Donnerstag, 28. März 2024

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Musikalischer Stierkampf in Paris
Calixto Bieito inszeniert "Carmen"

Der katalanische Regisseur Calixto Bieito kennt sich mit dem "Carmen"-Stoff bestens aus. Bereits 2004 inszenierte er Bizets Oper in Antwerpen. Jetzt bringt er den Klassiker erneut auf die Bühne - in Paris. Doch treffsicher und schön dies alles ist - es beschleicht einen doch ein Gefühl des Altbekannten.

Von Frieder Reininghaus | 11.03.2017
    Der spanische Opernregisseur Calixto Bieito; Aufnahme vom Januar 2016
    Der spanische Opernregisseur Calixto Bieito im Januar 2016. (picture alliance / dpa)
    Es ist die alte Geschichte, von der einst der Regisseur Walter Felsenstein meinte, dass sie im Grunde sehr einfach sei: Michaela, die treue Seele vom Lande, liebt den Sergeanten Don José, der sich in Sevilla heillos in die Zigeunerin Carmen verliebt und daher aus der Spur läuft; Carmen aber liebt den Toreador Escamillo wie keinen anderen – und dieser sich selbst. Calixto Bieito versetzte die Handlung wurde lediglich vom 19. Jahrhundert in die Zeit, als die Franco-Diktatur in ihren letzten Zügen lag. Aber gerade das belässt ihr ja nostalgisches Aroma.
    Das spanische Ambiente und Accessoire wurde auf ein Minimum reduziert: ein Telefon-Häuschen und eine Stange mit der rot-gelb-roten Fahne deuten den Platz vor Sevillas legendärer Tabakmanufaktur an.* In der großen Leere wird phantastisch gesungen: Roberto Alagna, wiewohl als indisponiert angekündigt, trieb das naive Tenorheldentum und den Eifersuchtsleidensdruck des Don José auf einen einsamen Gipfel. Mit Clémentine Margaine in der Titelpartie trat ihm und dem sehr prominent besetzten Auditorium die geballte Wucht des weiblichen Selbstbestimmungswillens entgegen (mit höchster Passgenauigkeit der Stimmführung!) – und mit Roberto Tagliavini ein Stierkämpfer und Siegertyp.
    Schon das erste Erscheinen dieses Escamillo in einer der grandiosesten Ensemble-Szene der Operngeschichte macht klar, dass José Alagna auf der Verliererstraße enden muss.
    Überhaupt spielt alles im Offenen, im Freien – zum Beispiel der eigentlich in einer Kaschemme angesiedelte Aufbruch von Carmen und José zu einer "richtigen" Beziehung. Auch der der Sinti oder Roma zur nächsten großen Schmuggelaktion: Rings um einen Benz-Oldtimer an einem Parkplatz. Für das große Zigeunertreffen auf Bergeshöhen kommen noch ein halbes Dutzend Daimler-Fahrzeuge ähnlichen Typs dazu.
    Dort oben zeigt sich auch der Osborne-Stier. Die Riesenreklame fällt mit einem bedrohlichen Schlag vornüber in Richtung des Orchesters, das unter der zugleich umsichtigen und agilen Regie von Bertrand de Billy mit eben jenem Schlag die Stierkampf-Musik einsetzen lässt.
    Keine künstlerische Weiterentwicklung
    So plausibel, treffsicher und schön dies alles ist: Man hat es alles schon genau so gesehen – zuerst vermutlich in Antwerpen 2004. Seit damals gab und gibt es keine künstlerische Weiterentwicklung oder gar einen Neuansatz: Zu erwarten war ja eine Produktion, die einiges von dem berücksichtigt, was sich seit Beginn dieses Jahrhunderts auf den Feldern des Schmuggels, der Migration und des Umgangs mit der kulturindustriell ausgebeuteten Folklore getan hat.
    Dass es sich in Paris um eine "Nouvelle Production" handelt, ist die allerdreisteste Werbe-Lüge (und stellt ein erhebliches Wirtschaftsdelikt dar). Aber sie enthüllt die tiefere Wahrheit, dass nun auch die Inszenierungen aus den Pionierjahren des Regisseurstheaters "historisch" geworden sind. Man kann sie unbesorgt zum "Weltkulturerbe erklären. Sie haben ihre historische Mission erfüllt.