwei -, das landesweit alle technischen Einrichtungen besitzt - da müssen Sie Wettbewerb generieren. Wir hatten in Deutschland schon immer die allermeisten Stromversorgungsunternehmen in Europa, die allermeisten Verteilungsunternehmen. Also insofern sind wir da nicht vergleichbar.
Münchenberg: Auf der anderen Seite: Ironie der Marktöffnung ist die Tatsache, dass selbst die Stadtwerke teilweise mehr Geld verdienen, als sie vorher verdient haben, weil sie billiger ihren Strom einkaufen können, aber diese Preise gar nicht an die kleinen Kunden weitergeben.
Müller: Ja ich freue mich, dass Sie das ja auch mal festgestellt haben, weil - wenn Sie den Kampftruppen der kommunalen Verbände folgen, stehen die alle kurz vor dem Konkurs. In Wirklichkeit ist es genau so, wie Sie sagen. Die kommunalen Unternehmen, insbesondere ohne Eigenerzeugung, kaufen billig im Wettbewerb ein und geben das nur sehr zögerlich an ihre Kundschaft weiter. Gut, das ist ein Teil Marktwirtschaft. Es wird umso mehr Marktwirtschaft, wie jetzt der einzelne Bürger nicht wirklich den Lieferanten wechselt. Aber wie gesagt: Gerade im kommunalen Bereich erlebe ich ja auch viel von dem Beschiss, den ich gerade angeprangert habe.
Münchenberg: Aber die Schaffung einer Regulierungsbehörde wird es nicht geben - in jedem Fall?
Müller: Um den Beschiss zu beseitigen, brauche ich keine Regulierungsbehörde. Da muss es unter Umständen beim einmaligen Regelwerk Anpassungen geben. Aber das ist ja dann - wie soll ich mal sagen - im laufenden Verfahren nicht notwendig.
Münchenberg: Nicht zuletzt dank Ihrem energischen Intervenieren darf die Post ihr Monopol im Briefbereich bis 2007 behalten. Steht denn dieser Schritt nicht doch im eklatanten Widerspruch zu Ihrem sonstigen Bekenntnis 'Der Wettbewerb soll es richten'?
Müller: Ja, wir müssen faire Wettbewerbsbedingungen haben. Die Deutsche Post hat zur Zeit noch ein Monopol, und wir sind das einzige Land der großen Industrieländer in Europa, dass das Monopol ja schon abgeschafft hat. Nach heutiger Rechtslage gibt es am 1.1.2003 keinerlei Postmonopol mehr. Das ist nicht der Fall, und kurz vor Weihnachten tagte noch einmal der Rat der europäischen Postminister. Und dort habe ich also festgestellt, dass man noch nicht einmal in Europa Einigkeit darüber herstellen kann, dass bis 2010 das Postmonopol abgeschafft werden soll. Deswegen gehe ich davon aus: Es wird sich in England und Frankreich nichts tun. Jetzt müssen Sie folgendes sehen: Dann kämpfen auf einem liberalisierten Postmarkt Staatsmonopole aus England und Frankreich gegen die Deutsche Post, und auf dem internationalen Markt haben wir noch einmal dasselbe. Das heißt: Die Deutsche Post ist dann echt behindert.
Münchenberg: Wenn die Post jetzt ihr Monopol behält im Briefbereich bis 2007, ist da nicht trotzdem automatisch eine Portosenkung fällig, zumal ja selbst die EU-Kommission gesagt hat: 'wir müssen diese 1,10 DM prüfen - von der Höhe her'?
Müller: Ja, sie wird ja geprüft - durch die Regulierungsbehörde. Die Post muss für den 1.1.2003 einen von der Regulierungsbehörde genehmigten Posttarif haben. Da habe ich keinen Einfluss, und nach allem, was man so an Rahmendaten kennt, gehe ich mal davon aus, dass in der Summe aller Postpreise eine Ermäßigung stattfinden wird. Ich betone: In der Summe. Es kann ja sein, der Briefpreis bleibt bei 1,10 DM, aber dafür wird der Postkartenpreis deutlich gesenkt oder so. Das muss die Regulierungsbehörde wissen; das muss die Post wissen, wie sie es beantragt. Sie hat ja Körbe von Leistungen, aber in der Summe - sage ich noch einmal - wird die Post nach meiner bisherigen Sicht der Dinge billiger werden.
Münchenberg: Ihnen fehlt ja - ich sage mal - der parteipolitische Stallgeruch, und Sie haben ja auch jetzt nicht unbedingt eine Hausmacht. Fühlen Sie sich denn manchmal noch immer als Exot in der Koalition, in der Regierung? Oder sind Sie jetzt auch - ich sage mal - 'richtiger' Politiker geworden?
Müller: Man ist immer Exot, wenn man in so einem Leben nicht groß geworden ist. Der richtige Politiker hat irgendwo an der Basis angefangen, war im Kreisverband und war dann vielleicht Kreistagsabgeordneter, Delegierter beim Landesparteitag und dann Delegierter beim Bundesparteitag usw., und ist dann irgendwann Bundestagskandidat geworden etc. Das fehlt mir ja alles. Ich habe in meinem Leben noch kein Wahlkampfplakat geklebt, und ich kann mir ehrlich auch nicht vorstellen, dass ich mal eins kleben werde. Also, insofern bleibt man ein Exot - einerseits. Andererseits habe ich nicht den Eindruck, dass die SPD - die Fraktion - mit mir nicht relativ gut leben kann.
Münchenberg: Das heißt mit anderen Worten: Wenn alles gut läuft für die Koalition, heißt auch der nächste Wirtschaftsminister dann Werner Müller?
Müller: Das entscheidet ja zu allererst der Wähler. Sie haben ja gesagt: Wenn es gut läuft - ich gehe davon aus, dass diese Koalition wiedergewählt wird: danach entscheidet es der Bundeskanzler. Und wenn das alles so kommt, dann stellt sich mir die Frage. Also, das kann man noch abwarten. Grundsätzlich bin ich nicht abgeneigt. Aber ich habe ja hier bei Amtsantritt ein etwas geändertes Ministerium vorgefunden; das war ja auch der Grund, warum der vorgesehene Kandidat sehr plötzlich vor der Vereidigung abgesprungen ist. Und da hätte ich dann schon einige Wünsche an den Kanzler.
Münchenberg: Ist das ein Junktim?
Müller: Was heißt Junktim? Also, warten wir das mal ab. Es müssen ja erst die Events vorher erfüllt werden.
Münchenberg: Aber wenn Sie die Abteilung nicht zurückbekommen, hieße das auch, Sie stünden nicht mehr zur Verfügung?
Müller: Also noch einmal - das ist die weitere Zukunft. Ich bin hier mit dem Bundeskanzler im Reinen.