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Musiker Nic Cester
Der Aussteiger

Er war Frontmann der australischen Rockband Jet, verkaufte Millionen Alben und schmiss hin. Ende 2015 griff Nic Cester aber wieder zur Gitarre und schrieb neue Stücke. Sein Solodebüt "Sugar Rush" hat weniger mit Stadionrock zu tun als mit Psychedelia und Soul. Porträt eines gereiften Künstlers.

Von Marcel Anders | 11.02.2018
    Nic Cester, im Hintergrund ein Gemälde
    Nic Cester (Marc Wilkinson)
    Diese Sendung finden Sie nach Ausstrahlung sieben Tage in unserer Mediathek.
    Musik: "Move On"
    Berlin im November 2017: Nic Cester besucht die Hauptstadt, um über sein Solo-Debüt "Sugar Rush" zu reden. Doch früh aufstehen ist nicht sein Ding. Es ist zehn Uhr morgens und der 38-Jährige wirkt müde und verkatert. Auch drei Tassen Kaffee ändern daran wenig.
    Aber er bemüht sich zu erklären, was Kritiker und Fans nie verstanden haben. Wie man eine erfolgreiche Rock-Band, wie es Jet Anfang der 2000er war, einfach so hinschmeißen kann. Wie man alles, was man sich in jahrelanger Arbeit aufgebaut hat, so mit Füßen treten kann. Wie man regelrecht abtaucht und ein neues Leben fernab vom Rockzirkus beginnt.
    Nic Cester hat all das getan. Und: Der gebürtige Australier hat sich einen imposanten Bart wachsen lassen, Sprachen gelernt, die Welt bereist und sich selbst gefunden. Heute ist er Singer/Songwriter und Vorbild für alle Aussteiger.
    "Während meiner Zeit bei Jet habe ich mich musikalisch, intellektuell und emotional kaum weiterentwickelt. Deshalb musste ich da raus – weil ich mich verändern wollte und etwas Neues brauchte. Ich fühlte mich regelrecht gefangen in diesem ewigen Kreis aus touren, streiten, trinken und Drogen nehmen. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich zehn Jahre lang 16 gewesen. Im Ernst: Ich kam mir vor wie Dorian Gray."
    Musik: "Eyes On The Horizon"
    Down Under
    Melbourne. Die südlichste Stadt Australiens und die zweitgrößte Metropole in Down Under. Hier leben über vier Millionen Menschen, deren Vorfahren aus allen Teilen der Welt stammen. Im Falle von Nicholas John Cester, Jahrgang 1979, sind die Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg aus Norditalien eingewandert.
    Nic selbst lernt früh Gitarre. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Chris Schlagzeug. Beide sind begeisterte Musikfans, gründen schon in der High School erste Bands und stehen auf die Beatles, Stones, AC/DC und Eric Clapton. Auf erdige, handgemachte Musik.
    "Mein Lieblingsgitarrenalbum ist von John Mayall und den Blues Breakers - das mit Eric Clapton auf dem Cover, wie er einen Beano-Comic liest. Darauf findet sich das vielleicht beste Gitarrenspiel aller Zeiten. Zu einer Zeit, als Clapton gerade die Yardbirds verlassen hatte, weil sie ihm zu poppig waren - und er ein Blues-Purist war. Da traf er John Mayall, und angeblich hat der ihm Sachen gebracht, die Clapton nie zuvor gehört hatte. Das merkt man auch seinem Spiel - er klingt, als würde er regelrecht in Flammen stehen. Und zu dieser Zeit hat er auch neue Wege entdeckt, um Gitarren bei hoher Lautstärke aufzunehmen. Mit einem Marshall-Verstärker, der noch ein Prototyp war. Nämlich dem Blues Breaker. Das Album wurde also auf eine umwerfende Art aufgenommen und auf eine noch bessere Art eingespielt. Es ist etwas Besonderes."
    Nic Cesters Begeisterung lässt nur einen Berufswunsch zu: Musiker werden und seinen Idolen nacheifern. Deshalb jobbt er tagsüber als Gabelstapelfahrer in der Gewürzfabrik seines Vaters - nachts schreibt er Songs und taucht in die lokale Club-Szene ein.
    2001 gründet er eine Band mit Bruder Chris, dem Gitarristen Cameron Muncey und Bassist Doug Armstrong, der später durch Mark Wilson ersetzt wird. Als Namen wählt man Jet, weil er kurz, prägnant und griffig ist – und sich, so Nic, gut auf Plakaten macht.
    Zunächst stoßen ihr dreckiger Rock, der ungewaschene Look und die schnodderige Art aber auf wenig Begeisterung. Jet geben unzählige Konzerte in winzigen Bars und Clubs und werden als AC/DC- und Ramones-Epigonen belächelt.
    2002 veröffentlichen sie die "Dirty Sweet"-EP - in einer selbstfinanzierten Auflage von 1000 Exemplaren. Der Song "Take It Or Leave It" bekommt wider Erwarten Airplay und wird auch in England und den USA gehört.
    Musik: Jet – "Take It Or Leave It"
    Superstars
    "Take It Or Leave It" erweist sich für die Band als Glücksgriff: Das New Yorker Label "Elektra", Heimat von Queen, AC/DC und den Doors, erkennt in ihnen eine alternative Rock-Formation im Sinne der White Stripes, Vines oder Strokes, die die Charts dieser Zeit dominieren.
    Jet unterscheiben einen lukrativen Plattenvertrag, legen ihre EP neu auf und gehen auf Welttournee – mit über 200 Shows und Auftritten im Vorprogramm der Rolling Stones. Dann folgt das erste Album: "Get Born".
    Rauer, ruppiger Rock, rotzfreche Texte und ein Sänger mit Reibeisenstimme: Das Jet-Debüt schlägt ein wie eine Bombe und verkauft sich 3,5 Millionen Mal. Jet werden über Nacht zu Rockstars. Die Single "Are You Gonna Be My Girl" wird zur Erkennungsmelodie, taucht in Filmen, TV-Serien und in der Werbung für den MP3-Player eines US-amerikanischen Technologieunternehmens auf.
    Jet verdienen Millionen, aber ernten auch scharfe Kritik – nämlich Leichengräber der Musikindustrie zu sein. Ein Vorwurf, den Nic Cester entschieden zurückweist.
    "Der technische Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Er ist unvermeidlich. Und ich denke auch nicht, dass man sich dagegen wehren sollte. Man sollte ihn vielmehr umarmen - und bemüht sein, neue und interessante Wege zu finden. Wobei sich die Musik der Technik der jeweiligen Zeit anpasst. Von LPs über CDs bis zu MP3s – es gibt immer Wege, diese Dinge auf kreative, interessante Weise zu nutzen. Und die Entwicklung lässt sich eh nicht verhindern – warum es also überhaupt erst versuchen?"
    Die Gleichgültigkeit ist nicht gespielt. 2003/2004 schweben Jet über den Dingen. Sie eilen von Erfolg zu Erfolg, werden mit Auszeichnungen und Preisen überhäuft, sind permanent unterwegs und die Band der Stunde – die größten Rockstars der frühen 2000er.
    "Wir wussten, was wir taten, und haben jede Minute genossen. Wir waren verrückt und dumm - aber in erster Linie jung. Also fast noch Kinder. Und ich würde es sofort wieder tun. Denn wir waren die beste Party-Band der Welt – mit monumentalen Besäufnissen. Da konnte keiner mithalten."
    Musik: Jet - "Are You Gonna Be My Girl"
    Der Anfang vom Ende
    Der große Erfolg fordert seinen Tribut: Die Band ist müde und erschöpft, macht aber trotzdem weiter. Mal im Vorprogramm von Oasis. Mal als Co-Headliner mit den Vines. Es kommt zu heftigen Alkohol- und Drogenexzessen, aber auch zu privaten Tragödien. John Cester, der Vater von Chris und Nic, stirbt an Krebs.
    Doch den Brüdern bleibt wenig Zeit für Trauer. Das Label will einen Nachfolger zu "Get Born", setzt die Band gewaltig unter Druck und versucht, ihnen Helfer zur Seite zu stellen. Für Nic ein Affront.
    "Sie wollten, dass wir Stücke mit einem Idioten schreiben, der sonst mit Jason Mraz arbeitet. Und unsere Antwort war: ´Wenn ihr das ernst meint, habt ihr offensichtlich keine Ahnung, was für eine Band wir sind. Dann sollten wir uns besser trennen.´ Denn es ist wirklich so, dass Plattenfirmen heutzutage von ziemlichen Idioten geleitet werden. Deshalb ist es kein Wunder, dass es der Industrie so schlecht geht. In Amerika arbeiten da vor allem Leute, die eher auf Golf als auf Musik stehen."
    Als Folge des Disputs wechseln Jet die Plattenfirma und schlingern dennoch in eine Krise. Sie verwerfen die Aufnahmen aus mehreren Sessions, weil sie mit dem Material unzufrieden sind. Und sie streiten heftiger denn je.
    Erst im September 2006 veröffentlichen sie "Shine On". Das Album mit dem schlichten Schwarz/Weiß-Cover bekommt zwiespältige Kritiken, weil es keine Weiterentwicklung zum Debüt darstellt. Auch in der Gunst des Publikums fällt es durch. Laut Nic keine Überraschung.
    "Es gab eine Menge Gründe, warum das Album nicht so gelaufen ist, wie erwartet. Ich meine, wie sollst du enthusiastische Rock-Songs schreiben, wenn dein Vater gerade mit 44 Jahren an Krebs gestorben ist? Das geht einfach nicht. Und dieser riesige Druck, mit etwas noch Größerem aufzuwarten als beim letzten Mal, war geradezu lächerlich."
    Musik: JET - "Put Your Money Where Your Mouth Is"
    "Put Your Money Where Your Mouth Is" - die erste von vier Singles aus dem zweiten Album "Shine On". Aber die einzige, die halbwegs erfolgreich ist.
    Der Karriere-Knick setzt der Band enorm zu – auch, wenn sie weitertourt, als wäre nichts passiert. Doch dann kollabiert Nic Cester auf der Bühne, muss sich an den Stimmbändern operieren lassen und braucht eine Auszeit.
    Jet wechseln erneut die Plattenfirma und machen sich ans nächste Album. Doch die Aufnahmen zu "Shaka Rock" ziehen sich ewig hin. Zwischendurch ein kurzes Spaßprojekt. Eine Neuauflage von "The Wild One" - an der Seite von Iggy Pop.
    "Der erste australische Rock´n´Roll-Sänger war ein Typ namens Johnny O´Keefe - unser Gegenstück zum amerikanischen Big Bopper. Er hatte diesen Song ´The Wild One´, der ihn zur Ikone machte. Iggy Pop hat ihn in den 80ern gecovert. Und aus Anlass seines 50-jährigen Dienstjubiläums hieß es, ob wir uns mit Iggy zusammentun und eine neue Version aufnehmen wollen. Worauf wir sofort eingestiegen sind. Es war ein großer Spaß – bis Iggy ein gemeinsames Mittagessen in einem kubanischen Restaurant in Miami vorschlug. Das war das schlimmste Essen, das ich je hatte. Natürlich hat er nichts bestellt – außer einem Protein-Shake."
    Musik: JET & IGGY POP – "Wild One"
    Viel mehr Spaß haben Jet in den nächsten Jahren nicht: "Shaka Rock", das im August 2009 erscheint, ist ein kommerzieller Flop – obwohl es eine Band zeigt, die musikalisch enorm gewachsen ist, neue Einflüsse und Anleihen aufweist, und mit einer erstklassigen Produktion glänzt.
    Musik: The Clash "Beat On Repeat"
    Musik: "She´s A Genius"
    Nach kurzen Tourneen im Vorprogramm von Green Day und Powderfinger ist Schluss. Im März 2012 verkünden Jet ihre Trennung.
    Die Selbstfindung
    Zu diesem Zeitpunkt ist Nic Cester längst abgetaucht. Mit seiner Freundin, der Anwältin Pia Mc Geoch, bereist er Länder, von denen er bislang nur Flughäfen, Hotels und Konzerthallen kennt. Er ist in Asien, Südamerika und sogar im Jemen unterwegs und lebt zwei Jahre in Berlin – unbemerkt von Medien wie Fans.
    "Ich bin wieder zur Schule gegangen. Das war das erste, was ich in Berlin getan habe. Also neu anzufangen und den Rockstar so weit wie möglich hinter mir zu lassen. Ich habe in einem Klassenzimmer gesessen und drei Monate lang Deutsch gelernt. Anschließend Italienisch. Was eine ziemliche Umstellung war – ein regelrechter Schock. Aber einer, die mir gefallen hat. Ich war glücklich, etwas Neues und Interessantes zu machen. Etwas, das mich herausgefordert hat."
    Musik stellt zu dieser Zeit aber keine Herausforderung dar. Cester meidet sie, wo er nur kann. Er lebt von seinem Ersparten und zieht 2015 nach Mailand.
    Dort kauft er einen Bass und ein Keyboard und beginnt, neue Songideen zu entwickeln. Die haben nicht mehr viel mit Jet zu tun, sondern sind reifer und erwachsener. Mit Anleihen bei Soul, Psychedelia, Folk und opulenten Film-Soundtracks. Paolo Nutini trifft Otis Redding trifft Ennio Morricone.
    "Ich höre unterschiedliche Musik. Und bin da auch wählerisch. Mein Lieblingssänger ist zum Beispiel Dean Martin. Nicht, dass man mir das anhören würde, aber ich mag Sachen wie Klassik, Soul und Jazz. Außerdem habe ich nie in Genres gedacht. Kategorien waren für mich immer irrelevant, weil alle Arten von Musik irgendwie miteinander verbunden sind. Wenn man sich intensiv damit befasst, erkennt man das auch."
    Musik: Nic Cester - "Psichebello"
    Musik: Nic Cester - "Walk On"
    Die zwölf Songs, die im November 2017 unter dem Titel "Sugar Rush" erscheinen, entstehen in einem winzigen Studio in Mailand. Mit lokalen Musikern, jeder Menge Vintage-Equipment, aber auch Billig-Gitarren aus den 70er Jahren. Von deren Sound ist Cester begeistert.
    Auch bei der Vermarktung des Albums geht er neue Wege: Er finanziert es selbst, um unabhängig und ohne Druck zu arbeiten. Anschließend lizensiert er es an renommierte Indie-Labels, statt sich an einen multinationalen Großkonzern zu binden. Diesen Ansatz will er auch mit seine nächsten Werk verfolgen: Ein reines Balladen-Album, das noch in diesem Jahr folgen soll.
    Bis es soweit ist, geht der frischgebackene Vater auf seine erste Solo-Tour. Zwischen dem 19. und 23. Februar spielt er vier Club-Konzerte in Berlin, Hamburg, Köln und München, begleitet von seiner italienischen Band.
    "Bislang haben wir nur eine Handvoll Konzerte gespielt. Aber ich glaube nicht, dass ich je so viel Selbstbewusstsein auf der Bühne hatte. Das liegt zum einen an den Songs, auf die ich wirklich stolz bin. Aber auch an dem Level, auf dem sich die Musiker bewegen. Wenn ich auf der Bühne bin, muss ich nur singen statt noch Gitarre zu spielen. Was sehr befreiend ist. Ich weiß, dass die Jungs klasse sind und ich mich auf sie verlassen kann."
    Musik: Nic Cester - "God Knows – Berlin 17"
    Selbst wenn sich Jet zwischenzeitlich für fünf Auftritte mit Bruce Springsteen reformiert haben. Die Zukunft gehört dem Solo-Künstler Nic Cester. Was sich auch im Programm seiner Tour äußert: Für alte Sachen ist da kein Platz.
    "Meine Manager sind der Meinung, dass ich auch etwas von Jet bringen sollte, weil es ohne nicht geht. Das sehe ich anders. Und ich habe versucht, ein alte Songs mit der neuen Band einzustudieren - was seltsam klang. Es fühlte sich nicht richtig an. Ganz im Gegensatz zu einer italienischen Version von "Shine On". Denn da besteht eine offensichtliche Beziehung. Alles andere macht hingegen keinen Sinn. Wer weiß, vielleicht ändert sich das mit der Zeit, und dann werde ich entsprechend reagieren. Momentan ist es mir aber wichtig, dass dieses Projekt auf eigenen Beinen steht. Sobald es von alleine läuft, ist es eventuell ganz lustig, Jet-Songs zu bringen. Momentan könnte ich mir aber nichts Schlimmeres vorstellen."
    Musik: Nic Cester - "Hard Times - Berlin 17"