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Musikalischer Schmelztiegel
Kolumbiens karibische Küstenstadt Cartagena

Von Philipp Eins |
    Festival International de Música, Kolumbien, Cartagena
    Festival International de Música in Cartagena (Festival International de Música)
    Wenn sich die kühlende Dämmerung über die kolumbianische Küstenstadt Cartagena legt, heizt sich die Stimmung in den Straßen der Altstadt erst richtig auf: Schon von Weitem ertönt die Salsa-Musik aus der Bar Donde Fidel, gelegen zwischen dem Plaza De La Aduana und der historischen Stadtmauer. Vor dem Laden tanzen Pärchen mitten auf der Straße zu den schnellen Rhythmen. Passanten schauen zu und trinken eisgekühltes Bier aus der Flasche.
    Je tiefer man ins Zentrum vordringt, desto belebter werden die Straßen. Pferdekutschen, Fahrradfahrer und Fußgänger drängen durch die engen Gassen zum Plaza de Bolívar, dem Mittelpunkt der Stadt. Zwischen Palmen und Gummibäumen warten Händler mit bunt geschmückten Handkarren auf Kundschaft. Die Tische vor den Restaurants in den zweistöckigen, pastellfarbenen Kolonialbauten sind bis auf den letzten Platz belegt. Die Luft ist stickig und schwül.
    Seinem Ursprung nach ist Cartagena ein Handelszentrum: Im Jahr 1533 gegründet gilt die Hafenstadt als eine der ersten spanischen Siedlungen im Norden Südamerikas. Zweimal jährlich legte die spanische Flotte an, um Waffen, Werkzeug und Textilien abzuladen und aus den Kolonien wertvolle Rohstoffe wie Gold, Silber und Edelsteine zurück in die europäische Heimat zu bringen. Heute ist Cartagena als eine der am besten erhaltenen Kolonialstädte der Region bekannt – und zieht auch Touristen aus Europa und den USA an.
    Viele kommen vor allem wegen der lebendigen und vielseitigen Musikszene - nicht nur dem Salsa, sondern zum Beispiel auch dem jährlich stattfindende "Festival International de Música". Mit 18.000 Besuchern ist es eines der bedeutendsten klassischen Festivals in Kolumbien. Werke von Ravel, Strawinsky und Debussy stehen hier ganz selbstverständlich neben lateinamerikanischer Musik auf dem Programm.
    Zentrum des Festivals ist das "Teatro Heredia", gelegen in einem vornehmen Viertel der nördlichen Altstadt. Das großzügige, durch eine gelbe Klinkermauer geschützte Anwesen des kürzlich verstorbenen Literaturnobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez liegt nur wenige Schritte entfernt. Die schmalen Vorgärten der umliegenden Kolonialhäuser sind mit Palmen und tropisch-bunten Blumen bepflanzt.
    Mischung aus lateinamerikanischer Pop-Musik und europäischer Klassik
    Hier treffe ich den 28-jährigen Kontrabassisten Mario Criales aus der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Mit seinem dreiköpfigen "Agile Ensemble" bewegt er sich musikalisch an der Grenze zwischen lateinamerikanischen Rhythmen und europäischer Klassik:
    "Als ich mich entschied, Kontrabass zu lernen, musste ich mich auf die europäische Musik einlassen. Während des Studiums habe ich mich dem Instrument genähert wie einer fremden Sprache - und in den Sonaten europäischer Komponisten schließlich dessen Potenzial entdeckt. Im Herzen aber bin ich noch immer ein kolumbianischer Musiker. Beide Welten möchte ich in meiner Arbeit vereinen!"
    Die Liebe zur Musik kam durch seinen Vater, einem Bassgitarristen, der vor allem lateinamerikanischen Jazz und Salsa spielte. Für den Kontrabass entschied sich Mario Criales schließlich wegen der Vielseitigkeit des Instruments, erzählt er: Es sei in allen musikalischen Stilen zu Hause. Für die Kolumbianer sei ein solcher Mix, wie er ihn mit dem Agile Ensemble schafft, besonders reizvoll:
    "Ich glaube, das ist der Grund, weshalb sich immer mehr Menschen für dieses Festival in Cartagena interessieren: Die Kolumbianer mögen diese Mischung aus populärer lateinamerikanischer Musik und europäischer Klassik. Sie sind sehr verwurzelt mit ihrer eigenen Kultur. Diese Rhythmen mit europäischer Musik zu mischen – das ist ein Erfolgsgeheimnis!"
    Ein ganz anderer Sound erwartet die Besucher in Getsemani. Das einst zwielichtige und heruntergekommene Viertel südlich der Altstadt ist heute ein lebendiges Quartier mit kleinen Restaurants, Handwerksbetrieben und Nachtklubs. Der Weg durch Getsemani führt durch enge Gassen zur Kirche am Plaza de la Trinidad, in deren Schatten einige Anwohner Schutz vor der drückenden Mittagshitze suchen. Die Fassaden der umliegenden Häuser sind himmelblau, lindgrün oder sonnenblumengelb gestrichen. Der abgeplatzte Putz einer verlassenen Ruine ist mit Graffitis übermalt.
    Obwohl die Zeit von Getsemani als Armenviertel Cartagenas vorbei ist - der Lebensstandard ist noch immer niedriger als in der Altstadt. Viele der Anwohner sind Afrokolumbianer. Und wenn die Sonne hinter der azurblauen Karibik versunken ist und die Klubs und Nachtbars öffnen, wird in Getsemani ihre Musik gespielt: der Champeta.
    Einer der besten Orte, um diese schnelle Fusion aus Salsa, Jibaro und Reggae zu hören, ist der Bazurto Social Club im Norden von Getsemani. Auf den ersten Blick erinnert der Club an einen Schnellimbiss: Vor der Bühne, auf der neben dem Sänger kaum noch Platz für Schlagzeug und Keyboard ist, drängen sich die Gäste um weiße Plastiktische. Bunte Wimpel, Ventilatoren und eine Erdbeere aus Papier hängen von der Decke. Getrunken wird massenhaft Tequila, der typisch mexikanische Agaven-Brand, zu dem Salz und geschnittene Zitronenscheiben gereicht werden. Je lauter die Musik, desto besser die Stimmung: Schon bald hält es niemanden mehr auf den Stühlen.
    Wurzeln der Champeta-Kultur reichen bis in 20er-Jahre
    Der Andrang ist an diesem Abend besonders groß: Alle wollen zur Musik von Charles King tanzen, der mit seiner Band im Bazurto Social Club spielt. Der 47-Jährige mit den hüftlangen Rastazöpfen ist einer der bekanntesten Vertreter des Champeta, der in der Region um Cartagena entstanden ist. Schon in der Kindheit wurde die Musik zu seiner Leidenschaft, erzählt Charles King nach dem Konzert:
    "In dem Dorf Palenque de San Basilio, in dem ich aufgewachsen bin, gibt es keine Fernseher - in vielen Häusern gibt es noch nicht einmal elektrisches Licht! Um dir die Zeit zu vertreiben, bleibt dir als Kind gar nichts anderes übrig, als Musik zu machen. Als ich 17 Jahre alt war, habe ich zum ersten Mal in einer Band mitgespielt. Damit hatte ich meine ersten Erfolge!"
    Die Wurzeln der Champeta-Kultur reichen bis in die 1920er-Jahre zurück. Ursprünglich bezeichnet der Begriff ein kurzes, leicht gebogenes Messer, dass im Norden Kolumbiens als Haushaltsgerät, aber auch als Waffe benutzt wurde. Seit wenigen Jahrzehnten wird damit auch die Musik der schwarzen Bevölkerung in Kolumbien verbunden.
    "Der Champeta bewahrt das, was von der afrikanischen Kultur in Kolumbien übrig geblieben ist. Es ist eine Mischung aus Gitarrenmusik und schnellen Rhythmen. Die erste Band, die diesen Stil gespielt hat, waren Ane Swing in den 80er-Jahren. Sie haben den Champeta erfunden!"
    Ähnlich wie ursprünglich der Hip-Hop in den USA ist der Champeta nicht nur ein Musikstil, sondern auch eine politische Bewegung. In ihren Songs wehren sich Künstler wie Charles King gegen Misshandlung, Ausbeutung und Diskriminierung der Schwarzen. Bis heute haben viele von ihnen in Kolumbien darunter zu leiden:
    "Die Champeta-Musik hat immer auch eine wichtige politische Botschaft. In meinen Songs geht es oft um den Rassismus, dem viele Afrokolumbianer jeden Tag ausgesetzt sind. Wir werden von den Politikern oft vergessen: Unsere Dörfer verfallen, es gibt kein Geld für Schulen. Viele von uns leben in großer Armut. Darüber singe ich."
    Wegen seiner kritischen Texte wurde Charles King schon einmal von einem Festival ausgeladen. Über die Landesgrenzen hinaus steigt dagegen das Interesse für seine Musik: Bis nach New York haben ihn seine Auftritte gebracht. Es mache ihn froh, sagt er, der Welt auf diesem Weg ein Stück seiner kolumbianischen Heimat zu zeigen.