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Musik
Pop-Geschichte mit Zukunft

Für den Musikjournalisten Karl Bruckmaier ist Pop "die Ablehnung eines zu erreichenden Endzustands". In seinem Buch "The Story of Pop" beginnt er seine Reise durch die Pop-Geschichte im 9. Jahrhundert in Córdoba und hält schließlich einen optimistischen Ausblick auf die Zukunft des Genres fest.

Von Thomas Palzer | 12.11.2014
    Eine grüne Kassette aus den 1970er-Jahren liegt auf einem Terrazzo-Steinboden.
    Ob mit oder ohne Musikbegleitung ist das Buch von Karl Bruckmaier lesenswert. (dpa - picture alliance / Maximilian Schönherr)
    Wer die Matrix des Pop begreifen möchte, der muss zunächst an den Bankert denken - an denjenigen, der irregulär auf der Schlafbank des Dienstpersonals gezeugt wurde statt regulär im Ehebett. Der Bankert ist ein Bastard, ein Kreole, ein die Klassengrenze missachtender Klon. Und das gilt auch für den Pop, der das uneheliche Kind aus der Verbindung zwischen Afrika und Europa ist, Rhythmus und Harmonie, Trommel und Melos, Herr und Sklave, schwarz und weiß. Natürlich ist Pop viel mehr als das - zumindest seinen Apologeten nach -, aber an seinem Anfang steht der Konflikt. Aus dem Konflikt macht Pop eine Kultur. Im Jargon gesprochen: Am Anfang stehen Mix und Transgression und die Überquerung des Atlantiks.
    Der Münchner Autor und Hörspielregisseur Karl Bruckmaier verlegt die Geburt des Pop in "The Story of Pop", wie sein in diesem Frühjahr publiziertes Werk heißt, auf das 9. Jahrhundert, wo ein dunkelhäutiger arabischer Oud- oder Lauten-Virtuose am Hof des Kalifen von Córdoba persische und indische Klänge nach Spanien importiert. Gewissermaßen der Ur-Mix, welcher als Proto-Pop die Matrix geschaffen hat für alle denkbaren Schallaufnahmen danach, die unter die Rubrik Pop gerechnet werden dürfen.
    Überträgt man Bruckmaiers Formel auf die Gegenwart, erkennen wir, was Pop 1.000 Jahre nach dem Einfall der Mauren ins christliche Europa und 150 Jahre nach dem Ende des Sklavenhandels mit seinen rund zwölf Millionen in die Neue Welt verschleppten Afrikanern alles angerichtet hat. Auf seine Weise hat Pop die Welt geeint, denn hinter ihm steckt die erste Kulturtechnik, deren Integrationsfähigkeit groß genug ist, um das Prädikat "global" zu verdienen. Alles verleibt Pop sich ein und wird dabei selbst jedes Mal zu etwas anderem. Pop ist aber nicht nur das Losungswort, auf das seit dem Zweiten Weltkrieg die Jugend der Welt verpflichtet wird, Pop selbst hat sich zu einem eigenen Kosmos ausgewachsen: zu Pop-Kultur, Pop-Art, Pop-Literatur, Pop-Theorie.
    "Pop ist vor allem eine Behauptung. Eine Behauptung von Seinszuständen oder von dem, was sein könnte oder sein wird."
    Fürst der deutschen Pop-Theorie Diedrich Diederichsen
    Soviel zur Theorie. Als Fürst der deutschen Pop-Theorie gilt Diedrich Diederichsen, der ebenfalls im Frühjahr ein Buch zu Pop herausgebracht hat, das den stwaffinen Titel "Über Pop-Musik" trägt. "Über Pop-Musik" ist kritische Pop-Theorie im Sinne Adornos und damit Konkurrenzprodukt zu Bruckmaiers "The Story of Pop", dessen Autor anders als Diederichsen weniger versessen darauf ist, Pop mit Theorie zu adeln als den Adel im Säurebad von Konkretion und individuellem Erleben aufzulösen. Beide Autoren sind Mitte der 1950er geboren, und man darf vermuten, dass Diederichsen von den regenbogenfarbenen und buchstabenfrommen Edition-Suhrkamp-Bändchen geprägt worden ist, Bruckmaier aber - und das ist gesichertes Wissen - von Perry Rhodan und dem mit der Serie verbundenen zukunftsfrohen Adventismus.
    "Aufgeregt hat mich stets das Theorie-Herrenmenschentum, das sich im Pop ab 1980 leider breitgemacht hat, dieses Post-irgendwas-Gezeter, dieses K-Gruppentum, dieses protzen mit französischer Philosophie und afroamerikanischem 'Je ne sais quoi' und dieses Etwas, das sich widerlicherweise Pop-Stalinismus genannt hat. Ich wollte immer so einfach wie möglich schwierige Zusammenhänge oder Gefühlszustände benennen, und das ist wahrlich nicht immer geglückt, aber manchmal dann doch und damit sind wie wieder bei diesem Buch."
    Wiege des Pop
    So ist es. Leitmotiv für Bruckmaiers persönliche Geschichte des Pop ist die Trommel. Als blinder Passagier gelangt sie auf den Sklavenschiffen in die Neue Welt. Die katholische Kirche ächtet sie. Aber es ist die Trommel, die die Schwarzen in die Lage versetzt, das bittere Dasein als Sklave zu ertragen und unerkannt, aber vor aller Augen die eigenen Götter zu preisen und die Community der Diaspora mit Leben zu erfüllen. Musik wird zum Überlebensmittel - hiding in plain sight zu einer Kulturtechnik, die das offene Geheimnis pflegt.
    Als bald darauf die nach unserer Zeitrechnung 1800 erreicht sind, wird es unter den Rhythmen der Trommeln so weit kommen, dass in einer Stadt wie New Orleans, in der zu dieser Zeit 2.000 Weiße zusammen mit 800 freien Schwarzen und 2.000 Sklaven leben, Grenzen überschritten werden und sich aus Freien und Sklaven, Schwarzen und Weißen der Hybrid Pop bildet. New Orleans darf als die Wiege des Pop betrachtet werden, Córdoba als die des Proto-Pop.
    "Hier tanzen weiße Geschäftsleute und Gutsbesitzer mit ihren kreolischen Mätressen, für die sie Stadthäuser und Dienerschaft vorhalten, hier tanzen freigelassene Ex-Sklaven, hier tanzen die aus Haiti geflohenen Franzosen und Besucher aus dem nahen Havanna, hier tanzen Spieler und Huren, hier tanzen Offiziere der US-Armee und Schiffsbesatzungen aus aller Welt."
    Zwischen 1840 und 1870 werden in den amerikanischen Städten sogenannte Minstrel-Shows populär. Weiße Kerle schmieren sich Schuhwichse ins Gesicht und geben drollige Lieder zum Besten. Aus der Trommel wird auf der Bühne ein Stereotyp für den "Schwarzen" - ebenso wie wulstige Lippen und Tollpatschigkeit. Es gibt sogar Schwarze, die in den Minstrels den "Schwarzen" nachäffen. Der Signifying Monkey wertet ironisch um, was das weiße Amerika ihm zuschreibt. Der Schwarze, der sein eigenes Gesicht mit schwarzer Schuhcreme beschmiert, verdeckt, was offensichtlich ist: hiding in plain sight. Es ist die Technik des Ausweichens und Widerstands, die für Pop insgesamt paradigmatisch ist. Affirmativ und subversiv zugleich zu sein, erweist sich jedenfalls als probates Mittel, um in Zeiten von Ku-Klux-Klan und Lynchjustiz die Sympathien der Leute "umzuwerten" und für sich zu gewinnen.
    "Aber selbst in der frühen Zeit der Minstrels sind nur die allerwenigsten Protagonisten dieser kleinen Revuen von schwarzer Hautfarbe, obwohl das Publikum dort eigentlich auch hingeht, um auf gewisse Weise seine Sympathie, sein Mitleiden mit Afroamerika auszudrücken. Die Idee, dass Sklaverei verboten gehört, findet in der westlichen Welt immer mehr Anhänger; man wird Abolitionist, wie man heute vielleicht den veganen Buddhisten in sich entdeckt."
    Vom Pop begeistert
    "The Story of Pop" ist ein schöner, kenntnisreicher, auf schönes Papier und in schönes schwarzes Leinen gebundener Text, welcher das, was er beschreibt, gleich auf sich selbst anwendet. Er ist von seinem Gegenstand begeistert und ihm gegenüber unbedingt affirmativ, sodass einem zuweilen, wenn auch mit Sympathie, das Gefühl beschleicht, es mit dem Buch eines SPD-Politikers zu tun zu haben, der über SPD-Politik referiert. Die Machart folgt eben genau der Kulturtechnik, die auf gut 300 Seiten in einem mühelosen Flow ausgebreitet wird - ab und an in einem Ton, der den Leser gleich mit eingemeindet.
    "Setzen Sie die 3D-Brille auf und bleiben Sie dran."
    "The Story of Pop" erzählt von den Praktiken und Phänomenen des US-Alltags vornehmlich der vergangenen 200 Jahre; von Unterdrückung, Subversion, Umwidmung; von Ausbeutung und Revolte; von Kolonialismus, Migration und Diaspora; von den Veränderungen im Gefühlsleben, die eine plötzlich technisch machbare Repetition ermöglicht; vom Prager Frühling und den 68ern, von Punk und der immerwährenden Hoffnung auf ein besseres Morgen. Pop ist für Bruckmaier: "die Ablehnung eines zu erreichenden Endzustands. So habe ich es interpretiert, weil ich wollte, dass das eine positive Geschichte wird, also eine Geschichte, die in die Zukunft weist und nicht ein Museum aufräumt und Schilder an die Exponate hängt, sondern die auch ein Versprechen beinhaltet, das über das Museale, das Kanonhafte hinausweisen soll."
    Die adventistische Stimmung, die Pop einmal eingeschrieben war und vielleicht immer noch ist und deren Advent in der ewigen Übersteigung seiner selbst liegt, bildet interessanterweise das kulturelle Gegenstück zu einem Prozess, aus dem Peter Sloterdijk jüngst "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" hat hervorgehen lassen: Es ist der seit Beginn der Neuzeit sich akzelerierende Prozess fortwährender Selbstermächtigung, Emanzipation, Expansion und Entgrenzung. Die Dark Side of Pop liegt im Zynismus ihres vermeintlich aufgeklärten Pragmatismus. Es ist hier nicht der richtige Ort, um darauf näher einzugehen.
    Bruckmaier zieht in puncto Pop Bilanz
    Bruckmaiers Buch ist großer Lesegenuss, ob mit oder ohne Musikbegleitung. Es gehört zu einer Reihe von Publikationen, in denen in puncto Pop Bilanz gezogen wird - von einer Generation, für die Pop im Nachkriegseuropa den eigenen Lebensfunken in die späteren Jahre zu retten vermochte: "Retromania" von Simon Reynolds, Martin Büssers wiederaufgelegtes "On the Wild Side". Die wahre Geschichte der Popmusik, Diedrich Diedrichsens "Über Pop-Musik" und etliches anderes. Am nachdrücklichsten von allen genannten Werken hält Bruckmaier an dem optimistischen Ausblick auf die Zukunft des Pop fest. Dabei sind die ganzen Bücher, die in relativ dichter zeitlicher Versetzung die Summe ziehen, ihrerseits Zeugnis dafür, dass Pop im Begriff steht, zur Geschichte zu werden - vermutlich, weil Pop als Kulturtechnik unter den Insignien der Digitalisierung und damit einhergehenden Entsubjektivierung und Erfahrungsarmut drauf und dran ist, die eigene Relevanz und Geschichtlichkeit zu verlieren. Pop erwächst aus Leid und seiner kreativen Gestaltung; alles andere ist bloße Kognition, Kombination und Rekombination. Anders gesagt: Es stimmt nicht, dass alles schon ausgemacht sei und ready made.
    Karl Bruckmaier: "The Story of Pop", Murmann Verlag, 2014, 352 Seiten, 29,99 Euro.