325 Knaben waren es, die zwischen 1723 und 1750 in der Thomasschule zu Leipzig im Alumnat lebten und in der Stadt zur Ehre Gottes sangen - also in jenen 27 Jahren, in denen Johann Sebastian Bach Kantor der Thomasschule und Musikdirektor Leipzigs war. Aber woher kamen sie, und wohin gingen sie nach der Schule? Für die Hälfte sei das erwiesen, sagt Bernd Koska, einer der beiden jungen Wissenschaftler, die mit einem Stipendium der Gerda Henkel Stiftung am Leipziger Bach-Archiv forschen: Ein Viertel wurden Kantoren, also Lehrer und Kirchenmusiker.
"Die Geistlichen machen ungefähr auch noch mal ein Viertel aus, derjenigen, die wir identifizieren konnten. Es gibt Ärzte; Amtsmänner, die nur in der Verwaltung tätig waren; eine nicht unbeträchtliche Anzahl ist schon im Schüleralter gestorben oder als Student der Universität. Und man muss auch sagen: Bei einigen Thomanern fehlt uns einfach jegliche Spur."
"Dass wir jetzt eine so große Prozentzahl ermitteln konnten, die später selbst Kirchenmusiker oder selbst Pfarrer geworden sind, hängt auch damit zusammen, dass wir diesen Bereich sehr gut recherchieren können."
Kirchenmusiker sind leichter zu finden
Michael Maul vom Leipziger Bach-Archiv sucht seit einem Jahrzehnt nach Spuren, die Bach hinterlassen hat. Er hat auch das verschwundene Schülerverzeichnis wiedergefunden. In die Suche sind annähernd 300 Archive in mitteldeutschen Kirchen, Städten, Universitäten einbezogen.
"Für das historische Mitteldeutschland gibt es gedruckte Pfarrerbücher, wo man sehr leicht recherchieren kann, ob da Namen von ehemaligen Thomanern auftauchen. Auch für das Gebiet der Kirchenmusiker gibt es das zumindest für einige Territorien Mitteldeutschlands. Wenn aber jemand Hofbeamter wurde oder in die 'freie Wirtschaft' ging, da haben wir es ganz schwer, die Leute überhaupt zu identifizieren, weil es in der Regel keine Nachschlagewerke gibt und die auch nicht ohne Weiteres irgendwelche Spuren in Ortschroniken usw. hinterlassen."
Viele der Knaben kamen im Alter von 13 Jahren auf die Thomasschule und verließen sie sieben Jahre später in Richtung Universität, wo sie an der theologischen Fakultät zu lutherisch-orthodoxen Geistlichen gebildet und schließlich in die Ämter der mitteldeutschen Kirchen entlassen wurden – dahin, wo ihre Väter wirkten, die sie dereinst beerben sollten. Das sei das lebensnotwendige familiäre Netzwerk jener Zeit gewesen, sagt Bernd Koska.
Informative Briefe sind selten
"Man musste persönlich bekannt sein in der Regel, um so einen wichtigen Posten, den man ja sein ganzes Leben lang bekleiden konnte, um da überhaupt eine Chance zu haben. Von daher waren die Kontakte also ganz wichtig, und als völlig Unbekannter in einer völlig fremden Region, die nicht zum Heimatland gehörte – das war also sehr schwierig, da überhaupt unterzukommen. Dass ein Handwerkerkind als Alumne auf die Thomasschule aufgenommen worden und später auf einen Kantorenposten gelangt wäre, ist ganz, ganz selten."
Aber es gibt sie, die Ausnahmen, sagt Peter Wollny. Er leitet das Forschungsprojekt und ist ab 1. Januar Direktor des Leipziger Bach-Archivs. Da Bach nur wenige private Informationen hinterlassen hat, ist man für jeden Hinweis seiner Schüler dankbar.
"Ich selbst habe das mal gemacht mit einem Theologiestudenten, ein Mensch mit dem Namen Johann Nathanael Bammler, der als Waisenkind an die Thomasschule gekommen ist, sich da hochgearbeitet hat, später Präfekt war unter Bach. Und Bach schreibt in seinem Zeugnis, dass er ihm so viel zutrauen konnte, dass er auch in seiner Abwesenheit die Kantatenaufführungen dirigieren konnte. Das stellte sich raus aufgrund des eigenhändigen Bewerbungsschreibens von Bammler um eine Schullehrerstelle in Eilenburg nördlich von Leipzig, und mit dem Bewerbungsvorgang fanden sich dann zwei wichtige Zeugnisse von Bach und so viel biografisches Material, dass dieser ehemalige Thomaner sich als eine der wichtigsten Figuren in Bachs später Lebenszeit herausgestellt hat."
Solche aussagekräftigen Mitteilungen von Thomasschülern sind allerdings rar.
"Wir haben von diesen ganzen Kindern praktisch keine Privatbriefe oder so was. Die schreiben nur das, was sie für eine Bewerbung benutzen können, irgendwelche Lebensläufe auf Latein. Wenn jemand sich bewusst entscheidet: Musik ist nicht meine Sache, ich gehe in Richtung Medizin oder Jurist oder Verwaltungsbeamter, da ist es nicht wahrscheinlich, dass er in seinem offiziellen Schreiben etwas über Bach verlautbaren lässt oder seine Rolle im Chor."
War jedoch die Kirchenmusik das Ziel, stand eher etwas zu lesen – wie im Fall Bammler oder, gerade erst im mittelsächsischen Döbeln entdeckt, im Fall Fleckeisen. Auch der betonte in seiner Bewerbung, dass er wenige Jahre vor Bachs Tod Präfekt, also Vertreter des Kantors war – für ganze zwei Jahre am Stück. Was "Bild"-Leipzig zur Schlagzeile veranlasste: "Bach waren die Thomaner völlig wurscht!" Anders herum wird ein Schuh draus: Bach war den Leipziger Stadtvätern ziemlich wurscht, und das seit Langem. Was soziale Ursachen hatte, sagt Manuel Bärwald, der zweite Stipendiat der Henkel-Stiftung. Die Leipziger wollten ihre Kinder auch in einer Schule wie die Thomasschule unterbringen, für die sie kein Schulgeld zahlen mussten – die Thomaner hatten sich ihr Schulgeld selbst "zusammenzusingen".
Musikqualität vor Sozialaspekten
"Das hat zu argen sozialen Spannungen geführt, die letztlich auch dazu geführt haben, dass Bach eine etwas schlechte Stellung im Stadtrat hatte, weil er nicht nach diesen sozialen Aspekten seine Alumnen ausgewählt hat, sondern nach den Leuten, die singen konnten. Und das waren in der Regel eben nicht Leipziger Stadtkinder, sondern Kinder von außerhalb."
Dieses Prinzip "musikalische Qualität geht vor sozialer Forderung" versuchte Bach 1730 beim Stadtrat durchzusetzen. In seinem "Entwurf einer wohlbestallten Kirchenmusik" lautet der Schluss - in moderneres Deutsch übertragen:
"Wenn nun alljährlich einige von denen, die musikalisch gebildet wurden, von der Schule ziehen, und deren Stellen mit andern ersetzt werden, die eines Teils noch nicht zu gebrauchen sind, meistens aber gar nichts können, so ist leicht zu schließen, dass der Chor sich verkleinern muss."
Bach setzte sich nicht durch und zog sich als Konsequenz auf einen "Dienst nach Vorschrift" zurück: Nach den grandiosen kirchenmusikalischen Werken der 1720er Jahre wandte er sich mehr und mehr anderer Musik zu. Auch dafür bot Leipzig inzwischen ein breites Betätigungsfeld: Oper, ein Orchester, aus dem später das Gewandhausorchester erwachsen sollte, Kaffeehausmusik, Gastspiele italienischer Truppen. Bach war Teil dieses Netzwerkes, aber auch einige seiner Zöglinge wurden es, sobald sie die Thomasschule verlassen hatten. Als Schüler mussten sie züchtig leben, durften weder außerhalb mitmusizieren noch solche Aufführungen überhaupt besuchen. Aber, lenkt Manuel Bärwald ein:
"Die Leute, die in den Kirchen gesessen und den Thomanerchor singen und spielen gehört haben, das waren natürlich auch dieselben Leute, die die Konzerte organisiert haben, und möglicherweise haben die auf einzelne Leute schon ein Auge geworfen und gewusst: Wer geht nächstes Jahr von der Schule ab; da fragen wir doch mal, ob er nicht in unserer Konzertgesellschaft mitspielen will."