Heuer: Bethlehem- das ist für viele Christen erst einmal der Geburtsort Jesu. Früher kamen ja viele Pilger und Touristen in die Stadt. Seit der zweiten Intifada, also seit drei Jahren, kommt kaum noch jemand in die Stadt hinein, übrigens auch nicht hinaus. Wie hat sich Bethlehem verändert?
Mukarker: Bethlehem ist eine verlassene und leere Stadt geworden, denn es kommen keine Pilger mehr und keine Touristen. Die Gassen sind leer, Hotels und Restaurants stehen leer, und das allerwichtigste: die Geburtskirche ist nur noch für uns Einheimische dort. Sie war sonst voller Leben, Leben aus aller Welt.
Heuer: Sie leben in Bethlehem mit Ausgangssperren. Das kann man sich in Deutschland im Jahre 2003 kaum noch vorstellen, was das konkret bedeutet. Wie beeinträchtigen denn diese Ausgangssperren Ihr Leben?
Mukarker: Sie lassen das Leben stillstehen, denn Ausgangssperre bedeutet, man darf nicht mehr aus dem Haus gehen, so auf einmal. Das heißt, in wenigen Minuten wird aus Bethlehem eine Geisterstadt: Die Kinder verschwinden von den Straßen, die Menschen sind in ihren Häusern. Das ist ein sehr unerträgliches Leben, eingesperrt zu sein im eigenen Haus. Besonders für die Kinder: Sie können nicht mehr draußen spielen, nicht in die Schule, keine Arbeit, einfach ein sehr unmenschliches Leben.
Heuer: Was würde denn passieren, wenn Sie das Haus trotz Ausgangssperre verlassen würden?
Mukarker: Man kann in Gefahr sein, erschossen zu werden. Die Soldaten sagen ja über Lautsprecher: Jeder, der sich auf die Straße begibt, begibt sich in Lebensgefahr. Es war schon oft so, dass Menschen erschossen worden sind, die die Ausgangssperre gebrochen haben.
Heuer: Wie lange dauerte so eine Ausgangssperre in der Regel?
Mukarker: Alleine im letzten Jahr waren wir von Ende März, den ganzen April bis in den Mai hinein unter Ausgangssperre, von Mitte Juni bis Mitte August, und dann wieder vom 23. November, den ganzen Dezember in den Januar hinein. Das ist immer Tag und Nacht, und dann für mehrere Tage. Dann wird sie für wenige Stunden aufgehoben, wo man dann in den zwei, drei Stunden, die man bekommt, seine Besorgungen machen kann. Dann fängt es wieder von vorne an.
Heuer: Können Sie denn überhaupt Besorgungen machen unter diesen Umständen? Gibt es in den Geschäften noch genug zu kaufen?
Mukarker: Das gibt es schon. Die Menschen haben aber nicht gearbeitet, sie haben kein Geld, um zu kaufen. Das ist alles nicht so einfach seit der Abriegelung. Das bedeutet ja nicht Ausgangssperre. Dass man nicht aus Bethlehem rausdarf, ist ja schon seit fast drei Jahren so. Da die meisten Palästinenser Tagelöhner sind, die in Israel und so nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen können, hat sich das natürlich auch auf das Leben ausgewirkt, auf das Einkommen, denn die Menschen haben kein Einkommen mehr.
Heuer: Es gibt eine Arbeitslosigkeit von annähernd 70 Prozent in den palästinensischen Gebieten. Kein Geld zu haben, bedeutet das in diesem Fall Armut, vielleicht sogar Hunger?
Mukarker: Ja, man hat uns soweit gebracht. Kein Einkommen zu haben, bedeutet Armut und für viele Hunger. Besonders die Kleinkinder leiden darunter, denn sie trifft es immer am meisten, die ganz kleinen. Man muss für sie Milch kaufen, was sehr teuer ist. Eigentlich leidet ganz Palästina unter dieser Demütigung, denn es ist einfach demütigend und entwürdigend. Wir haben viele Kinder, die Familien sind groß, man lebt in Großfamilien, und wenn ein Familienvater, also so ein Tagelöhner keine Arbeit mehr hat - denn er darf nicht mehr zu seiner Arbeit - dann kann er seiner Familie nichts mehr bringen. Das ist auch demütigend und entwürdigend.
Heuer: Wie begegnen denn die israelischen Soldaten den Bewohnern von Bethlehem? In welcher Haltung begegnen sie ihnen?
Mukarker: Wir sind keine Menschen für sie. Wären wir Menschen, wäre ein Menschenleben etwas wert. Aber ein Menschenleben ist nichts wert, auf jeden Fall ein palästinensisches nicht.
Heuer: Wie äußert sich das konkret? Können Sie da eine Situation schildern?
Mukarker: Zum Beispiel bei den Liquidierungen. Hubschrauber fliegen am Himmel und verbreiten Angst, Schrecken und Tod. Dann lassen sie eine Rakete auf ein Auto fallen, um einen gewissen Intifada-Führer, wie man sie nennt, zu töten. Oft sind dabei noch viele andere auf der Straße, normale Passanten, Frauen und Kinder, die mitgetötet werden. Man nimmt das in Kauf, denn was ist das schon, ein palästinensisches Menschenleben?
Heuer: Wenn Sie, Frau Mukarker, wie jetzt den Deutschen Ihren Alltag, Ihr Leben schildern: Wie reagieren Ihre Zuhörer darauf?
Mukarker: Sie reagieren betroffen und sagen: Oh, das haben wir alles nicht gewusst. Dann wundere ich mich und sage: Warum? Ihr habt doch eure Medien. Ihr seht das doch in den Medien. Aber es wird anders aufgenommen durch die Medien, als wenn ihnen das jemand persönlich erzählt. Manche sind auch betreten und wissen nicht, was sie sagen sollen. Manche sagen: Sie müssen wissen, wir haben ein besonderes Verhältnis zu Israel. Andere sagen: Wir haben eine besondere Beziehung zu den Juden, worauf ich wiederum sage: Was heißt das genau? In meinen Ohren kommt es an wie: Hier müssen wir leider Augen und Mund zumachen. Ich denke, wer hier in Deutschland von sich sagen will: Ich bin gegen Unrecht und gegen Menschenrechtsverletzungen, kann sich aussuchen, wo er sein will. Man demonstriert gegen den Krieg im Irak, gegen den Krieg in Afghanistan. Man demonstriert gegen Krieg bis vor unsere Haustür und dann sagt man: Hier haben wir ein besonderes Verhältnis. Meiner Meinung nach sollte das Besondere an Deutschen sein, dass sie nie wieder schweigen, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
Heuer: Frau Mukarker, Ihre Vortragsreihe endet in Kürze. Mit welchen Gefühlen reisen Sie zurück nach Bethlehem?
Mukarker: Ich reise zurück mit einem Gefühl, dass ich manche Leute sensibel gemacht habe, denn ich merke in meinen Vorträgen, dass man dann auf mich zukommt und sagt: Jetzt haben die Palästinenser für mich ein Gesicht bekommen, einfach ein menschliches Gesicht. Manche sagen: Jetzt sehen wir die Nachrichten mit anderen Augen. Ich denke, die Medien geben nicht die Realität wieder. So ist das für mich ein Gemisch aus einer Kunst, die man in Deutschland entwickelt hat, die Medien zu verbreiten. Sie lügen nicht und sagen trotzdem nicht die Wahrheit. In einem Atemzug. Deswegen finde ich es wichtig, dass ich hier hinkomme und berichte, wie wir wirklich leben oder was eine Ausgangssperre und eine Abriegelung bedeutet.
Heuer: Das lassen wir jetzt mal so stehen. Das war Faten Mukarker, Palästinenserin und Autorin des Buches "Leben zwischen Grenzen". Ich danke Ihnen für das Gespräch, Frau Mukarker, und ich wünsche Ihnen alles Gute.
Link: Interview als RealAudio