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Muslimische Erneuerung
"Der Islam ist wirklich ein Gespenst geworden - und ein Monster"

In den Gedichten und Essays von Zafer Senocak spielt Religion eine wichtige Rolle. Sein Bild vom Islam ist für viele verstörend. Aufgewachsen in einer Glaubenswelt - so sagt er von sich selbst - sei er heute skeptisch und voller kritischer Fragen. Gerade die Orthodoxie sei für vieles verantwortlich, was schief laufe, sagte er im DLF.

Andreas Main im Gespräch mit Zafer Senocak | 18.04.2016
    Zafer Senocak lächelt für ein Foto.
    Der Schriftsteller Zafer Senocak (imago images / Horst Galuschka)
    Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, hat rund 20 Bücher geschrieben. Er ist aufgewachsen in Istanbul und München und interessiert sich besonders für die mystischen Strömungen im Islam.
    Andreas Main: Der Schriftsteller Zafer Senocak gehört zu jenen im Lande, die über Islam, Koran und Muslime wirklich was zu sagen haben. Er würde sich aber nie als "Islam-Experten" bezeichnen. Und ist auch selten in Talkshows zu sehen. Dafür ist seine Gedankenwelt vermutlich zu komplex. Er ist auch - um das platte Schwarz-Weiß-Denken zu Islam-Fragen aufzugreifen - weder Islam-Versteher noch Islam-Kritiker. Aber er versteht was vom Islam, und er kritisiert ihn auch. Etwa in seinem neuen Buch, das den Titel hat "In deinen Worten. Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters". Ein Buch, das in keine Schublade passt. Ist es ein Essay? Ist es Lyrik? Eine Biographie? Oder von allem etwas? Das sollen andere entscheiden. Wir wollen hier in dieser Sendung über Religion reden. Herr Senocak, schön, dass Sie in unser Berliner Studio gekommen. Guten Morgen, Zafer Senocak!
    Zafer Senocak: Guten Morgen.
    Main: Ihr Buch beginnt am Grab Ihres Vaters. Sie richten sich direkt an ihn, auch wenn er nicht mehr antworten kann. Wieso musste Ihr Vater erst sterben, damit Sie über seinen und Ihren Glauben öffentlich nachdenken können?
    Senocak: Das ist eine sehr gute, fast schon intime Frage. Ich denke, ich habe die Distanz gebraucht, um überhaupt bestimmte Dinge in Worte fassen zu können. Ich habe ja viel mit meinem Vater gesprochen. Das kommt ja in dem Buch auch immer wieder vor. Aber das Fiktive an dem Buch konnte ich mit meinem Vater nicht besprechen. Dazu brauchte ich die Distanz. Was ist das Fiktive? Das ist das, was zwischen den Worten ist, das sozusagen im Gespräch auf der Strecke bleibt, aber einen beschäftigt, vielleicht ein Leben lang. Und diese Gedanken hab ich versucht, in diesem Buch einzufangen.
    Main: Was war es konkret, worüber Sie nicht sprechen konnten?
    Senocak: Ich habe es selber gar nicht so genau gewusst. Zum Beispiel über den Koran habe ich wenig mit meinem Vater gesprochen. Was heißt eigentlich ein sakrales Buch, das sozusagen vom Himmel herab gesandt ist? Was ist Gottes Wort, wenn er auf Menschenzunge gesprochen wird? Was bedeutet das genau für das Verständnis? Weil wir waren uns ja einig, dass der Koran zu deuten ist. Das heißt, er kann nicht wortwörtlich verstanden werden. Aber was heißt das - diese Deutung? Kann der Mensch überhaupt deuten - oder schreibt der Mensch dann jedes Buch immer wieder von neuem? Dann - der Bezug zur Poesie: Wir haben ja viel zusammen auch Gedichte gelesen, Gedichte korrigiert. Für meine poetische Ader ist mein Vater durchaus auch ein Urheber. Aber wir haben wenig über Lyrik gesprochen, über zeitgenössische Lyrik. Das, was wir besprochen haben, habe ich hier weiter fortgeschrieben sozusagen. Das heißt: Das Buch ist keine Dokumentation über das Leben meines Vaters oder meine Begegnungen mit ihm, sondern es ist eben auch Fiktion.
    "Ein Pamphlet-Islam hat sich durchgesetzt"
    Main: Wir wollen während dieses Gesprächs auch Auszüge aus Ihrem Buch hören, damit Hörer sich selbst ein Bild machen können, wie Sie über den Islam reden, beziehungsweise auch über Gott. Vorgetragen von Reiner Delventhal - hier eine erste Kostprobe, wie Sie, Herr Senocak, sich an Ihren Vater wenden.
    "Ich nehme den Koran in die Hand, das Exemplar, aus dem du jeden Freitag vorgelesen hast. Ich verstehe, warum du immer das Original des Koran jeder Übersetzung vorgezogen hast, denn der Sinn der Wörter ist reiselustig, vergänglich und missverständlich, ihr Klang aber ist ewig. In diesem Klang ist die ewig gewordene Einsamkeit Gottes, ist der all-einzige Gott, der zu uns spricht."
    Main: Daran wird deutlich, dass Sie, Herr Senocak, sich den Koran nicht wegnehmen lassen wollen. Er ist und bleibt Ihnen - Zweifel hin oder her - wichtig. Warum?
    Senocak: Absolut richtig. Ich bin in einer Glaubenswelt aufgewachsen. Ich wende mich zu dieser Glaubenswelt, aber inzwischen natürlich skeptisch - mit vielen, vielen kritischen Fragen. Das heißt aber nicht, dass diese Welt verschwindet, sondern ich versuche diese Welt immer wieder von unterschiedlichen Perspektiven her zu verstehen und da, wo ich diese Welt nicht verstehe, es auch zu äußern. Das heißt, auch mein Nicht-Verstehen in Sprache zu fassen. Deswegen schreibe ich in diesem Buch auch immer so ein bisschen etwas an dem Unsagbaren entlang, wie man eben auch in Gedichten schreibt. Sie haben zu Recht auch die Frage gestellt: Ist das Poesie? Ja, es hat auch etwas Poetisches und es hat mit meinem Werdegang auch als Kritiker, als kritisch denkender Mensch innerhalb der muslimischen Kultur etwas zu tun. Ich glaube, dass es heute wahnsinnig wichtig ist, daran zu erinnern, dass ja die Kritik im Islam nicht heute nur erfunden werden muss, sondern dass es in der islamischen Geschichte ja dieses kritische Denken gibt. Also es gibt ja den Freiheitsgedanken auch in der islamischen Tradition. Der muss einfach nochmal heute neu entdeckt und auch modern formuliert werden. Das geschieht viel zu wenig.
    Main: Kritik hat es in der Geschichte des Islam immer gegeben, sagen Sie. Ihre Analyse ist dennoch durchaus bitter. Etwa in diesem Auszug:
    "Ein Pamphlet-Islam hat sich durchgesetzt, der in verkürzter Sprache Weltkonflikte löst, die Beziehung zwischen Männern und Frauen ordnet, das Verhältnis zu Andersgläubigen regelt. Die Sprache der muslimischen Verbandsvertreter und der Geistlichen gleicht dem Morsealphabet auf einem sinkenden Schiff. Die gleichen Töne überall, die vorfabrizierten Floskeln, inhaltliche Leere der Gedanken."
    Main: Herr Senocak, wenn dieser Pamphlet-Islam untergeht, warum verlassen Sie es nicht, das sinkende Schiff?
    Senocak: Weil wahrscheinlich das sinkende Schiff immer noch auf dem Meer ist und nicht sinken wird, sondern immer wieder unterschiedliche Gegenden ansteuert - und deswegen muss es auch wieder flott gemacht werden. Das Problem ist, dass es eine riesige Kluft gibt zwischen den Pfaden, die sozusagen zurückführen in die reichen Traditionen eines erzählenden, eines dichtenden, eines ästhetischen Islam, einer islamischen Kultur, die auch eine große Zivilisation geschaffen hat im zehnten, elften, zwölften, dreizehnten Jahrhundert, - und heute. Dieser moderne Islam ist wirklich ein Gespenst geworden inzwischen - und ein Monster. Und das müssen die Muslime auch klar formulieren. Sie müssen auch Wege finden daraus. Und das beginnt damit, dass man das benennt und dass man auch Gründe sucht, warum es dahin gekommen ist, wie es dahin kommen konnte, dass sozusagen diese Verkürzungen stattfinden.
    "Auch Muslime zweifeln"
    Main: Das bedeutet am Ende des Tages, dass Sie den Koran mal so wahrnehmen, mal so. Die ganze Ambivalenz, die tragen Sie in sich. Ist das eine Frage der Tagesform oder wie kommen Sie zu welcher Haltung?
    Senocak: Das ist eine Frage der Lebensgeschichte. Und das ist ja auch eine Erinnerung daran, dass auch Muslime zweifeln. Das kann man ja heute schon gar nicht mehr sagen oder es wird ja gar nicht mehr ernst genommen. Das hat ja den Anschein, als würde jeder aus dieser Kultur einer frömmelnden, nicht skeptischen, ungefragten, religiösen Überzeugung anhängen. Das stimmt natürlich so nicht. Das ist so die äußere Wahrnehmung und das ist auch, wie der Islam sich artikuliert von verschiedenen sektiererischen Orientierungen heraus, nimmt man das so wahr. Aber in meinen Fall ist es ein Hin und Her. Das ist ja auch ein Buch über das Glauben. Es geht ja über den Islam hinaus. Es geht ja überhaupt um Glaubensfragen. Was heißt das heute eigentlich? Es ist ja ein Mensch, der hier beschrieben wird, eben auch irgendwo eine fiktive Figur, nicht nur ich, sondern darüber hinaus, der eben immer wieder auch vom Glauben abfällt, der das auch äußert, der sozusagen am Glauben verzweifelt, der irgendwie dann merkt, dass aus dieser Verzweiflung sein Glauben für ihn selber glaubwürdig wird. Diesen Weg wollte ich mal zeigen aus der muslimischen Sicht. Ich glaube, die Christen und auch die Juden kennen diesen Weg sehr, sehr genau. Das ist eben der Weg, der nach der Aufklärung entstanden ist und auch in vielen mystischen Formen der Religionen immer vorhanden war. Den müssen die Muslime, glaube ich, auch nachgehen und den sind sie auch gegangen - teilweise. Aber heute sieht es so aus, als wäre das alles vergessen und verloren.
    "Zu den Grautönen und Zwischentönen zurückfinden!"
    Main: Es ist nicht vergessen und verloren. Und diese Fragen, die richten Sie an Ihren verstorbenen Vater immer wieder. Hier ein weiteres Beispiel:
    "Müssen jene, die es wagen den Koran zu öffnen, etwa einen Giftschrank besitzen? Welche Verbindung besteht zwischen der Gewalt im Namen des Koran, des Islam im Namen Allahs und dem Text? Diesen Fragen konnten wir nicht gemeinsam nachgehen. Sie waren meine Fragen. Sie sind meine Fragen geblieben."
    Main: Haben Sie Ansätze für eine Antwort?
    Senocak: Ich glaube, es hat sehr viel mit der Angst zu tun, etwas verstehen und nicht verstehen zu können. Die ganzen religiösen Texte sind eben auch hermeneutische Fälle. Man versucht da immer alles zu verstehen und eigentlich funktioniert der Glaube nur dort, wo man nichts versteht. Und diesen Widerspruch muss der Mensch aushalten. Und ich glaube, die Muslime haben verlernt, Widersprüche auszuhalten. Das sieht man ja auch in gesellschaftspolitischen Fragen. Es muss immer eindeutig sein alles. Das erinnert uns ein bisschen an die rechten Tendenzen in den europäischen Gesellschaften. Wir suchen immer nach eindeutigen Antworten. In der Welt ist nichts eindeutig. Da ist es alles vielfarbig und auch widersprüchlich. Und das muss man aushalten. Wenn man das nicht aushält, endet alles in Gewalt, in Krieg. Das ist unsere große Gefahr, die uns bevorsteht, wenn wir nicht wieder zu den Grautönen, zu den Zwischentönen und auch zu der Zwiesprache zurückfinden. Vielleicht ein Beispiel auch. Mein Vater ist ja aufgewachsen in den 40er, 50er Jahren in der Türkei, als der Säkularismus sehr stark war. Was hat das bedeutet? Er ist in der Schule konfrontiert gewesen mit dem westlichen Denken. Er hat Romane gelesen. Aber er hat dann auch seine Religion entdeckt - und die wurde für ihn sehr wichtig. Die Verbindung von beiden, sozusagen einerseits den Romanen des 19., 20. Jahrhunderts und der Religion des Koran, hat ihn zu dem Menschen gemacht, der mit mir sprechen konnte. Hätte er nur im Koran gelesen, wie heute viele Muslime das tun, hätte er mit mir überhaupt gar kein Gespräch führen können.
    "Bankrotterklärung gegenüber ästhetischer Tradition"
    Main: Grauzonen, Skepsis, Selbstzweifel, Ironie - wenn das fehlt, das beschreiben Sie, das haben sie eben angedeutet - das beschreiben Sie als einen Hauptgrund für die Verkümmerung von Humanität. Und das bezieht sich wahrscheinlich bei Ihnen auf den Islam, aber das gilt auch für andere Offenbarungsreligionen, für Christentum und Judentum und auch im Zweifelsfall für andere Religionsgemeinschaften?
    Senocak: Es geht sehr stark um den Verlust der ästhetischen Qualität. Ich glaube, dass die Religionen in ihrer Ästhetik, in dem, was sie für den Menschen schaffen durch den Menschen, eine Qualität gewinnen und auch Boden gewinnen in unserer Geisteswelt. Wenn eben diese ästhetische Qualität, die auch eine humanitäre Qualität ist und sich zum Beispiel in der Kunst ausdrückt, verloren geht, nur das Epigonenhafte vorherrscht - und das ist ja nun in der islamischen Kultur heute sehr sichtbar, wenn wir zum Beispiel den Moscheebau anschauen, wie er in der Türkei jetzt praktiziert wird. Dieses Epigonenhafte ist unerträglich. Es zeigt im Grunde genommen diese Bankrotterklärung gegenüber der ästhetischen Tradition. Da gibt es kein Fortentwickeln, keine Inspiration mehr. Das führt zu der großen inneren Krise.
    Main: Sie sprechen über die ästhetische Bildung von Muslimen. Zugleich sehe ich in Ihrem Buch immer wieder, dass Sie für Zweifel plädieren, für Freiheit, für Mündigkeit. Sie sprechen von der Bürde der Freiheit. Nicht jeder kann sie ertragen. Warum ist es so schwer zu ertragen - diese Freiheit?
    Senocak: In der Tat ist dieses Buch ja auch ein bisschen ein Bildungsroman, wenn wir so wollen. Es ist eben der Weg, der in die Freiheit führt und der in der Freiheit den Menschen auch die Einsamkeit kosten lässt. Der Mensch ist ja eigentlich ab seiner Geburt immer angewiesen auf eine Art Nestgefühl. Das hat mit dem Mutterschoß zu tun, mit dem Zuhause, mit dem Heimatgefühl, das uns ein Leben lang begleitet. Und der Verlust dieser Gefühle ist immer auch eine Herausforderung. Ich habe das Gefühl, dass im 21. Jahrhundert das große Thema ist tatsächlich: Verlust dieser Gefühle - und wie wir sie ersetzen oder entwickeln. Da spielt natürlich der Glaube oder die religiöse Tradition eine große Rolle.
    "Die Neigung zur Vereinfachung endet in der Lüge"
    Main: Und einzelne Menschen konzentrieren sich dann ausschließlich auf einige Texte - zum Beispiel eben ausschließlich auf Quellen der Religionen, auf den Koran. In Ihrem Buch skizzieren Sie die Folgen, die das hat.
    Senocak: Genau, das ist diese Neigung zur Vereinfachung. Und die Neigung zur Vereinfachung endet immer in der Lüge im Grunde genommen, weil eben in unserem Leben nichts so vereinfacht ist, wie wir es wahrhaben wollen oder wahrnehmen wollen. Diese Vereinfachungstendenz, dem möchte ich ja entgegensteuern im Stil meines Schreibens, in den Fragestellungen, aber eben auch in einem ganz einfachen Blick auf das, was uns gegeben ist, auf das Erbe. Das Erbe ist ja komplex, das ist ja gar nicht einfach.
    "Jene Muslime, die ihre Bildung ausschließlich aus den Quellen ihrer Religion, aus Koranversen und Prophetensprüchen erhalten, sind auch heute selten feinsinnige, ästhetische Menschen und kaum in der Lage, sich mit anderen auszutauschen. Die islamische Religion in ihren überlieferten Traditionen, so scheint es, verfeinert die gläubigen Menschen nicht mehr. Sie macht aus ihnen engstirnige Besserwisser, ängstliche Untertanen, und leider allzu oft für Andersgläubige oder nichtgläubige Mitmenschen gefährliche Zeitgenossen. Der Islam und der ungehobelte Mensch scheinen heute unmittelbar zusammenzugehören."
    Main: Wie kommen wir da raus?
    Senocak: Ja, das ist eine bittere Erkenntnis, die uns alle gefährdet, vor der wir ja auch Angst haben. Wir kommen nur durch Bildung da raus. Es ist eine zivilisatorische Frage. Ich weiß, dass die Bildung im traditionellen Sinne auch in der Krise ist. Darüber ist viel geschrieben worden. Insgesamt wird viel hinterfragt. Alles, was uns in der Aufklärung gegeben war. Aber das ist das einzige, was wir in der Hand haben. Das einzige, was wir in der Hand haben, ist die kritische Hinterfragung, das kritische Denken und das ästhetische Gefühl. Das ästhetische Gefühl schafft ja erst das Mitgefühl und schafft eigentlich auch die Pforte zum Glauben, weil der Glaube ist mit dem Mitgefühl eng zusammen. Wenn man in die islamischen Quellen schaut, kann man sehen, dass genau diese Gedanken auch in diesen Quellen enthalten sind. Nur werden sie heute nicht mehr interpretiert, empfunden, weil dieses ästhetische Gefühl nicht weiter gepflegt wird.
    Es wäre wahnsinnig wichtig gewesen, dass zum Beispiel in Ländern wie in der Türkei oder in Tunesien, wo auch ein Säkularisierung stattgefunden hat, eine gewisse Aufklärung - vor allem in der Türkei - dass diese Gedanken weiterentwickelt werden. Aber da haben wir im Moment eher eine regressive Entwicklung. Das find ich auch sehr schade. Obwohl dieses Land ja einen großen Schritt gemacht hat, nicht nur Richtung Westen, sondern Richtung aufklärerisches Denken, Hinterfragung von Quellen, und auch ein Potenzial besitzt, zum Beispiel sehr viele kritische Theologen und Denker. Die kommen nicht mehr so richtig zum Vorschein. Das ist sehr schade. Wir müssen das alles viel mehr verstärken und das Gespräch suchen mit unserem Erbe - West wie Ost.
    Main: Die rückwärtsgewandte Entwicklung im Spannungsverhältnis zur Hoffnung, die Sie einerseits haben, und der heftigen Kritik, die ist auch in folgender Passage gut zu hören:
    "Die vorherrschende Glaubensrichtung des Islam, die Sunna, hat eine lange Erfahrung in der Domestizierung und Abwehr heterodoxer Lehren, mystischer Abzweigungen. Wenn der heutige Islam aber auf die Stacheln der Zweifler und Gottessucher, die nicht gefunden haben, weil sie die Hoffnung zu finden nicht aufgeben wollen, verzichtet, so mutiert er zur Chimäre. Dann gleicht er einer die Sinne nicht mehr ansprechenden Rose, kunstvoll gestutzt zwar, aber glatt und geruchlos, eine Art Zierblume im geistig vertrockneten Garten. Eine echte Rose wächst in diesem Garten nicht mehr. Wer an dieser Kunstblume riecht und sich dann betört zeigt von ihrem Duft, verrät sich selbst als Heuchler."
    Main: Das leitet zur Frage über, wie es gelingen kann, dass wieder ein richtiger Garten mit echten Rosen entsteht. Lassen Sie uns jetzt reden über Strategien, wie Islam erneuert werden kann. Sie liefern Ansätze. Ganz zentral ist für Sie die Mystik, der Sufismus. Was zeichnet diese Glaubensrichtung aus?
    Senocak: Ich bin natürlich Schriftsteller und ich schaue mir Texte an in erster Linie. Ich merke, dass viele dieser Texte, zum Beispiel Gedichte von Yunus Emre, die ich teilweise ins Deutsche übersetzt habe, diese Gedichte immer noch sehr lebendig sind, sehr modern sind, uns ansprechen. Wir müssen diese Texte wieder erfahrbar machen, hörbar machen. Diese Texte sind nicht vergessen, die werden immer wieder gelesen. Aber wir müssen sehen, was sie heute uns sagen. Dann öffnet sich, glaube ich, eine ganz weite, interessante, spannende Welt, die wir heute nicht mehr so wahrnehmen. Das ist auch für die jungen Menschen sehr wichtig, weil junge Menschen gerade in Europa, wenn sie muslimischen Hintergrund haben, suchen nach einem Halt, sie suchen nach kulturellen Wurzeln. Und was wird ihnen mitgegeben? Wenn wir es nur den Predigern überlassen, die irgendwelche Versatzstücke aus dem Koran und aus ihren Lehrbüchern diesen Menschen mitteilen, dann sind wir wirklich auf einem ganz, ganz schlechten Wege.
    Erhöhung der menschlichen Seele
    Main: Aber was unterscheidet den Geist des Sufismus von dem, was Sie womöglich als orthodoxe Prediger bezeichnen?
    Senocak: Nun ja - das ist ganz einfach. Das gibt es in allen sogenannten Buchreligionen, monotheistischen Religionen. Der Sufismus ist nichts anderes als eine mystische Interpretation der islamischen Religion. Aber der Sufismus hat auch viel, viel aufgenommen, vom Christentum, von schamanistischen Überzeugungen, von anderen Lehren aus Persien und so weiter. Das heißt, es ist eigentlich eine Art Mischdeutung der islamischen Wurzelreligion, wenn man das so sagen will. Und damit natürlich auch sehr offen für Interpretation. Aber im Kern geht es im Sufismus um die Erhöhung der menschlichen Seele und des menschlichen Geistes. Es geht um den Menschen. Der Sufismus ist ein Humanismus. Und das ist heute wichtiger denn je.
    Main: Ein weiterer wichtiger Aspekt, den Islam aus seiner orthodoxen Gefangenschaft zu befreien, ist für Sie die Kunst. Sie haben es auch schon angedeutet. Islamische Kultur ist aus Ihrer Sicht zu sehr aufs Wort fixiert. Irgendwo sagen Sie: Dem Islam fehlen Dürers "Betende Hände". Was genau meinen Sie?
    Senocak: Ja - ich glaube, die Muslime müssen sich dieser Frage auch stellen. Das ist eine Frage, die mich sehr lange schon begleitet. Mir fehlt die bildnerische Darstellung, die es zum Beispiel in der christlichen Kultur gibt, im Islam. Ich habe auch das Gefühl, dass viel Gewaltpotenzial gerade deshalb entsteht, weil die bildnerische Darstellung eine Übersetzung ist, eine Übersetzung des Göttlichen in das Menschliche hinein. Diese ist zwar im Islam vor allen in den Bauwerken, in der Mosaikkunst und so weiter zu sehen, aber die bildnerische Darstellung hat noch mal eine andere, eine sehr menschliche Dimension, eine große Qualität. Das merkt man, wenn man diese Bilder anschaut, die entstanden sind im Laufe der Jahrhunderte. Viele dieser Bilder haben ja religiöse Quellen, christliche Quellen. Sie haben die Möglichkeit eröffnet, dass die christliche Kultur sich dann durch die Aufklärung weiterentwickelt hat.
    Geschlechtergrenzen flüssiger machen
    Main: Verstehe ich Sie richtig, wenn ich - für Ihren Geschmack vermutlich etwas platt - formuliere: Mit mehr ästhetisch-kultureller Bildung in der islamischen Welt würde dem Islam das Männliche genommen, er würde weiblicher und damit menschenfreundlicher?
    Senocak: Er würde insgesamt die Geschlechtergrenzen flüssiger machen, so würde ich das formulieren. Richtig. Die Deutungsvielfalt löst ja immer große Herrschaftsansprüche auf, die heute in der islamischen Welt hier und da immer wieder sichtbar werden.
    Main: Rückbesinnung auf das, was Sie als den Kern des Koran ausmachen - das ist eine weitere Strategie, die Sie vorschlagen. Das hört sich dann so an.
    "Aus dem Koran können, ja müssen, Demokraten geboren werden. Davon warst du überzeugt, und diese Überzeugung hat dich zu einem Außenseiter in deiner Glaubensgemeinschaft werden lassen. Die Seele des Koran war in deinen Augen in Vergessenheit geraten. Die Seele, das waren der Glaube an den einen Gott Allah und der Schutz der Bedürftigen. Das freiheitliche und das soziale Gesicht des Islam, aus denen seine schlichte und eindringliche Spiritualität erwächst."
    Main: Wo sehen Sie Ansätze, dass sich dieses Gesicht wieder zeigt?
    Senocak: Naja, im Koran sind sehr starke egalitäre Energien drin. Das muss wieder entdeckt werden. Die Menschen sind gleich, egal ob sie schwarz sind, ob sie weiß sind, ob sie im Osten oder im Westen sind. Die Menschen sind nicht ganz gleich, ob sie Mann oder Frau sind. Das ist ein Problem, darüber muss gesprochen werden. Das hat sehr viel auch mit dem Zeitgeist im 6., 7. Jahrhundert in Arabien zu tun. Aber die Gleichheit vor Gott ist ja auch dem Mann und der Frau gegeben. Diese Deutungsenergien sind heute irgendwie außer Kraft gesetzt. Niemand spricht darüber. Im Grunde genommen versucht man, diesen Text wieder in den Vordergrund zu rücken und ihn zu verstehen, als würde man im 6. oder 7. Jahrhundert leben. Daraus kann nur Lüge entstehen, weil wir leben nicht im 6. oder 7. Jahrhundert. Daraus kann auch nur so was wie der IS entstehen, das ist schrecklich. Das ist furchtbar und das ist eigentlich eine Vergewaltigung der islamischen Quellen.
    Main: Dagegen setzen Sie die Strategie, Forschung und Lehre, akademischen Diskurs zu islamischen Fragen zu stärken. Zumindest ist das Ihre Forderung. Was genau stellen Sie sich vor?
    Senocak: Das ist natürlich auch eine sehr politische Forderung, wenn Sie so wollen, rüttelt an den Grundfesten der ganzen autoritären Regime in der islamischen Welt. Wo kann man denn in der islamischen Welt eigentlich frei denken? Das ist doch eine Frage, die man immer wieder stellen muss. Es ist eine traurige Frage. Fast nirgendwo. Das ist aber auch eine Chance, zum Beispiel für Deutschland, für Europa, für Paris, für London, für die USA, für die ganzen Lehranstalten dort. Es ist unsere Freiheit, die ermöglichen könnte, dass aus der islamischen Religion wieder eine Weltreligion, eine Religion des Friedens wird und nicht des Krieges und des Hasses.
    Main: Der Schriftsteller Zafer Senocak über sein neues Buch, das im Untertitel verrät, worum es geht: "In deinen Worten. Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters". Es ist erschienen im Babel-Verlag. Vielen Dank Ihnen, Herr Senocak.
    Senocak: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu Eigen.