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Muskelkraft durch Nitrat

Nitrate finden sich unter anderem in Spinat, Kohl, Gurken oder Fleisch- und Wurstwaren. Früher galten sie als Krebsauslöser. Auf einer Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung haben sich Wissenschaftler jetzt mit den guten Seiten dieser Stickstoffverbindung beschäftigt.

Von Thomas Wagner | 08.05.2013
    Das war früher. Professor Peter Grimm, Deutsche Gesellschaft für Ernährung:

    "Als ich studiert habe, da ging um, dass man im Winter keinen Salat mehr essen durfte, keine Radieschen. Das war die Hochzeit, als wieder Nitrat aufgekocht ist."

    Und das ist heute. Dr. Eva Frei, Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg:

    "Ich habe gesagt, dass der Popeye wahrscheinlich recht hatte, weil er Spinat gegessen hat, weil es ein nitratreiches Lebensmittel ist und ihm seine Muskelkraft erhöht hat."

    Nitrat im Wandel der Zeiten: Noch vor ein paar Jahren galt die Substanz, die sich gerne in Gemüse und Salat anreichert, als wahres Teufelszeug, das krebserregend wirkt. Heute gilt Nitrat als eine Art "Super-Benzin" für Muskelzellen mit Höchstleistungs-Effekt. So das Ergebnis jener Tagung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, bei der Experten in Stuttgart über Gefahren und Nutzen von Nitrat diskutierten. Viele Wissenschaftler gingen bis vor Kurzem davon, dass sich Nitrate im menschlichen Körper nach mehreren chemischen Prozessen in die Krebs erzeugenden Nitrosamine verwandeln können.

    "Für Erwachsene war damals das Hauptargument: Das fördert Krebs, obwohl es eigentlich, wie wir heute auch erfahren, nie bewiesen war. Es wurde von Generation zu Generation weitergegeben, kochte immer wieder hoch, war aber letztlich nie bewiesen."

    Nachweisen lasse sich lediglich eine schädliche Wirkung von Nitrat auf die Gesundheit von Säuglingen im Alter von bis zu drei Monaten, deren Darmflora noch nicht richtig ausgebildet ist. Ansonsten sei ein Zusammenhang von Nitratzufuhr und der Ausbildung von krebserregenden Nitrosaminen bislang nur im Tierexperiment mit Ratten nachgewiesen worden.

    "Da hat das geklappt. Und daher rührte die Furcht davor. Und deshalb hat man als nächsten Schritt geschaut, ob tatsächlich Vegetarier mehr Krebs hätten. Und da kam das Gegenteil heraus. Das war das Überraschende: dass eben Vegetarier seltener Krebs haben als Nicht-Vegetarier."

    So der Toxikologe Professor Hans-Georg Classen von der Universität Stuttgart-Hohenheim. Seine These: Führten Nitrate tatsächlich zu Nitrosamin-Bildung, dann müssten Vegetarier erheblich häufiger an Krebs erkranken als ihre Steak und Schnitzel verspeisenden Mitmenschen, da Vegetarier erheblich mehr Gemüse und Salat mit den entsprechend höheren Nitratwerten verspeisen. Doch weil Vegetarier mindestens genauso quietschfidel den Alltag bestreiten, wie alle anderen auch, lasse sich kein Zusammenhang zwischen Nitrataufnahme und Krebshäufigkeit zeigen. Diese Annahme wurde jüngst durch weitere medizinische Studien bestätigt, so Eva Frei vom Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg. Dabei kam noch mehr heraus: Gerade mit Nitraten angereicherte Lebensmittel wie Spinat oder Kopfsalat steigern die Leistungsfähigkeit von Muskelzellen. Eva Frei:

    "Es gibt in den Zellen so kleine Kraftwerke, die nennen sich Mitochondrien. Deren Leistung wird erhöht. Sie sind effektiver, wie ein Motor, der besser läuft, was das Nitrat bewirkt hat."

    Dabei hat Nitrat noch eine weitere Wirkung: Chemisch wandelt es sich im menschlichen Körper zu Stickstoff-Monoxid oder, wie die Chemiker sagen, NO.

    "Über NO relaxieren, erschlaffen die Blutgefäße. Der Blutdruck reduziert sich, nimmt ab. Die Durchblutung wird verbessert. Und die Atmung in den Zellen wird günstig beeinflusst über diesen Kreislauf."

    Erläutert der Toxikologe Hans-Georg Classen. Will heißen: Wer Nitrat zu sich nehme, der beuge Zivilisationskrankheiten wie beispielsweise Schlaganfällen oder Herzinfarkten vor, so der Toxikologe von der Universität Stuttgart-Hohenheim. Den Verbrauchern empfiehlt Peter Grimm von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung deshalb verstärkt Produkte mit Nitrat zu essen; die Angst vor Krebs als Folge von Nitrat-Konsum gehöre schließlich der Vergangenheit an.

    "Mich freut das natürlich außerordentlich, wenn Argumente, die gegen Gemüse sprechen, jetzt plötzlich wegfallen. Es gibt auf jeden Fall jetzt keinen Einwand mehr gegen Gemüse. Und gerade im Winter haben wir es in Deutschland sehr, sehr nötig, Gemüse zu essen."

    Mögen Nitrate in Salat und Spinat auch keinen Krebs erzeugen – einen Freibrief an die Landwirtschaft und Gemüseanbauern, ungehindert mit Nitrat zu düngen, ist das keineswegs – im Gegenteil: Der europaweite Grenzwert von 50 Milligramm Nitrat pro Liter Trinkwasser mache durchaus Sinn, so Peter Grimm. Denn die schädlichen Wirkungen für die Umwelt, die von zu viel Nitrat auf den Feldern ausgehen, bleiben nach wie vor unbestritten.

    "Sie kennen das vielleicht mit der Algenbildung in Flüssen: Die Seen kippen um. Wenn das Nitrat wirklich düngt, dann düngt es nicht nur das Gemüse. Sondern das Nitrat düngt eben auch alles, was in Seen und Flüssen wächst. Und das wäre sicher kontraproduktiv. Die Düngung sollte erfolgen anhand des Bedarfs und nicht nach dem Hau-drauf-Prinzip."