DLF: Nach rund einem halben Jahr Regierungsarbeit, Herr Minister Müller, schneidet die rot-grüne Koalition mit dem bisher Geleisteten in der öffentlichen Meinung nicht gerade gut ab. Haben Sie mit den doch erheblichen Widerständen auch - und gerade - bei Ihren früheren Kollegen aus der Wirtschaft gerechnet, die die negative Stimmung maßgeblich ja mit beeinflussen?
Müller: Also, teilweise kommt die Reaktion nicht unerwartet, denn ich weiß ja, daß eine rot-grüne Regierung nun nicht gerade das war, was die Wirtschaft sich als Wahlausgang erhofft hatte. Infolgedessen sieht sie von vornherein besonders kritisch auf die Regierungsarbeit; das ist das eine. Das andere: Ich glaube, die Wirtschaft hat in den Monaten vor der Bundestagswahl doch einen Fehler gemacht. Sie hat nämlich jedwede Diskussion mit der Politik mehr oder weniger eingestellt, denn sie hätte das, was schon unmittelbar nach der Wahl alles an Forderungen kam, ja auch vor der Wahl an die alte Regierung richten sollen oder richten müssen. Und soviel, wie in den letzten Jahren an Politik unterlassen wurde, ist einfach in wenigen Monaten nicht zu machen. Und deswegen geht es der Wirtschaft auch nicht anders als in manchen Teilen der SPD. Vor der Wahl herrschte Diskussionsverbot, jetzt wird der Diskussionsstau abgearbeitet.
DLF: Gleichwohl muß die Regierung ja nun generell auch bei den Wählern einen Zustimmungsabschwung konstatieren. Wie wollen Sie diesen nun umkehren?
Müller: Bevor ich genau auf Ihre Frage komme, muß ich insofern um Verständnis bitten: Wenn wir wirkliche Reformen machen wollen - und das will diese Regierung -, dann sind das in aller Regel unbequeme Reformen. Und wer etwas Unbequemes macht, kriegt selten Beifall. Aber mit dem bequemen ‚weiter so' werden wir die Zukunft verspielen. Wenn Dinge, wie das 630-Mark-Gesetz nun sehr sehr viele Gemüter erregen, dann habe ich dafür schon Verständnis, aber man muß doch sehr auf die Kritik Einzelner kucken. Wenn also jemand einen Fulltimejob hat und nebenher für 630 Mark arbeitet und beispielsweise meint, er will nur steuerfrei arbeiten oder gar nicht, dann muß man einfach zu bedenken geben: Würde er diese Mehrarbeit im Betrieb machen, müßte er sie ja versteuern. Er will sie aber nur steuerfrei machen. Das eigentliche Problem ist gar nicht diese 630-Mark-Sache, das eigentliche Problem ist, daß Arbeit und Mehrarbeit viel zu sehr mit Steuern und Abgaben belastet ist.
DLF: Aber wenn man jetzt an den Gesetzen Nachbesserungen vornehmen will - an beiden Gesetzen -, führt das nicht wieder auch zu Ungerechtigkeiten, zu Unübersichtlichkeiten, die verwirren?
Müller: Wenn man für jeden Fall jetzt eine Lösung macht, das fände ich nicht so gut, so verständlich das ist. Ich glaube, wir liegen richtiger, wenn wir die Kritik, die kommt - sowohl beim Thema Scheinselbständigkeit wie beim Thema 630 -, unter Würdigung der kritischen Argumente auch von neutralem Sachverstand prüfen lassen - und das nicht als Thema, um das jetzt dynamisch auf die lange Bank zu schieben, sondern wirklich zügig prüfen lassen, und dann diesem neutralen Sachverstand folgen: Wenn er Änderungen vorschlägt, dann die auch zügig umsetzen.
DLF: Nun haben wir uns bisher bei Reparaturarbeiten aufgehalten. Wie sieht das denn nun mit den von Ihnen angesprochenen Reformen für die Zukunft aus?
Müller: Ja, wir müssen Reformen machen, das sagte ich, denn was vielleicht die bedrückendste Ausgangslage ist, die diese Regierung vorgefunden hat, ist die Lage der Staatsfinanzen. Ich habe schon nicht verstanden, daß der vormalige Finanz-minister Lafontaine das nicht am Anfang ganz klar so gesagt hat, wie es Herr Eichel jetzt macht, weil dann wäre - wie soll ich mal sagen - die allgemeine Erwartungs-richtung auch klar in eine bestimmte Richtung gesteuert worden, nämlich: Der Staat muß sparsamer werden. Wir haben ja, genau betrachtet, kein strukturelles Defizit von 30 Milliarden, wie immer gesagt wird, sondern von 80 bis 90 Milliarden. Da fängt ja schon irgendwie das falsche Denken an. Wir leihen uns jedes Jahr 50 bis 60 Milliarden von unseren Kindern und Kindeskindern und meinen, dass gehöre schon völlig selbstverständlich zum System. Wir haben große Probleme, die Stabilitäts-kriterien für den Euro nachzuweisen und wir schrammen immer so an der Verfassungsmäßigkeit der Haushalte entlang. Es bleibt gar kein anderer Weg, als die Staatsausgaben wieder zurückzuführen. Das ist die wichtigste Reform, die wir machen müssen, weil wir nicht generell immer mehr auf Kosten der Zukunft leben können. Ziffer eins. Ziffer zwei: Wir müssen ein wirtschaftsfreundliches Klima schaffen. Hier muß wirklich ein Ruck auch durch die Wirtschaft gehen. Wir müssen Deutschland zu einem der attraktivsten Standorte machen für Unternehmen und Investitionen des In-, aber auch des Auslandes, also Unternehmenssteuerreform. Wir müssen parallel dazu die Eckdaten vorzulegen, wie das Familienurteil realisiert wird, und wir müssen auch den Bürgern und den Unternehmen sagen, was die Zukunft der Ökosteuer sein wird. Auch diese Klarheit muß kommen, das alles vor der Sommer-pause in Eckdaten festzulegen, die verläßlich sind und die dann in sorgfältig erarbeitete Gesetze umgemünzt werden.
DLF: Dieses finanzpolitische Gesamtkonzept ist eigentlich Sache des Finanz-ministers. Welche Rolle fällt Ihnen als Wirtschaftsminister dabei zu?
Müller: Das ist völlig richtig. Also, das ist hauptsächlich Aufgabe des Finanzmini-sters, aber ich habe hier eine sehr enge Kooperation mit Herrn Eichel, die schon in den sechs Wochen, wo ich mal vorübergehend hier ein bißchen auch für das andere Ressort zuständig war, beginnend. Und ich freue mich sehr, daß von Anfang an bei den Notwendigkeiten, die gemacht werden müssen, wir wirklich einer Meinung waren. Das zeigt sich ja jetzt auch in den Reden im Bundestag, was wir gemeinsam wirklich sagen: Wir wollen das gemeinsam machen. Er hat die Federführung. Aber aus den Erfahrungen der ersten Regierungsmonate muß man aufpassen, daß die Belange der Wirtschaft auch genügend berücksichtigt werden. Das war nicht immer der Fall.
DLF: Was heißt das konkret?
Müller: Also ich denke mir, daß das eine oder andere bei der Unternehmens-steuerreform - Erster Teil -, die ja generell heißt ‚Steuerentlastungsgesetze', was auch richtiger Name ist, weil ja Familien mittlerer Einkommen und so wirklich deutlich entlastet wird bis 2002, aber da sind Belastungsaspekte für die Wirtschaft drin. Das hätte man etwas sorgfältiger vorher ins Auge fassen müssen - Stichwort beispielsweise ‚Auflösung von Rückstellungen'. Da hätten wir uns schon mal viel Diskussionen ersparen können, wenn das vorher sauberer mit der Wirtschaft hätte abgestimmt werden können. Nicht, daß man das nicht so machen soll, nur so - wissen Sie - Knall auf Fall, und dann sind da bei einzelnen Branchen 10, 20 Milliarden Mark fällig, das geht nicht. Oder: Es sind auch jetzt noch ein paar Dinge drin, die ich für außerordentlich unglücklich erachte, also beispielsweise die Neuregelung der inländischen Versteuerung von Dividenden, die aus dem Ausland hereinkommen. Das ist etwas, was noch böse Folgen haben könnte, so wie es jetzt geregelt ist, weil: Da verliert Deutschland seinen Standort für Holdings, und das können wir uns nicht erlauben. Wir müssen als Holdingstandort wirklich attraktiv bleiben, weil wir viele große Konzerne haben, die hier im Inland noch viele Arbeitsplätze haben, aber schon über 50 Prozent von Umsatz und Wertschöpfung im Ausland haben. Wir müssen für diese Holdingsitze dieser Firmen wirklich attraktiv bleiben, sonst kriegen wir hier tatsächlich Probleme. Also, da müßte wieder etwas korrigiert werden, und ich habe mich deshalb auch an Herrn Eichel gewandt.
DLF: Sie schneiden damit im Grunde genommen, Herr Müller, ja ein Problem an, das wir seit Jahrzehnten vor uns herschieben. Warum ist es in Deutschland, vielleicht auch in anderen Staaten, so schwer, ein einfaches, plausibles, überschaubares Steuerkonzept zu erarbeiten?
Müller: Ja, weil wir uns in Deutschland angewöhnt haben, daß wir fast für jeden einzelnen, der Steuern zahlt, noch eine Sonderfallregelung machen. Also, zu den Dingen, die ich im Kabinett auch tatsächlich mit Überzeugung mitgetragen habe, gehört zum Beispiel die Abschaffung des halben Steuersatzes auf viele - sagen wir mal - außerordentliche Einkünfte, Stichwort ‚Abfindungen', Stichwort auch beispiels-weise ‚Betriebsveräußerungen'. Gut, man hätte es einfach abschaffen können. Da war aber die Kritik wieder so breitflächig, daß sie jetzt fallweise wieder Ausnahmen einführen. Und so können Sie eigentlich rangehen an was Sie wollen: Sie treffen immer Leute, die sagen: ‚Also, nun bitte gerade bei mir nicht, und ich habe hundert gute Gründe'. Und schon ist wieder eine Ausnahme fällig. Und ich möchte mal erleben, was los ist, wenn wir ein schlankes Steuergesetz machen. Wenn wir ein wirklich schlankes Steuergesetz hätten, könnten wir die Steuersätze erheblich senken und alle Ausnahmen streichen.
DLF: Also Sie sehen nicht die Chance, daß man ganz niedrige Steuersätze schafft und dafür alle diese Ausnahmetatbestände dann auch abschafft?
Müller: Die Chance ist immer da, und wir werden uns jetzt bei der Unternehmens-steuerreform diesem Idealbild wieder mal ein Stück weiter nähern. Wir werden die Steuersätze kräftig senken auf unternehmerische Ergebnisse der Träger unterneh-merischer Tätigkeit, und wir werden das auch - ein böses Wort, es wird ja als ‚Unwort' bezeichnet - wir werden bei der Gegenfinanzierung Vergünstigungen streichen. Sehen Sie mal: Alleine die Tatsache, daß die Leute so sagen, Gegenfinan-zierung sei ein Unwort, belegt ja, daß die Ausnahmetatbestände alle bleiben müssen. Ich soll Steuer senken - und trotzdem alle die Ausnahmen lassen. Das ist so die 'Denke' im Volk. Aber wir werden bei der Unternehmenssteuerreform also Ausnahmen streichen. Und dann können Sie ja mit mir dann in drei Monaten mal ein Interview machen, und dann reflektieren, wer mal wieder die breitflächigste Kritik, die wir bekommen werden, wenn wir die einzelnen Ausnahmetatbestände anpacken.
DLF: Und auch an die Subventionen wollen Sie ja rangehen. Aber wenn Sie nun dann handeln, dann wird es sicherlich einen Aufschrei wieder der Betroffenen geben, sowohl bei den vorher von Ihnen erwähnten Ausnahmetatbeständen als auch eben bei den Subventionskürzungen. Wie wollen Sie dem denn dann begegnen?
Müller: Also, das wird eventuell so kommen. Ich will aber zunächst erst einmal folgendes sagen - ich hoffe nicht, daß ich Ihre Frage vergesse, ich bitte um Nachsicht. Was wir hier vorhaben, ist ein Unikum in der Geschichte der Bundesrepublik in 50 Jahren sozialer Marktwirtschaft. Ich bin sehr zuversichtlich, daß wir einen Kabinettsbeschluß bekommen, daß wir Subventionen abbauen. Und was mir wichtig ist: Es ist der erste in der Geschichte der Bundesrepublik, denn es sind dann ja alle Kollegen im Kabinett dann irgendwie betroffen. Und nun ist die Frage: Was passiert hinterher? Hinterher könnte es so sein, daß es Kritik gibt. Aber das ist ja mit ein Grund, warum ich vorher die Wirtschaft gefragt habe: Wollt Ihr dabei mithelfen - oder nicht? Und jetzt habe ich einen Brief bekommen, und da steht drin: ‚Wir haben uns das noch einmal überlegt. Paß mal auf, Wirtschaftsminister, das ist Deine Sache, das muß die Politik entscheiden - und freundliche Grüße'. Das ist für mich aber ganz klar auch die Aussage: Wir akzeptieren das, was Du entscheidest, weil: Ich hatte ja vorher gefragt, sie sollen mal sagen, wo es mehr weh tut - wo es weniger weh tut. Und da haben sie gesagt: ‚Erstens brauchen wir es nicht, zweitens kriegen wir eh' nicht soviel wie Du meinst - nun entscheide Du'. Und wenn die hinterher nun wirklich das nochmal machen wie bei der Steuerreform, dann werde ich publizistisch sehr lebendig.
DLF: Wenn man nun das wichtigste Ziel der Bundesregierung bei all diesen Reformplänen, die Sie gerade angeschnitten haben, betrachtet - das ist ja die Verminderung der Arbeitslosigkeit -, dann muß man doch aber eigentlich sagen: Bisher ist kaum erkennbar, daß es da zu einem Durchbruch kommt. Bisher hat es einen Durchbruch noch nicht gegeben, und das Bündnis für Arbeit tritt ja auch auf der Stelle.
Müller: Sie meinen - bei dem wichtigsten Ziel?
DLF: Ja.
Müller: Ja, dann würde ich Sie mal auf zwei Aussagen aufmerksam machen, die parallel im Raume stehen - meistens von der Opposition oder denen, die uns nicht so wohl gesonnen sind. Auf der einen Seite wird gesagt, wir hätten also nur noch eineinhalb Prozent Wachstum in diesem Jahr und das wäre die neue Regierung, die das Wachstum kaputtgemacht hat. Dann müßte ja implizit die Arbeitslosigkeit gestiegen sein, denn wir sind ja immerhin ein halbes Jahr im Amt. Richtig ist, daß daß die Arbeitslosigkeit - im Monatsvergleich - immer noch unter 300.000 unter Vorjahresmonat liegt. Das heißt: Wir betreiben eine doch aktive Arbeitsmarktpolitik - auch unabhängig von der Notwendigkeit, daß es mit Wirtschaftswachstum leichter wäre. Ein Beispiel: Das Programm für arbeitslose Jugendliche. Diese 100.000 Plätze sind in zwei, drei Monaten ausgeschöpft worden. Das ist auch in der Statistik jetzt mit drin. Das ist aktive Arbeitsmarktpolitik, und einen Durchbruch gibt es bei dem Thema ohnehin nicht. Aber - damit kein Mißverständnis aufkommt - es ist eine stetige Arbeit, es muß stetig besser werden. Einen Durchbruch darf man nicht erwarten.
DLF: Herr Minister, als früherer VEBA-Manager waren Sie schon seit Anfang der 90er Jahre Berater Gerhard Schröders in Energiefragen. Dann wurden Sie vom Bundeskanzler überraschend zum Wirtschaftsminister berufen, wobei der Ausstieg aus der Atomenergie weiterhin eine wichtige Aufgabe für Sie geblieben ist. Die Konsensgespräche darüber sind aber ins Stocken geraten. Verfolgen Sie und der Bundeskanzler überhaupt noch das Ziel noch ernsthaft, oder möchten Sie lieber Ruhe an dieser Front mit den Unternehmern halten?
Müller: Also, Ruhe wollen wir generell halten; wir wollen das nicht in diesen aufgeregten Hin- und Her-Streitereien machen. Aber wir sind da am Ball, und es wird entweder einen Konsens geben mit der Stromwirtschaft, oder wir werden den Ausstieg dann eben ohne die Stromwirtschaft auf rechtlichem Wege vorwärts bringen. Also, im Moment ist ein bißchen Verhandlungspause für die Öffentlichkeit. Das liegt daran, daß wir die Frage der steuerlichen Behandlung der Rückstellungen abstimmen. Und dann, denke ich, geht es weiter.
DLF: Welche Zeiträume für einen Ausstieg fassen Sie denn nun ins Auge? Man hört so unterschiedliche Daten aus Regierungskreisen.
Müller: Ja, das liegt daran, daß wir immer zitieren, was die Eckpunkte sind. Die Stromwirtschaft will eine Gesamtlaufzeit für die Kernkraftwerke von 40 Jahren . . .
DLF: . . . Kalenderjahre? . . .
Müller: . . . 40, ich sage mal 40 Jahre. Und der grüne Koalitionspartner, aber vielleicht auch die SPD, wollen allenfalls 30 Jahre Gesamtlaufzeit. Das hieße, da das letzte Kernkraftwerk vor 10-11 Jahren in Betrieb gegangen ist, daß das allerletzte in 20 oder in 30 Jahren stillgelegt würde.
DLF: Und das erste?
Müller: Das erste - Sie können es entsprechend ausrechnen, wenn Sie die 30, respektive 40 Jahre Gesamtlaufzeit auf das Inbetriebnahmejahr beziehen.
DLF: Das war 1968 - Obrigheim.
Müller: Ja, das wäre dann ein relativ früher Kandidat. Aber ob Obrigheim deswegen vorzeitig stillgelegt wird, weiß ich nicht. Bei 40 Jahre wäre es also 2008. Das muß zu verhandeln sein, ein Bauernopfer kann es nicht geben.
DLF: Das heißt - was immer gesagt wurde oder gefordert wurde - , daß noch in dieser Legislaturperiode . . .
Müller: . . . das kann kommen. Wissen Sie, ich habe ja keinen Abschaltknopf am Schreibtisch. Und wenn ein Unternehmensvorstand ein Kernkraftwerk stilllegt, muß er das vor seinen Eigentümern rechtfertigen. Das Kernkraftwerk gehört nicht dem Vorstand, das gehört den Aktionären. Dann muß er denen nachweisen, daß der Betrieb nicht mehr so richtig wirtschaftlich war.
DLF: Aber Ihr Kollege Trittin hat einen Abschaltknopf - einen indirekten, indem er zum Beispiel durch das Verbot von Transporten von Atommüll oder auch durch verschärfte Auflagen für den Betrieb von Kernkraftwerken zu einem Stop des Betriebs beitragen könnte.
Müller: Nein, das sagen Sie. Das ist kein Abschaltknopf, weil wir ja in einem Rechtsstaat leben. Die Unternehmen haben einen Rechtsanspruch auf Transporte, Sicherheit als nachgewiesen vorausgesetzt. Also, das ist schon per se kein Mittel, und die Bundesregierung will auch nicht auf kaltem Wege sozusagen zur Abschaltung kommen. Das gilt auch für Herrn Trittin.
DLF: Herr Müller, Sie planen ja ein neues Energieprogramm - eine Art Bündnis für Energie -, zu dem Sie fast drei Duzend Gesprächspartner geladen haben. Die sollen innerhalb eines Jahres Vorschläge für ein neues Energieprogramm erarbeiten. Zu Beginn des Jahres hatten Sie ein neues Programm noch abgelehnt mit dem Hinweis, daß bei einer Realisierung des alten Energieprogramms Fehlinvestitionen - wahrscheinlich von 100 Milliarden Mark - entstanden seien . . .
Müller: . . . jährlich! . . .
DLF: Was hat Sie zu Ihrem neuen Sinneswandel getrieben?
Müller: Es ist kein Sinneswandel. Ich will auch nicht nach einem Jahr irgendwie ein fertiges Energieprogramm vorlegen, sondern ich möchte Leitlinien für eine Energie-politik in einer größeren Konsensrunde vieler gesellschaftlicher Gruppen erarbeiten. Mir geht es darum, daß man sagt: Diese regenerative Energie hat beispielsweise größere Marktchancen als jene. Das ist schon mal wichtig, wenn wir Fördergelder vergeben. Wenn wir konkret Grundlastkraftwerke Kernenergie ersetzen, dann ist beispielsweise Erdgas problematisch oder nicht problematisch. Das muß ja mal irgendwann entschieden werden. Solche Entscheidungen möchte ich da im Konsens vorbereiten. Also kein präzises Programm, sondern Leitlinien für programmatische Aussagen. Ich möchte aber nicht irgendwie Strukturvorgaben machen - Ihr müßt soviel davon nehmen, soviel davon nehmen, soviel davon. Hätte man - das ist richtig - die Energieprogramme von Kanzler Schmidt Ende der 70er, Anfang der 80er verwirklicht, wäre die Energieversorgung heute jedes Jahr annähernd 100 Milliarden Mark teurer als sie ist. Schon daraus können Sie erkennen: Eine so präzise Vorgabe kann die Politik nicht machen, es stellt sich nachher sogar die Haftungsfrage. Das muß die Wirtschaft Schluß endlich selber entscheiden. Aber damit wir die Entscheidungen in ein - sagen wir mal - größtmögliches Maß an Übereinstimmung bringen, dafür brauchen wir so etwas. Es ist kein Bündnis, es ist ein Gesprächskreis hochrangiger Leute, aber nicht allzu vieler Leute.
DLF: Von Ihrem Vorgänger ist die Liberalisierung des Strommarktes entsprechend den EU-Vorgaben verwirklicht worden. Dennoch fordern viele Beteiligte bereits wieder Korrekturen an diesem veränderten Energiewirtschaftsrecht - inklusive Stromeinspeisungsgesetz. Bereiten Sie diese Novellierung vor?
Müller: Eine Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes - Teil Strom - steht für mich nicht auf der Tagesordnung.
DLF: Was dann?
Müller: Ich muß das Energiewirtschaftsgesetz noch einmal ändern, weil ich die europäische Gasrichtlinie einbauen muß. Das muß bis zum Sommer 2000 geschehen sein. Aber den Stromteil möchte ich zunächst mal unverändert lassen. Das, was die Kommunen zu recht kritisieren, das muß ich berücksichtigen, also beispielsweise, daß ihnen die Konzessionsabgabe - das sind 5 Milliarden Mark kommunaler Einnahmen - plötzlich zerbröseln könnte. Dem will ich Rechnung tragen durch Änderung der Konzessionsabgabenverordnung, so daß diese Einnahme bei den Kommunen nicht in Gefahr gerät. Dann werde ich verschiedene Dinge, wie beispielsweise die Verbändevereinbarung zur Durchleitung von Strom, stärker mit der kommunalen Seite abstimmen, und solche Dinge. Also, ein paar Sachen der Kommunen müssen berücksichtigt werden. Das erfordert aber keine Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes.
DLF: Nun noch eine Frage, die sich an die Struktur Ihres Ministeriums wendet: Vor einem halben Jahr war ja kritisiert worden von Teilen der Medien und auch von Beobachtern, Experten, daß Sie die Grundsatzabteilung, Konjunkturbeobachtung an das Finanzministerium abgeben mußten. Es war kritisiert worden, daß dadurch die neutrale Beurteilung der wirtschaftlichen Lage in Frage gestellt würde. Nun hat nach dem Abtritt des Weltökonomen Oskar Lafontaine ja sich die Situation geändert. Warum wollen Sie nun die Grundsatzabteilung nicht wieder ins Ministerium zurückholen?
Müller: Also, ich muß Ihnen sagen, daß ich bisher mit Herrn Eichel darüber überhaupt noch nicht gesprochen habe, weil wir wichtigeres zu besprechen hatten, und die Ergebnisse sehen wir jetzt an Hand der Finanzpolitik, die er verkündet. Ich frage mich, ob ich überhaupt mit ihm darüber sprechen soll, denn ich habe inzwischen eine Grundsatzabteilung neu aufgebaut. Ich vertrete wirtschaftspolitische Grundsätze und kriege ja schon den Vorwurf, daß ich sie viel zu viel vertrete usw, und wir werden unseren eigenen Jahreswirtschaftsbericht erstellen, und wir werden den - denke ich - in ein, zwei Monaten der Öffentlichkeit präsentieren.
DLF: Apropos wirtschaftliche Grundsätze: Befindet sich die rot-grüne Regierungskoalition nach Ihrer Ansicht auf dem richtigen Weg in dieser Hinsicht, oder läuft sie nicht doch Gefahr, daß sie sich - im Gegensatz zu den Vorstellungen des Bundeskanzlers und des Wirtschaftsministers - in die falsche Richtung bewegt?
Müller: Also, ich hoffe nicht und ich glaube es aber auch ehrlich gesagt nicht, weil: Schluß endlich wird jeder einsehen, daß eine Politik gegen die Wirtschaft wirklich kontraproduktiv ist, denn der Staat kann Arbeitsplätze fast nicht schaffen; sie müssen in und mit der Wirtschaft geschaffen werden - also brauchen wir die Wirtschaft als Partner. Und - das denke ich - wird die Richtschnur der Politik sein. Ansonsten sage ich Ihnen deutlich: Eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Finanzpolitik muß die Staatsfinanzen konsolidieren, gesunden. Das ist eine harte Politik. Wir werden dazu durch die Lage gezwungen, die wir übernommen haben. Das ist das größere Problem, weil das für alle unbequem ist. Aber ich glaube, das Verhältnis zur Wirtschaft der rot-grünen Regierung das wird sich völlig normalisieren. Das wird so normal, wie es vormals unter Kanzler Schmidt war. Das war auch ein sehr gutes Verhältnis, und das hat auch ein bißchen gedauert, bis es so wurde. Und dann war er ein in der Wirtschaft überaus akzeptierter Kanzler, und so wird das hier auch kommen.
Müller: Also, teilweise kommt die Reaktion nicht unerwartet, denn ich weiß ja, daß eine rot-grüne Regierung nun nicht gerade das war, was die Wirtschaft sich als Wahlausgang erhofft hatte. Infolgedessen sieht sie von vornherein besonders kritisch auf die Regierungsarbeit; das ist das eine. Das andere: Ich glaube, die Wirtschaft hat in den Monaten vor der Bundestagswahl doch einen Fehler gemacht. Sie hat nämlich jedwede Diskussion mit der Politik mehr oder weniger eingestellt, denn sie hätte das, was schon unmittelbar nach der Wahl alles an Forderungen kam, ja auch vor der Wahl an die alte Regierung richten sollen oder richten müssen. Und soviel, wie in den letzten Jahren an Politik unterlassen wurde, ist einfach in wenigen Monaten nicht zu machen. Und deswegen geht es der Wirtschaft auch nicht anders als in manchen Teilen der SPD. Vor der Wahl herrschte Diskussionsverbot, jetzt wird der Diskussionsstau abgearbeitet.
DLF: Gleichwohl muß die Regierung ja nun generell auch bei den Wählern einen Zustimmungsabschwung konstatieren. Wie wollen Sie diesen nun umkehren?
Müller: Bevor ich genau auf Ihre Frage komme, muß ich insofern um Verständnis bitten: Wenn wir wirkliche Reformen machen wollen - und das will diese Regierung -, dann sind das in aller Regel unbequeme Reformen. Und wer etwas Unbequemes macht, kriegt selten Beifall. Aber mit dem bequemen ‚weiter so' werden wir die Zukunft verspielen. Wenn Dinge, wie das 630-Mark-Gesetz nun sehr sehr viele Gemüter erregen, dann habe ich dafür schon Verständnis, aber man muß doch sehr auf die Kritik Einzelner kucken. Wenn also jemand einen Fulltimejob hat und nebenher für 630 Mark arbeitet und beispielsweise meint, er will nur steuerfrei arbeiten oder gar nicht, dann muß man einfach zu bedenken geben: Würde er diese Mehrarbeit im Betrieb machen, müßte er sie ja versteuern. Er will sie aber nur steuerfrei machen. Das eigentliche Problem ist gar nicht diese 630-Mark-Sache, das eigentliche Problem ist, daß Arbeit und Mehrarbeit viel zu sehr mit Steuern und Abgaben belastet ist.
DLF: Aber wenn man jetzt an den Gesetzen Nachbesserungen vornehmen will - an beiden Gesetzen -, führt das nicht wieder auch zu Ungerechtigkeiten, zu Unübersichtlichkeiten, die verwirren?
Müller: Wenn man für jeden Fall jetzt eine Lösung macht, das fände ich nicht so gut, so verständlich das ist. Ich glaube, wir liegen richtiger, wenn wir die Kritik, die kommt - sowohl beim Thema Scheinselbständigkeit wie beim Thema 630 -, unter Würdigung der kritischen Argumente auch von neutralem Sachverstand prüfen lassen - und das nicht als Thema, um das jetzt dynamisch auf die lange Bank zu schieben, sondern wirklich zügig prüfen lassen, und dann diesem neutralen Sachverstand folgen: Wenn er Änderungen vorschlägt, dann die auch zügig umsetzen.
DLF: Nun haben wir uns bisher bei Reparaturarbeiten aufgehalten. Wie sieht das denn nun mit den von Ihnen angesprochenen Reformen für die Zukunft aus?
Müller: Ja, wir müssen Reformen machen, das sagte ich, denn was vielleicht die bedrückendste Ausgangslage ist, die diese Regierung vorgefunden hat, ist die Lage der Staatsfinanzen. Ich habe schon nicht verstanden, daß der vormalige Finanz-minister Lafontaine das nicht am Anfang ganz klar so gesagt hat, wie es Herr Eichel jetzt macht, weil dann wäre - wie soll ich mal sagen - die allgemeine Erwartungs-richtung auch klar in eine bestimmte Richtung gesteuert worden, nämlich: Der Staat muß sparsamer werden. Wir haben ja, genau betrachtet, kein strukturelles Defizit von 30 Milliarden, wie immer gesagt wird, sondern von 80 bis 90 Milliarden. Da fängt ja schon irgendwie das falsche Denken an. Wir leihen uns jedes Jahr 50 bis 60 Milliarden von unseren Kindern und Kindeskindern und meinen, dass gehöre schon völlig selbstverständlich zum System. Wir haben große Probleme, die Stabilitäts-kriterien für den Euro nachzuweisen und wir schrammen immer so an der Verfassungsmäßigkeit der Haushalte entlang. Es bleibt gar kein anderer Weg, als die Staatsausgaben wieder zurückzuführen. Das ist die wichtigste Reform, die wir machen müssen, weil wir nicht generell immer mehr auf Kosten der Zukunft leben können. Ziffer eins. Ziffer zwei: Wir müssen ein wirtschaftsfreundliches Klima schaffen. Hier muß wirklich ein Ruck auch durch die Wirtschaft gehen. Wir müssen Deutschland zu einem der attraktivsten Standorte machen für Unternehmen und Investitionen des In-, aber auch des Auslandes, also Unternehmenssteuerreform. Wir müssen parallel dazu die Eckdaten vorzulegen, wie das Familienurteil realisiert wird, und wir müssen auch den Bürgern und den Unternehmen sagen, was die Zukunft der Ökosteuer sein wird. Auch diese Klarheit muß kommen, das alles vor der Sommer-pause in Eckdaten festzulegen, die verläßlich sind und die dann in sorgfältig erarbeitete Gesetze umgemünzt werden.
DLF: Dieses finanzpolitische Gesamtkonzept ist eigentlich Sache des Finanz-ministers. Welche Rolle fällt Ihnen als Wirtschaftsminister dabei zu?
Müller: Das ist völlig richtig. Also, das ist hauptsächlich Aufgabe des Finanzmini-sters, aber ich habe hier eine sehr enge Kooperation mit Herrn Eichel, die schon in den sechs Wochen, wo ich mal vorübergehend hier ein bißchen auch für das andere Ressort zuständig war, beginnend. Und ich freue mich sehr, daß von Anfang an bei den Notwendigkeiten, die gemacht werden müssen, wir wirklich einer Meinung waren. Das zeigt sich ja jetzt auch in den Reden im Bundestag, was wir gemeinsam wirklich sagen: Wir wollen das gemeinsam machen. Er hat die Federführung. Aber aus den Erfahrungen der ersten Regierungsmonate muß man aufpassen, daß die Belange der Wirtschaft auch genügend berücksichtigt werden. Das war nicht immer der Fall.
DLF: Was heißt das konkret?
Müller: Also ich denke mir, daß das eine oder andere bei der Unternehmens-steuerreform - Erster Teil -, die ja generell heißt ‚Steuerentlastungsgesetze', was auch richtiger Name ist, weil ja Familien mittlerer Einkommen und so wirklich deutlich entlastet wird bis 2002, aber da sind Belastungsaspekte für die Wirtschaft drin. Das hätte man etwas sorgfältiger vorher ins Auge fassen müssen - Stichwort beispielsweise ‚Auflösung von Rückstellungen'. Da hätten wir uns schon mal viel Diskussionen ersparen können, wenn das vorher sauberer mit der Wirtschaft hätte abgestimmt werden können. Nicht, daß man das nicht so machen soll, nur so - wissen Sie - Knall auf Fall, und dann sind da bei einzelnen Branchen 10, 20 Milliarden Mark fällig, das geht nicht. Oder: Es sind auch jetzt noch ein paar Dinge drin, die ich für außerordentlich unglücklich erachte, also beispielsweise die Neuregelung der inländischen Versteuerung von Dividenden, die aus dem Ausland hereinkommen. Das ist etwas, was noch böse Folgen haben könnte, so wie es jetzt geregelt ist, weil: Da verliert Deutschland seinen Standort für Holdings, und das können wir uns nicht erlauben. Wir müssen als Holdingstandort wirklich attraktiv bleiben, weil wir viele große Konzerne haben, die hier im Inland noch viele Arbeitsplätze haben, aber schon über 50 Prozent von Umsatz und Wertschöpfung im Ausland haben. Wir müssen für diese Holdingsitze dieser Firmen wirklich attraktiv bleiben, sonst kriegen wir hier tatsächlich Probleme. Also, da müßte wieder etwas korrigiert werden, und ich habe mich deshalb auch an Herrn Eichel gewandt.
DLF: Sie schneiden damit im Grunde genommen, Herr Müller, ja ein Problem an, das wir seit Jahrzehnten vor uns herschieben. Warum ist es in Deutschland, vielleicht auch in anderen Staaten, so schwer, ein einfaches, plausibles, überschaubares Steuerkonzept zu erarbeiten?
Müller: Ja, weil wir uns in Deutschland angewöhnt haben, daß wir fast für jeden einzelnen, der Steuern zahlt, noch eine Sonderfallregelung machen. Also, zu den Dingen, die ich im Kabinett auch tatsächlich mit Überzeugung mitgetragen habe, gehört zum Beispiel die Abschaffung des halben Steuersatzes auf viele - sagen wir mal - außerordentliche Einkünfte, Stichwort ‚Abfindungen', Stichwort auch beispiels-weise ‚Betriebsveräußerungen'. Gut, man hätte es einfach abschaffen können. Da war aber die Kritik wieder so breitflächig, daß sie jetzt fallweise wieder Ausnahmen einführen. Und so können Sie eigentlich rangehen an was Sie wollen: Sie treffen immer Leute, die sagen: ‚Also, nun bitte gerade bei mir nicht, und ich habe hundert gute Gründe'. Und schon ist wieder eine Ausnahme fällig. Und ich möchte mal erleben, was los ist, wenn wir ein schlankes Steuergesetz machen. Wenn wir ein wirklich schlankes Steuergesetz hätten, könnten wir die Steuersätze erheblich senken und alle Ausnahmen streichen.
DLF: Also Sie sehen nicht die Chance, daß man ganz niedrige Steuersätze schafft und dafür alle diese Ausnahmetatbestände dann auch abschafft?
Müller: Die Chance ist immer da, und wir werden uns jetzt bei der Unternehmens-steuerreform diesem Idealbild wieder mal ein Stück weiter nähern. Wir werden die Steuersätze kräftig senken auf unternehmerische Ergebnisse der Träger unterneh-merischer Tätigkeit, und wir werden das auch - ein böses Wort, es wird ja als ‚Unwort' bezeichnet - wir werden bei der Gegenfinanzierung Vergünstigungen streichen. Sehen Sie mal: Alleine die Tatsache, daß die Leute so sagen, Gegenfinan-zierung sei ein Unwort, belegt ja, daß die Ausnahmetatbestände alle bleiben müssen. Ich soll Steuer senken - und trotzdem alle die Ausnahmen lassen. Das ist so die 'Denke' im Volk. Aber wir werden bei der Unternehmenssteuerreform also Ausnahmen streichen. Und dann können Sie ja mit mir dann in drei Monaten mal ein Interview machen, und dann reflektieren, wer mal wieder die breitflächigste Kritik, die wir bekommen werden, wenn wir die einzelnen Ausnahmetatbestände anpacken.
DLF: Und auch an die Subventionen wollen Sie ja rangehen. Aber wenn Sie nun dann handeln, dann wird es sicherlich einen Aufschrei wieder der Betroffenen geben, sowohl bei den vorher von Ihnen erwähnten Ausnahmetatbeständen als auch eben bei den Subventionskürzungen. Wie wollen Sie dem denn dann begegnen?
Müller: Also, das wird eventuell so kommen. Ich will aber zunächst erst einmal folgendes sagen - ich hoffe nicht, daß ich Ihre Frage vergesse, ich bitte um Nachsicht. Was wir hier vorhaben, ist ein Unikum in der Geschichte der Bundesrepublik in 50 Jahren sozialer Marktwirtschaft. Ich bin sehr zuversichtlich, daß wir einen Kabinettsbeschluß bekommen, daß wir Subventionen abbauen. Und was mir wichtig ist: Es ist der erste in der Geschichte der Bundesrepublik, denn es sind dann ja alle Kollegen im Kabinett dann irgendwie betroffen. Und nun ist die Frage: Was passiert hinterher? Hinterher könnte es so sein, daß es Kritik gibt. Aber das ist ja mit ein Grund, warum ich vorher die Wirtschaft gefragt habe: Wollt Ihr dabei mithelfen - oder nicht? Und jetzt habe ich einen Brief bekommen, und da steht drin: ‚Wir haben uns das noch einmal überlegt. Paß mal auf, Wirtschaftsminister, das ist Deine Sache, das muß die Politik entscheiden - und freundliche Grüße'. Das ist für mich aber ganz klar auch die Aussage: Wir akzeptieren das, was Du entscheidest, weil: Ich hatte ja vorher gefragt, sie sollen mal sagen, wo es mehr weh tut - wo es weniger weh tut. Und da haben sie gesagt: ‚Erstens brauchen wir es nicht, zweitens kriegen wir eh' nicht soviel wie Du meinst - nun entscheide Du'. Und wenn die hinterher nun wirklich das nochmal machen wie bei der Steuerreform, dann werde ich publizistisch sehr lebendig.
DLF: Wenn man nun das wichtigste Ziel der Bundesregierung bei all diesen Reformplänen, die Sie gerade angeschnitten haben, betrachtet - das ist ja die Verminderung der Arbeitslosigkeit -, dann muß man doch aber eigentlich sagen: Bisher ist kaum erkennbar, daß es da zu einem Durchbruch kommt. Bisher hat es einen Durchbruch noch nicht gegeben, und das Bündnis für Arbeit tritt ja auch auf der Stelle.
Müller: Sie meinen - bei dem wichtigsten Ziel?
DLF: Ja.
Müller: Ja, dann würde ich Sie mal auf zwei Aussagen aufmerksam machen, die parallel im Raume stehen - meistens von der Opposition oder denen, die uns nicht so wohl gesonnen sind. Auf der einen Seite wird gesagt, wir hätten also nur noch eineinhalb Prozent Wachstum in diesem Jahr und das wäre die neue Regierung, die das Wachstum kaputtgemacht hat. Dann müßte ja implizit die Arbeitslosigkeit gestiegen sein, denn wir sind ja immerhin ein halbes Jahr im Amt. Richtig ist, daß daß die Arbeitslosigkeit - im Monatsvergleich - immer noch unter 300.000 unter Vorjahresmonat liegt. Das heißt: Wir betreiben eine doch aktive Arbeitsmarktpolitik - auch unabhängig von der Notwendigkeit, daß es mit Wirtschaftswachstum leichter wäre. Ein Beispiel: Das Programm für arbeitslose Jugendliche. Diese 100.000 Plätze sind in zwei, drei Monaten ausgeschöpft worden. Das ist auch in der Statistik jetzt mit drin. Das ist aktive Arbeitsmarktpolitik, und einen Durchbruch gibt es bei dem Thema ohnehin nicht. Aber - damit kein Mißverständnis aufkommt - es ist eine stetige Arbeit, es muß stetig besser werden. Einen Durchbruch darf man nicht erwarten.
DLF: Herr Minister, als früherer VEBA-Manager waren Sie schon seit Anfang der 90er Jahre Berater Gerhard Schröders in Energiefragen. Dann wurden Sie vom Bundeskanzler überraschend zum Wirtschaftsminister berufen, wobei der Ausstieg aus der Atomenergie weiterhin eine wichtige Aufgabe für Sie geblieben ist. Die Konsensgespräche darüber sind aber ins Stocken geraten. Verfolgen Sie und der Bundeskanzler überhaupt noch das Ziel noch ernsthaft, oder möchten Sie lieber Ruhe an dieser Front mit den Unternehmern halten?
Müller: Also, Ruhe wollen wir generell halten; wir wollen das nicht in diesen aufgeregten Hin- und Her-Streitereien machen. Aber wir sind da am Ball, und es wird entweder einen Konsens geben mit der Stromwirtschaft, oder wir werden den Ausstieg dann eben ohne die Stromwirtschaft auf rechtlichem Wege vorwärts bringen. Also, im Moment ist ein bißchen Verhandlungspause für die Öffentlichkeit. Das liegt daran, daß wir die Frage der steuerlichen Behandlung der Rückstellungen abstimmen. Und dann, denke ich, geht es weiter.
DLF: Welche Zeiträume für einen Ausstieg fassen Sie denn nun ins Auge? Man hört so unterschiedliche Daten aus Regierungskreisen.
Müller: Ja, das liegt daran, daß wir immer zitieren, was die Eckpunkte sind. Die Stromwirtschaft will eine Gesamtlaufzeit für die Kernkraftwerke von 40 Jahren . . .
DLF: . . . Kalenderjahre? . . .
Müller: . . . 40, ich sage mal 40 Jahre. Und der grüne Koalitionspartner, aber vielleicht auch die SPD, wollen allenfalls 30 Jahre Gesamtlaufzeit. Das hieße, da das letzte Kernkraftwerk vor 10-11 Jahren in Betrieb gegangen ist, daß das allerletzte in 20 oder in 30 Jahren stillgelegt würde.
DLF: Und das erste?
Müller: Das erste - Sie können es entsprechend ausrechnen, wenn Sie die 30, respektive 40 Jahre Gesamtlaufzeit auf das Inbetriebnahmejahr beziehen.
DLF: Das war 1968 - Obrigheim.
Müller: Ja, das wäre dann ein relativ früher Kandidat. Aber ob Obrigheim deswegen vorzeitig stillgelegt wird, weiß ich nicht. Bei 40 Jahre wäre es also 2008. Das muß zu verhandeln sein, ein Bauernopfer kann es nicht geben.
DLF: Das heißt - was immer gesagt wurde oder gefordert wurde - , daß noch in dieser Legislaturperiode . . .
Müller: . . . das kann kommen. Wissen Sie, ich habe ja keinen Abschaltknopf am Schreibtisch. Und wenn ein Unternehmensvorstand ein Kernkraftwerk stilllegt, muß er das vor seinen Eigentümern rechtfertigen. Das Kernkraftwerk gehört nicht dem Vorstand, das gehört den Aktionären. Dann muß er denen nachweisen, daß der Betrieb nicht mehr so richtig wirtschaftlich war.
DLF: Aber Ihr Kollege Trittin hat einen Abschaltknopf - einen indirekten, indem er zum Beispiel durch das Verbot von Transporten von Atommüll oder auch durch verschärfte Auflagen für den Betrieb von Kernkraftwerken zu einem Stop des Betriebs beitragen könnte.
Müller: Nein, das sagen Sie. Das ist kein Abschaltknopf, weil wir ja in einem Rechtsstaat leben. Die Unternehmen haben einen Rechtsanspruch auf Transporte, Sicherheit als nachgewiesen vorausgesetzt. Also, das ist schon per se kein Mittel, und die Bundesregierung will auch nicht auf kaltem Wege sozusagen zur Abschaltung kommen. Das gilt auch für Herrn Trittin.
DLF: Herr Müller, Sie planen ja ein neues Energieprogramm - eine Art Bündnis für Energie -, zu dem Sie fast drei Duzend Gesprächspartner geladen haben. Die sollen innerhalb eines Jahres Vorschläge für ein neues Energieprogramm erarbeiten. Zu Beginn des Jahres hatten Sie ein neues Programm noch abgelehnt mit dem Hinweis, daß bei einer Realisierung des alten Energieprogramms Fehlinvestitionen - wahrscheinlich von 100 Milliarden Mark - entstanden seien . . .
Müller: . . . jährlich! . . .
DLF: Was hat Sie zu Ihrem neuen Sinneswandel getrieben?
Müller: Es ist kein Sinneswandel. Ich will auch nicht nach einem Jahr irgendwie ein fertiges Energieprogramm vorlegen, sondern ich möchte Leitlinien für eine Energie-politik in einer größeren Konsensrunde vieler gesellschaftlicher Gruppen erarbeiten. Mir geht es darum, daß man sagt: Diese regenerative Energie hat beispielsweise größere Marktchancen als jene. Das ist schon mal wichtig, wenn wir Fördergelder vergeben. Wenn wir konkret Grundlastkraftwerke Kernenergie ersetzen, dann ist beispielsweise Erdgas problematisch oder nicht problematisch. Das muß ja mal irgendwann entschieden werden. Solche Entscheidungen möchte ich da im Konsens vorbereiten. Also kein präzises Programm, sondern Leitlinien für programmatische Aussagen. Ich möchte aber nicht irgendwie Strukturvorgaben machen - Ihr müßt soviel davon nehmen, soviel davon nehmen, soviel davon. Hätte man - das ist richtig - die Energieprogramme von Kanzler Schmidt Ende der 70er, Anfang der 80er verwirklicht, wäre die Energieversorgung heute jedes Jahr annähernd 100 Milliarden Mark teurer als sie ist. Schon daraus können Sie erkennen: Eine so präzise Vorgabe kann die Politik nicht machen, es stellt sich nachher sogar die Haftungsfrage. Das muß die Wirtschaft Schluß endlich selber entscheiden. Aber damit wir die Entscheidungen in ein - sagen wir mal - größtmögliches Maß an Übereinstimmung bringen, dafür brauchen wir so etwas. Es ist kein Bündnis, es ist ein Gesprächskreis hochrangiger Leute, aber nicht allzu vieler Leute.
DLF: Von Ihrem Vorgänger ist die Liberalisierung des Strommarktes entsprechend den EU-Vorgaben verwirklicht worden. Dennoch fordern viele Beteiligte bereits wieder Korrekturen an diesem veränderten Energiewirtschaftsrecht - inklusive Stromeinspeisungsgesetz. Bereiten Sie diese Novellierung vor?
Müller: Eine Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes - Teil Strom - steht für mich nicht auf der Tagesordnung.
DLF: Was dann?
Müller: Ich muß das Energiewirtschaftsgesetz noch einmal ändern, weil ich die europäische Gasrichtlinie einbauen muß. Das muß bis zum Sommer 2000 geschehen sein. Aber den Stromteil möchte ich zunächst mal unverändert lassen. Das, was die Kommunen zu recht kritisieren, das muß ich berücksichtigen, also beispielsweise, daß ihnen die Konzessionsabgabe - das sind 5 Milliarden Mark kommunaler Einnahmen - plötzlich zerbröseln könnte. Dem will ich Rechnung tragen durch Änderung der Konzessionsabgabenverordnung, so daß diese Einnahme bei den Kommunen nicht in Gefahr gerät. Dann werde ich verschiedene Dinge, wie beispielsweise die Verbändevereinbarung zur Durchleitung von Strom, stärker mit der kommunalen Seite abstimmen, und solche Dinge. Also, ein paar Sachen der Kommunen müssen berücksichtigt werden. Das erfordert aber keine Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes.
DLF: Nun noch eine Frage, die sich an die Struktur Ihres Ministeriums wendet: Vor einem halben Jahr war ja kritisiert worden von Teilen der Medien und auch von Beobachtern, Experten, daß Sie die Grundsatzabteilung, Konjunkturbeobachtung an das Finanzministerium abgeben mußten. Es war kritisiert worden, daß dadurch die neutrale Beurteilung der wirtschaftlichen Lage in Frage gestellt würde. Nun hat nach dem Abtritt des Weltökonomen Oskar Lafontaine ja sich die Situation geändert. Warum wollen Sie nun die Grundsatzabteilung nicht wieder ins Ministerium zurückholen?
Müller: Also, ich muß Ihnen sagen, daß ich bisher mit Herrn Eichel darüber überhaupt noch nicht gesprochen habe, weil wir wichtigeres zu besprechen hatten, und die Ergebnisse sehen wir jetzt an Hand der Finanzpolitik, die er verkündet. Ich frage mich, ob ich überhaupt mit ihm darüber sprechen soll, denn ich habe inzwischen eine Grundsatzabteilung neu aufgebaut. Ich vertrete wirtschaftspolitische Grundsätze und kriege ja schon den Vorwurf, daß ich sie viel zu viel vertrete usw, und wir werden unseren eigenen Jahreswirtschaftsbericht erstellen, und wir werden den - denke ich - in ein, zwei Monaten der Öffentlichkeit präsentieren.
DLF: Apropos wirtschaftliche Grundsätze: Befindet sich die rot-grüne Regierungskoalition nach Ihrer Ansicht auf dem richtigen Weg in dieser Hinsicht, oder läuft sie nicht doch Gefahr, daß sie sich - im Gegensatz zu den Vorstellungen des Bundeskanzlers und des Wirtschaftsministers - in die falsche Richtung bewegt?
Müller: Also, ich hoffe nicht und ich glaube es aber auch ehrlich gesagt nicht, weil: Schluß endlich wird jeder einsehen, daß eine Politik gegen die Wirtschaft wirklich kontraproduktiv ist, denn der Staat kann Arbeitsplätze fast nicht schaffen; sie müssen in und mit der Wirtschaft geschaffen werden - also brauchen wir die Wirtschaft als Partner. Und - das denke ich - wird die Richtschnur der Politik sein. Ansonsten sage ich Ihnen deutlich: Eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Finanzpolitik muß die Staatsfinanzen konsolidieren, gesunden. Das ist eine harte Politik. Wir werden dazu durch die Lage gezwungen, die wir übernommen haben. Das ist das größere Problem, weil das für alle unbequem ist. Aber ich glaube, das Verhältnis zur Wirtschaft der rot-grünen Regierung das wird sich völlig normalisieren. Das wird so normal, wie es vormals unter Kanzler Schmidt war. Das war auch ein sehr gutes Verhältnis, und das hat auch ein bißchen gedauert, bis es so wurde. Und dann war er ein in der Wirtschaft überaus akzeptierter Kanzler, und so wird das hier auch kommen.