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Archiv


Musik im Recyclingmodus

Ein sixtieslastiges Album der verstorbenen Amy Winehouse, die alten Indie-Helden "The Pixies" auf Tour, junge Bands, die sich bei den Keyoard-Sounds der 80er-Jahre bedienen - dem britischen Autor und Musikkritiker Simon Reynolds ist die Retromanie der aktuellen Popmusik zu viel.

Von Christian Lehner | 31.12.2011
    Song 1 - Kitty Daisy & Lewis - Say You'll Be Mine
    "Ach, die 50er!"

    Song 2 - Cults - You Know What I Mean
    "Mhm, die 60er!"

    Song 3 - Girls - Die
    "Ahhm, die 70er!"

    Song 4 - Twin Shadow - Changes
    "Uhaaa, die 80er ...!"

    Was Sie soeben gehört haben, waren durchgängig aktuelle Produktionen junger Bands aus Großbritannien und den USA. Noch nie war die Popmusik der Vergangenheit so gegenwärtig wie heute. Noch nie haben sich so viele Stile, Perioden und Genres aneinandergeschmiegt, wie in den digitalen Spiellisten des modernen Musikkonsumenten.

    Der renommierte Popkritiker Simon Reynolds nennt dieses Phänomen "Retromania", also "Retromanie". Und so heißt auch sein viel diskutiertes Buch, das in diesem Jahr erschienen ist.
    "Revivals im Pop hat es schon immer gegeben. Der Unterschied: Heute finden sie alle gleichzeitig statt. Sie halten häufig auch länger an, als die Zeit, auf die sie sich beziehen. Nehmen Sie das 80er-Jahre-Revival. Das hat vor über 15 Jahren mit den Retro-Shows im Fernsehen begonnen. Die 80er sind aber immer noch stark präsent in der Popkultur. Und sie machen auch keine Anstalten, sich demnächst zu verabschieden."

    Wie bei den meisten Phänomenen der letzten Jahre ist das Internet nicht ganz unschuldig an der Retromanie. Das Netz ist ein schier unendlich großes Archiv der Popkultur. Obskurer Disco aus den 70er-Jahren, Funk aus Afrika, der gesamte Beatles-Katalog. Den Usern steht praktisch die gesamte Popgeschichte per Mausklick zur Verfügung und das häufig gratis. Das schlägt sich natürlich auch auf die künstlerische Praxis unserer Zeit nieder. Retro ist die Musik der Gegenwart.

    Reynolds beschreibt nun in seinem Buch die Kehrseiten der großen Internetfreiheit. Ein Kritikpunkt: Das Archiv ist total ungeordnet. Reynolds nennt es deshalb "Anarchiv" als Kurzform für "Anarchie" und Archiv". Soll heißen: Müll befindet sich neben Gold. Ohne Kontext werden ehemalige Antagonismen und unterschiedliche Geschmäcker zu einem nostalgischen Eintopf zusammengerührt. Viel schwerer wiege jedoch der Umstand, dass sich Pop mit seiner Retrofixierung vom aktuellen Zeitgeschehen verabschieden hat.

    "Popmusik war lange der Soundtrack, ja sogar eine wesentliche Triebfeder für soziale Umbrüche und politischen Protest. Wenn sich die Musik aber nur noch über ihre eigene Vergangenheit definiert, verliert sie an gesellschaftlicher Relevanz."Nehmen Sie die diesjährigen Studentenproteste und Unruhen in England. Oder die Occupy-Bewegung in den USA. Ich werde immer wieder gefragt: Was ist deren Musik? Und ich weiß darauf keine Antwort. Ja klar, Popmusik ist bei diesen sozialen Bewegungen durchaus präsent; aber mehr so als Hintergrundgeräusch. Sie ist weit entfernt von der Dringlichkeit, Energie und Inspirationskraft eines Bob Dylan oder von Punk."

    Die Helden von gestern sind es auch, die dem Nachwuchs von heute den Weg verstellen. Egal ob im Mainstream oder Alternativ-Sektor, Tonträgerhandel oder Live-Geschäft: Die Musikindustrie verdient kräftig an der Wiederauflage alter Alben oder den Welttouren immerjunger Rock'n' Roll-Veteranen. Gegen AC/DC, U2 oder Bon Jovi hat nicht einmal Lady Gaga eine Chance, wenn es um ausverkaufte Stadien geht.

    "Die Jungen haben es momentan nicht leicht. Wir leben in Zeiten knapper werdender Budgets. Die Menschen geben lieber Geld aus für Künstler, die sie bereits kennen. Ein Phänomen unserer Zeit sind Bands, die sich bloß für eine Tour wiedervereinen, um ein altes Album in voller Länge live zu spielen. Sehr viel Geld wird mit sogenannten Tribute-Bands verdient. Das sind Gruppen, die berühmte Bands imitieren wie etwa The Smiths oder Led Zeppelin. Die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, ist merklich gesunken."

    Vor allem wenn das Neue nach Altbekanntem klingt, möchte man hinzufügen. Reynolds, der die letzte Innovation des Pop in der Technokultur der 90er-Jahre verortet, sieht die Popmusik von heute im Hamsterrad gefangen. Sie dreht sich zwar, kommt aber doch nicht vorwärts. Ist Pop also eine "tote" Kunstform wie etwa die Oper?

    "Momentan sieht es tatsächlich danach aus, als hätte Pop seinen Zeichenvorrat aufgebraucht. Alles ist im Recyclingmodus oder beschäftigt sich mit der Rekombination bestehender Stile. Aber der Mensch ist ja bekanntlich erfinderisch. Vielleicht sorgt ein neuer Technologieschub für etwas frischen Wind. Aber ich denke auch, dass das Retro-Phänomen eines des Westens ist. Krisengesellschaften sehnen sich tendenzielle immer nach der Vergangenheit, der vermeintlichen Sicherheit, dem Vertrauten. Mein Tipp: Das nächste große Ding kommt nicht aus England oder den USA, sondern aus einer ganz anderen Region der Welt, Indien, Brasilien oder Afrika."

    Reynolds Thesen vom Stillstand der Popmusik haben erwartungsgemäß die Wogen hochgehen lassen. Blogger, Musiker, Popfans und Kritiker diskutierten 2011 das Buch "Retromania" wie kein Popalbum in diesem Jahr. Retro wäre eh schon immer ein Bestandteil von Pop gewesen, lautet einer der häufigsten Einwände. Man könne ein halb leeres Glas auch halb voll sehen. Die momentane Fixierung auf die Vergangenheit entspreche dann auch nur dem Wesen des Internet und somit der Zukunft und überhaupt müsse man sich vom neoliberalen Innovationsdogma im Pop lösen.

    Doch so einfach macht es sich der Kritiker nicht. Reynolds beschwert sich weniger über das Retro-Phänomen an sich, er stößt sich vielmehr an der Intensität, mit der uns Altes als neu verkauft wird. Retro ist vom Einflüsterer zur Hauptstimme des Pop geworden, so das Fazit von "Retromania".

    Ein Blick auf die aktuellen Charts gibt dem Autor recht. Die britische Soulpopsängerein Adele regierte 2011 weltweit die Hitparaden. Am Jahresende steht die im Zeichen der 50er-Jahre agierende Neo-Diva Lana del Rey auf der Nummer eins. Ob das kommende Jahr ebenfalls der Vergangenheit gehört, die Zukunft wird's weisen.

    "Retromania. Pop's Addiction to Its Own Past" ist vorerst nur auf Englisch erschienen. Es ist das Popbuch des Jahres.