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Musical
Ungestylt abgerockt

"Rent" lief zwölf Jahre auf kleiner Bühne im Schatten des New Yorker Broadway und bekam den Pulitzerpreis. Nun kommt das sozialkritische Stück nach Hamburg auf den Kiez, ebenfalls im Schatten kommerzieller Musicals. Ein bewusster Kontrast – und sehr hörenswert.

Von Rainer Link | 06.12.2013
    Kein großes Orchester, nur eine kleine Band. Keine aufwendigen technischen Tricks, hier ist man schon froh, wenn alle Darsteller und Musiker Platz auf der Bühne finden. Die Heizungsanlage läuft aus Kostengründen nur in den Abendstunden. In den letzten Tagen wurden deshalb bei nahezu arktischen Temperaturen die Songs einstudiert.
    "Rent" ist keins dieser gestylten Glitzermusicals, wie sie sonst dem Hamburger Publikum zugemutet werden, sagt Regisseur Urs Affolter.
    "Off Musical unterscheidet sich wohl erst mal an den Finanzen. Wir haben kein Riesenbudget. Viele Leute arbeiten hier auch umsonst, muss man wirklich sagen. Off heißt auch, dass man sich mal um Themen kümmern kann im Musicalbereich, die nicht Mainstream sind, die nicht kommerziell verkauft werden können."
    Die Handlung ist keinesfalls mainstreamig. Kein weichgespültes Herz-Schmerz-Pseudodrama mit tränendrüsenbelastender Happy-End-Garantie. Es geht um Not leidende Künstler, um unbezahlbare Mieten und andere widrige Lebensumstände, die wir aus den Hinterhöfen der angesagten Metropolen kennen.
    "Also, deshalb sind wir hier mit dem Kiez als Spielort natürlich sehr sehr treffend."
    Denn auf St. Pauli tobt seit Jahren eine Verdrängung zahlungschwacher Bürger und sozial auffälliger Kiezianer zugunsten von Investoren, die sich mit Lofts, Penthouses und Luxushotels eine goldene Nase verdienen.
    "Drogen ist ein ganz großes Thema. Aids ist ein ganz großes Thema. Es wird an Aids gestorben in diesem Stück. Schwul ist ein Thema, lesbisch ist ein Thema. Obdachlosigkeit ist ein Thema, ja."
    Das Musical ist eine moderne Adaption von Puccinis Oper "La Boheme" und deren Verfilmung durch Aki Kaurismäki. Bei Puccini stirbt Hauptfigur Mimmi an Tuberkulose – heute heilbar. Die Protagonistin aus "Rent" hat andere Sorgen.
    "Also, ich bin Mimmi, Striptease-Tänzerin, HIV-positiv, drogenabhängig, und versuche eigentlich durch mein Leben zu kommen und das noch so positiv zu sehen, wie es geht, und jeden Tag zu nutzen und ihn auszukosten."
    Ganz schön viele existenzielle Problemlagen in einem einzigen Stück, könnte man einwenden und die Frage aufwerfen, ist das noch U oder schon E?
    "Ob das Unterhaltung ist? Ja, es ist ein Musical. Es ist ein Rock-Musical, das ist schon mal die große Unterscheidung. Es ist ein bisserl ein anderer Klang. Wir kämpfen jetzt gerade mit dem Sound, mit dem Soundcheck, weil die Rockband ja sehr laut ist, was Rock ja sein soll."
    Neben den rockigen Einlagen liefert "Rent" auch einschmeichelnde und eingängige Melodien; populären Chorgesang, der eher der klassischen Musical-Vorstellung folgt, aber zum Glück immer in einem aufrüttelnden Kontrast zur Rockmusik steht. Besucher erwartet ein hörenswerter Abend.
    Hamburg ist Deutschlands Hauptstadt der Musical-Aufführungen. Millionen Besucher bekommen standardisierte Einheitsware – zumeist aus der Feder von Andrew Lloyd Webber - vorgesetzt.An nahezu 365 Tagen, häufig im Zweischicht-Betrieb, öffnen und schließen sich die Tore der Musik-Paläste. Längst ist das Musicalgeschäft zu einer Domäne für Finanzinvestoren und Tourismusmanager geworden. Ein Big Business der besonders profitablen Art. "Rent" will dazu beitragen - so hoffen die Macher – das Musical als eigenständige Kunstform aus der kommerziellen Umklammerung zu befreien.