Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Musikerkollektiv New Model Army
Die Rock-Revoluzzer

Seit 39 Jahren steht die englische Band New Model Army für ihren Sound zwischen Folk und Post-Punk, für bissige Texte und für treue, reisefreudige Fans. Mit "From Here" haben sie im August ihr 15. Studioalbum herausgebracht und sind von Oktober bis Ende Dezember auf einer weiteren, umfangreichen Europa-Tournee.

Von Marcel Anders | 13.10.2019
    Die britische Band New Model Army
    Sänger Justin Sullivan (li.) ist das einzig verbliebene Gründungsmitglied der britischen Band New Model Army (Trust A Fox)
    Musik: "End Of Day"
    Justin Sullivan ist ein hoffnungsloser Rock-Romantiker: Er lebt, was er singt und singt, was er lebt. Seit 39 Jahren ist der hagere Brite mit den langen, grauen Haaren und der charakteristischen Zahnlücke schon Sänger, Gitarrist und Mastermind von New Model Army. Er wohnt in einer WG in Bradford - einer heruntergekommenen Industrie-Metropole in den British Midlands und ist die meiste Zeit des Jahres auf Tour oder im Studio. Im April ist er 63 geworden aber nach wie vor ein Workaholic und ein verkappter Missionar. Selbst, wenn es mit der Band mal nicht so läuft, wenn Musiker kommen und gehen und die Hallen zwischenzeitlich kleiner werden: Er hält das Schiff auf Kurs. Er ist der Chefideologe, das Gesicht, die Stimme. Und er braucht die Band als Ventil, um seine Ansichten zu teilen, seinen Frust zu kompensieren und Stellung zu beziehen. Sei es gegen die Mächtigen aus Wirtschaft und Politik. Gegen rechte Demagogen, aber auch den Brexit, die moderne Konsumgesellschaft, die Unterhaltungsindustrie und das Internet. New Model Army sind Idealisten, Revoluzzer, Klassenkämpfer und das Gewissen der linken Musikszene. Ein Kollektiv, das einfach immer weiter macht, weil ihm die Feindbilder nicht ausgehen und es noch so viel zu sagen hat auch, wenn das manchem aufstößt.
    "Jedes Maß verloren"
    Justin Sullivan "Wir haben jedes Maß verloren. Heute hält sich jeder für wichtiger als er es tatsächlich ist. Nach dem Motto: "Bitte, bitte, lass mich ein Promi sein." Dabei sollten wir alle einen Schritt zurücktreten und uns das große Ganze vor Auge führen. Ich habe zum Beispiel mal jemandem erzählt, dass ich Wüsten mag, und die Reaktion war. "Geben sie dir nicht das Gefühl, unglaublich klein zu sein?" Ja, und genau das liebe ich daran. Insofern kann ich nur sagen: "Bitte vergesst mal all den Blödsinn, der ständig aus euch hervorsprudelt und schaut euch selbst im Spiegel an." Denn: Wir sind alle lächerlich."
    Aussagen, die Sullivan zum interessanten Gesprächspartner machen. Die Musik steht dem in nichts nach. Ende August haben er und seine Mitstreiter ihr 15. Studio-Album veröffentlicht: "From Here". Ein Werk, das New Model Army in Bestform zeigt, es ist so kämpferisch, bissig und kraftvoll, wie man es von dieser Band erwartet.
    Musik: "Where I Am"
    Über Jahrzehnte kaum verändert
    Aktuelle Strömungen und Trends haben New Model Army nie interessiert. Modernste Studiotechnik noch weniger. Auch stilistisch hat sich das Kollektiv aus Bradford über die Jahrzehnte kaum verändert. Sullivan und Co. machen ihr Ding, unermüdlich und ausdauernd. Vielleicht haben sie ihren düsteren Post-Punk mal mehr in Richtung Folk oder Krautrock geführt, aber sich nie an wilden Experimenten oder kommerziellen Zugeständnissen vergangen. Sie sind sich immer treu geblieben und haben immer ihre Identität gewahrt. Das unterstreicht auch ihr neues Album "From Here", das im Frühjahr 2019 in den Ocean Sound Recording Studios auf der norwegischen Insel Giske entstand. Ein einsamer, kalter Ort, an den sich nicht wirklich viele Bands verlaufen – der für New Model Army, so Sullivan, aber wie geschaffen ist.
    "Wenn man Musiker fragt, wo sie gerne aufnehmen würden, dann sagen die meisten. "In New York, weil da so viel passiert." Oder in Los Angeles, in der Karibik oder auf Ibiza. Doch die fünf Mitglieder von New Model Army würden immer einen Ort wählen, der möglichst trostlos, öde, kalt und wunderbar ist. Insofern war Norwegen geradezu perfekt für uns."
    Drei Wochen haben New Model Army auf Giske gearbeitet und dabei weniger Keyboards und mehr Gitarren eingesetzt als auf den vorherigen Alben. Hinzu kam eine klar strukturierte Kommunikation der fünf Musiker im Studio.
    "Grundregel-Nummer 1 war: Niemandem ist es gestattet, nein zu sagen. Denn jeder Musiker hat seine eigene Methode, wie er die Dinge angeht und was er mag oder nicht. Insofern war das eine gute Sache, denn auf diese Weise war es unmöglich, etwas abzulehnen, bis wir es zumindest versucht hatten. Jede Idee musste ausprobiert werden. Erst dann konnte man nein sagen. Und das hat prima funktioniert. Es gab gewisse Vorschläge, die Leute gemacht haben, bei denen ich sofort dachte: Bloß nicht. Aber ich musste es halt probieren. Und dann gefiel es mir doch."
    Musik: "The Weather"
    Das Ergebnis sind zwölf typische New Model Army-Songs. Druckvoller, hymnischer Rock, der sich auf die Größen der späten 60er wie The Who, aber auch auf das Rudimentäre der Punk-Bands in den Mittsiebzigern bezieht. Dessen Stilmittel polternde Drums, ein kantiger Bass und eine Leadgitarre ohne Soli sind. Dazu kommen ein intensiver, leidenschaftlicher Gesang, eine dunkle Grundstimmung und wortreiche Texte mit starken Metaphern.
    "Alle Songs von New Model Army handeln in irgendeiner Form vom Wetter. Denn wenn man den Leuten sagt, wie sich das gestaltet und wie hell oder dunkel es zu einer bestimmten Tageszeit wird, dann wissen sie sofort, worum es geht. Und ich schreibe bewusst Texte in dieser Art, die starke Bilder und Gefühle erzeugen. Die mit dem korrespondieren, worauf ich hinauswill. In "The Weather" geht es z.B. um die Erkenntnis, dass es angesichts des Klimawandels und des immer extremeren Wetters kein Zufall ist, dass auch die Menschen immer verrückter und extremer werden."
    Neben dem Klimawandel thematisieren New Model Army haltlosen Konsum, die Gefahren, die vom Internet und den sozialen Medien ausgehen, die fatalen Folgen des Brexits und die Ohnmacht der Politik. Die Welt durch die Augen von Justin Sullivan ungeschminkt und ehrlich. Ohne konkrete Lösungsvorschläge, aber mit mahnemden Tenor und mit Sympathie für Greta Thunberg und die Fridays For Future-Bewegung als ein Modell für Widerstand, das wirklich etwas bewegen könnte.
    "Es ist toll, dass junge Leute sagen: Moment mal, so geht das nicht weiter. Denn meine Generation hat sich einer Menge Dinge schuldig gemacht. Wir haben alles auf den Kopf gehauen, was dieser Planet zu bieten hatte. Und wir haben denjenigen, die jetzt heranwachsen, einen Scherbenhaufen hinterlassen."
    Diese Selbstkritik fehlt vielen Vertretern der Babyboomer-Generation aber nicht Justin Sullivan. Er kämpft seit den frühen 80er-Jahren für eine bessere Welt.
    Musik: "Vengeance"
    Das Vehikel für Sullivans musikalischen Kampf ist die New Model Army. Der Bandname ist eine Hommage an die Armee des englischen Feldherren Oliver Cromwell, der im 17. Jahrhundert gegen die Monarchie kämpft und zumindest zwischenzeitlich die Republik ausruft. Sullivan ist ein wütender junger Mann in schwarzem Leder und ähnlich radikal: Seine Songs wettern zunächst gegen die Regierung Thatcher, die rechtsextreme National Front, den Falkland-Krieg und die schwache Labour Party. Das Frühwerk der Band ist anarchisch, bissig und voller Wut so, wie es Sullivan in seiner Jugend von The Clash, den Ruts und den Sex Pistols gelernt hat.
    Ignoriert vom Mainstream
    "In der Zeit des Punkrock aufzuwachsen, war toll, denn seine zentrale Aussage war: Scheiß drauf, was andere wollen, wir machen unser Ding. Und Punk war auch kein Genre, sondern eine Einstellung. Eine kulturelle Revolution. Man musste keine verzerrte Gitarre spielen und dazu laut rumschreien. Man konnte machen, was man wollte also sich auch in einen Pub stellen und mit Löffeln in der Hand Gedichte zitieren. Alles Mögliche. Es ging nur um die Einstellung und darum, zu den Prinzipien der Kunst zurückzukehren, die darin bestehen, für geistige Kommunikation zu sorgen. Das war das Wichtigste."
    Zusammen mit Bassist Stuart Morrow und Schlagzeug Rob Heaton kreiert Sullivan Hymnen, die ein linkes, alternatives Publikum begeistern, aber bei der breiten Masse auf Unverständnis stoßen und vom Mainstream-Radio ignoriert werden. Die USA verweigern New Model Army gar ein Arbeits-Visum wegen "mangelndem künstlerischen Potential". Sullivan revanchiert sich mit dem Song "51st State", der Amerika als moderne Kolonialmacht bezeichnet und Großbritannien als seinen 51. Bundesstaat.
    Musik: "51st State"
    "51st State" macht New Model Army 1986 zu Underground-Helden und das Album "The Ghost Of Cain" zum politischen Manifest, zu einem der wichtigsten britischen Rock-Alben der 80er. Ein Wendepunkt in ihrer Karriere. Sullivan & Co. gelten fortan als Band der Stunde, spielen in größeren Hallen, erhalten mediale Aufmerksamkeit und erreichen mit "Thunder And Consolation" und "Impurity" die Top 20 der Albumcharts. Das liegt nicht zuletzt an Geiger Ed Johnson, der dem Sound der Band etwas Folkloristisches, Romantisches verleiht.
    Musik: "Vagabonds"
    "Vagabonds" von 1989 – eines der bekanntesten Stücke von New Model Army und einer ihrer größten kommerziellen Erfolge. Doch genau daraus resultiert ein ideologisches Problem. Die Band will gar nicht Teil des Mainstreams sein. Sullivan sieht die Chartplatzierungen dieser Zeit als Betriebsunfall.
    New Model Army live auf dem A Summer s Tale Festival 2018 in der Lüneburger Heide. Luhmühlen, 03.08.2018 *** New Model Army live at the A Summer s Tale Festival 2018 in the Lüneburg Heath Luhmühlen 03 08 2018 Foto:xR.xKeuntjex/xFuturexImage
    New Model Army live auf dem A Summer s Tale Festival 2018 in der Lüneburger Heide (imago stock&people)
    "Wir waren kurz davor, eine richtig große Band zu werden. Aber wir sind es nie geworden. Einfach, weil wir nicht wollten. Die Leute fragen immer, was da schiefgelaufen sei. Und ich kann nur sagen: "Ich finde eher, dass wir vieles richtig gemacht haben." In dem Sinne, dass wir immer noch hier sind. Wir können machen, was wir wollen, wann wir wollen, wie wir wollen. Besser kann es gar nicht sein. OK, wir hätten mehr Alben und Konzert-Tickets verkaufen können, na und? Das macht doch keinen Unterschied."
    Da schwingt eine Menge Frust mit: Die Band ist erschöpft vom vielen Touren, erlebt erste Umbesetzungen und versucht unter dem Pseudonym Raw Melody Men wieder in kleinen Clubs aufzutreten.
    Gründung eines eigenen Labels
    Doch erst eine längere Auszeit und das Aufkommen des Grunge, lassen den Hype abkühlen. New Model Army gründen ihr eigenes Label Attack Attack, veröffentlichen eine Reihe von eher unkommerziellen Alben und werden wieder zu der Underground-Band, als die sie begonnen haben. Laut Sullivan war der Rückzug aus dem Mainstream die einzig effektive Methode, um zu überleben und wie etliche ihrer Zeitgenossen einfach immer weiter zu machen.
    "Sämtliche Bands aus den frühen 80ern, die nach wie vor aktiv sind, sind in völlig unterschiedliche Richtungen gegangen. The Cure haben dies probiert, Depeche Mode das, Killing Joke wieder etwas anderes. Und auch wir haben unser Ding durchgezogen. Dabei haben wir alle denselben Ansatz verfolgt. Nämlich: Tu, worauf du Lust hast. Kümmere dich nicht darum, was die Musikindustrie oder das Publikum von dir verlangen. Folge deinen Vorstellungen und deinem Spirit. Das ist das Entscheidende. Und solange du dich daran hältst, ist alles gut. Das haben wir nie aus den Augen verloren."
    Musik: "Poison Street"
    Musik: "No Rest"
    40. Dienstjubiläum
    2020 begehen New Model Army ihr 40. Dienstjubiläum, was bei Sullivan durchaus gemischte Gefühle auslöst. Schließlich weiß er nur zu gut, dass der Geburtstag für mehr Medieninteresse sorgen wird, als ihm lieb ist. Dass dann vieles verklärt und verzerrt wird.
    "Das wird eine Herausforderung für mein armes, überarbeitetes und langsam verblödendes Gehirn. Kommen da Fragen wie: "Erinnerst du dich noch an 1985?" Kann ich nur sagen: "Vielleicht, wenn ich mich anstrenge." Aber will ich überhaupt zurückblicken?, nicht wirklich."
    Und weil neue Musik in diesem Kontext nur sekundär ist, haben sie ihr neues Album schon Ende August veröffentlicht. Fürs nächste Jahr überlegt Sullivan abzutauchen oder eine Auszeit zu nehmen. Er will sich nicht groß erklären müssen und er hat auch keine Erklärung. Für ihn ist die Geschichte von New Model Army eine Verkettung von Zufällen.
    "Ich habe einfach diesen und jenen getroffen und dabei wahnsinniges Glück gehabt. Denn ohne Stuart, ohne Joolz und ohne Robert hätte ich nie etwas auf die Reihe bekommen. Auch in unserer Anfangsphase hatten wir Glück, was jede Band braucht. Ansonsten wären wir schnell wieder verschwunden und keiner hätte je bemerkt, dass wir überhaupt existiert haben. Wir hatten also Glück im Hinblick darauf, wen wir getroffen haben und wer uns gesehen hat. Es war reiner Zufall."
    Musik: "Stupid Questions"
    Programm gleicht einer Werkschau
    "Stupid Questions", wer dumme Fragen stellt, bekommt dumme Antworten. Und wer Sullivan auf die 39-jährige Bandgeschichte anspricht, der erntet ein Schulterzucken, ein schiefes Grinsen und ein lapidares "Zufall". Kein Zufall ist dagegen die große Nachfrage nach Tickets für New Model Armys laufenden Deutschland-Tournee. Die ist vor drei Tagen in Dortmund gestartet und dauert bis zum 31. Oktober. Mit Konzerten in größeren Clubs und einem zweistündigen Programm, das einer Werkschau gleicht. Das Power, Elan und Biss hat. Und mit dem Sullivan eine regelrechte Mission verfolgt.
    "Wenn es einen Moment gab, der New Model Army geprägt hat, war das ein Konzert, das ich 1979 besucht habe. Und zwar die Ruts in einer kleinen Kneipe in Bradford. Ich hatte von der Band gehört, weil John Peel ihre erste Single gespielt hat. Ich hörte sie im Radio und dachte: Die Band muss ich sehen. Es war das beste Konzert meines Lebens. Und das Gefühl, das ich am Ende der Show hatte, ist genau das, was ich allen Leuten bereiten möchte, die ein Konzert von New Model Army besuchen."
    Ein nachhaltiges Live-Erlebnis. Das dürfte nicht zuletzt für die traditionelle Weihnachtsshow im Kölner "Palladium" gelten. Die findet in diesem Jahr bereits zum 18. Mal statt, ein Dankeschön für die deutschen Fans, die sich als besonders treu erweisen. Die in New Model Army einen Fels in der Brandung und ein Bollwerk gegen den Zeitgeist sehen. Für die Musik noch etwas Romantisches und Revolutionäres hat. Und die nicht Teil der Generation Instagram und Spotify sein wollen, genau wie Sullivan.
    "Ich hasse, was da passiert. Nämlich dass Musik in ein Genre gesteckt wird, damit sie sich besser verkaufen lässt. Die meisten Leute, die Musik lieben, stehen aber nicht auf Genres, sondern einfach auf Musik. Und die überschreitet alle Grenzen. Insofern: Wen interessiert es, wie sie sich stilistisch einsortieren lässt? Und vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum New Model Army nicht wirklich in eine Schublade passt. Weil jeder von uns einen ganz anderen Geschmack hat. Und entweder gefällt dir unser Sound oder nicht. Entweder kannst du eine Beziehung dazu aufbauen oder nicht."
    Allein deshalb dürfte es New Model Army noch eine ganze Weile geben: Als Sprachrohr und Zuflucht für Menschen, die die Welt nicht so akzeptieren, wie sie nun einmal ist, sondern sie zum Positiven verändern wollen.
    Musik: "Never Arriving"