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Muslime in Deutschland
Der Beginn des Lebens

Rund fünf Millionen Muslime leben heute in Deutschland. Viele von ihnen sind religiös, viele sind es nicht. In unserer Reihe “Den Islam leben” geht es um Alltags-Fragen von Muslimen. Die können aber schon mal grundsätzlich sein - etwa die Frage: Wann beginnt das Leben?

Von Hüseyin Topel | 03.01.2019
Ein neugeborenes Baby weint.
"Wahrlich, von Gott kommen wir, ..." - so heißt es im Koran. (imago/ imagebroker )
"Innalillahi ve inna ileyhi raciun."
"Wahrlich, von Gott kommen wir, und wahrlich, zu ihm werden wir zurückgebracht."
Dieser Vers aus dem Koran hat für Muslime eine zentrale Bedeutung. Er wird häufig mit dem Tod in Verbindung gebracht. Doch dieser Vers bezieht sich auch auf den Beginn des Lebens. Wo Menschen herkommen - bei dieser Frage gibt es, im Gegensatz zu zahlreichen anderen Themen, keine Meinungsunterschiede unter gläubigen Muslimen, sagt der Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe.
"Gott ist der Ursprung des Lebens. Gott schafft Leben. Gott hat Adam geschaffen aus Lehm, wie es im Koran heißt, und Gott schafft auch das menschliche Leben - und da kommt er her."
Gott als der Schöpfer aller Dinge ist eine Vorstellung, die man so in allen monotheistischen Religionen findet. Kein Wunder, denn:
"Der Islam speist sich auch aus vorislamischen Vorstellungen, aus jüdischen, aus christlichen Vorstellungen, der Islam versteht sich ja als Fortschreibung und Korrektur dieser vorherigen Religionen."
Wann wird der Mensch zum Menschen?
Jedoch mit dem Unterschied, dass der Islam Mohammed als Propheten ins Zentrum stellt. In einer von islamischen Mystikern seit Jahrhunderten tradierten Geschichte sagt Gott zu Mohammed: "Ich habe dich aus meinem Licht erschaffen, und alles Übrige aus deinem Licht." Dieses göttliche Licht verleihe dem Menschen etwas Metaphysisches: die Seele, sagt Enes Curuk, ein junger Muslim aus dem Rheinland, der in Ankara islamische Theologie studiert hat.
"Die Seele, sofern wir es aus dem Koran entnehmen, das Ruh, das wir von Gott haben eingeflößt bekommen, ist ein Faktor, der uns diese metaphysische Komponente verleiht. Insofern ist die Seele ein unabdingbarer Part, ein unabdingbarer Teil des menschlichen Daseins. Unsere Seele macht uns zu einem Lebewesen, das denkt, das richtet und das reflektiert. Von daher ist die Seele der Teil, der uns von vielen anderen Schöpfungen unterscheidet."
Während sich muslimische Gelehrte in diesem Punkt einig sind, gehen die Meinungen bei einer anderen Frage auseinander: Wann wird ein Mensch zum Mensch? Der Koran liefere auf diese Frage keine klare Antwort, so Mathias Rohe, Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Professor Mathias Rohe, Islamwissenschaftler an der Uni Erlangen-Nürnberg
Islamwissenschaftler Mathias Rohe (imago stock&people/ argum/ Falk Heller)
"Der Koran ist in vielen Dingen relativ undeutlich, also was genaue Präzision angeht. Da heißt es in einer Stelle, dass der Mensch aus so einer dünnen Flüssigkeit entsteht. Daraus leiten dann wiederum manche ab, dass das eben schon die Zeugung ist. Aber das ist mehr so ein moderner Approach."
Auch losgelöst von heutigen Ansätzen, den Koran zu befragen, gibt es in der islamischen Theologie verschiedene Meinungen, wann menschliches Leben beginnt, so Rohe:
"Es gibt eine verbreitete Auffassung, die davon ausgeht, dass der Mensch nach 40 Tagen nach der Zeugung beseelt wird; und die Seele verleiht dem Menschen dann das eigentliche Leben. Manche sagen erst nach 120 Tagen, andere wiederum ab der Zeugung."
Positionen zu Abtreibung unterschiedlich
Auch die neu entfachte politische Debatte rund um den Paragraphen 219a im deutschen Strafgesetzbuch und den Umgang mit ungewollten Schwangerschaften zieht nicht spurlos an den Muslimen in Deutschland vorbei. Denn dabei geht es ja gerade auch um die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens. Die Staatssekretärin für Integration des Landes Nordrhein Westfalen, die CDU-Politikerin Serap Güler, hat dazu eine klare Position.
"Also, ich bin auch der Auffassung, dass das Leben nicht erst mit der Geburt beginnt, sondern vorher. Ich weiß, dass das eine sehr komplexe und auch nicht einfach zu beantwortende Frage politisch ist, aber als ein gläubiger Mensch beginnt für mich auch das Leben schon vor der Geburt."
Demonstrantinnen in Berlin bilden den Schriftzug: Weg mit §129a
Protest gegen den Paragrafen 219a (imago stock&people/ Christian Mang)
Daran schließt sich unmittelbar die Frage an, ob und wann Abtreibungen legitim sind, erklärt Mathias Rohe:
"Wer davon ausgeht, dass der Mensch bereits mit Zeugung entsteht, hat natürlich große Probleme, Abtreibung noch zuzulassen. Während es eben eine verbreitete Meinung gibt, die sagt: Vor 40 Tagen ist da noch nichts an menschlichem Leben in diesem Menschen drin, und deswegen gibt es eben bei denen, die das so sehen, eine relativ großzügige Handhabung des Rechts auf Abtreibung."
Zur Abtreibung gibt es im Islam also unterschiedliche Positionen. Am weitesten verbreitet ist heute jedoch die Auffassung, dass eine Abtreibung nur dann zulässig ist, wenn es um das Leben und die Gesundheit der Mutter geht.
Enes Curuk, ein junger Deutsch-Türke, wünscht sich in dieser Frage eindeutige Antworten aus Islamwissenschaft und Theologie. Er sagt, es wäre…
"… theologisch auch richtiger und auch aus rechtlicher Hinsicht eindeutiger, dass uns diese Antwort eher durch die Wissenschaft gegeben wird, als dass man einen klar definierten Zeitpunkt festsetzt, der uns nur durch Verse angezeigt oder aufgezeigt wird, die aus dem 7. Jahrhundert stammen. Ich glaube, diese Autorität sollten wir auch der Wissenschaft geben."
"Der Mensch kommt von Gott und kehrt zu Gott zurück"
Und wenn das Leben erst einmal begonnen hat, geht es für den Muslim so weiter:
"Der Islam kennt - wie alle anderen Religionen und Weltanschauungen - einen Mensch im Werden und wieder im Vergehen", sagt Mathias Rohe. "Das heißt, das kleine Menschlein kann am Anfang noch nicht so viel, ist hilfsbedürftig, ist schutzbedürftig. Dann wird man größer, dann ist man auf einmal beschränkt geschäftsfähig, kann also schon gewisse Aktionen unternehmen und irgendwann ist man dann ein sogenannter Mukallaf, also jemand, der religiös voll verpflichtet und auch als Bürger voll berechtigt ist, an allen Dingen teilzunehmen."
Im Vordergrund ein Grabstein mit arabischer Schrift, dahinter weitere Grabsteine (unscharf).
Muslimische Gräber auf dem Sennefriedhof in Bielefeld. (imago / ecomedia / Robert Fishman)
Der Mukallaf, also der vollständig entwickelte Mensch, hat im Islam dann auch bestimmte Pflichten, erläutert der Islamwissenschaftler Mathias Rohe:
"Er soll ein anständiges Leben führen, soll gottgefällig leben, was immer das im Einzelnen heißt, soll sich um seine Umwelt, um seine Nächsten kümmern. Pflichten gegenüber der Familie, Pflichten gegenüber der Gemeinschaft. Im Grunde, was die ethische Seite des Ganzen angeht, nicht viel anders als das, was wir aus anderen Religionen oder Weltanschauungen kennen."
Und auch wenn es in Fragen der Ethik sehr unterschiedliche Ansichten gibt - wie auch bei der Frage, in welchem Schwangerschaftsmonat das menschliche Leben beginnt - in einer Frage sind sich die Muslime einig: Der Mensch kommt von Gott und kehrt zu Gott zurück.