Archiv

Muslimische Trauerrituale
Das Jenseits stirbt aus

Der Tod ist süß wie Zucker, behauptet der Sufi-Dichter Rumi. Vorstellung vom Paradies sind tief in der islamischen Volksfrömmigkeit verankert. Doch das ändert sich gerade, wie unser Autor bei der Beerdigung seiner Großmutter feststellt.

Von Hüseyin Topel |
    Verwelkte Rosen und Grabsteine stehen auf dem muslimischen Gräberfeld auf dem Friedhof Stöcken in Hannover (Niedersachsen).
    Gräber verstorbener Muslime auf einem Friedhof in Hannover. (dpa / Hauke-Christian Dittrich)
    So lebendig hört sich meine Großmutter in einem Handyvideo an, das nur wenige Wochen vor ihrem Tod im engsten Familienkreis aufgezeichnet wurde. Heute ist es nur noch eine von vielen Erinnerungen an einen wunderbaren Menschen. Aber auch eine Erinnerung daran, dass das eigene Leben irgendwann zu Ende gehen wird.
    "Jede Seele wird den Tod schmecken", zitiert Erdogan Karakaya aus dem Koran. Der Islamwissenschaftler aus München ist Experte für muslimische Grabstätten in Deutschland und Gründer der Initiative "Kabir". Karakaya erläutert den Vers:
    "..., dass es diese Unausweichlichkeit gibt und das jede Schöpfung, die eine Seele in sich trägt, tatsächlich auch mit dem Tod konfrontiert wird und der Prophet Mohammed sagt auch in sehr vielen Aussagen, dass die Erinnerung an den Tod sehr wichtig ist, weil sie im Grunde genommen eine Neuausrichtung des weltlichen, also des irdischen Daseins mit sich bringt und der Gedanke an den Tod führt unweigerlich dazu, dass man das Jenseits erahnt oder denkt."
    Die Angst wird genommen
    An das Jenseits zu denken, die eigene Sterblichkeit vor Augen zu führen, gehört zum mystischen Islam, der auch als Sufismus bezeichnet wird und im Mittelalter entstanden ist, ein wichtiger Aspekt.
    "Wenn Du mein Leben nimmst, ist der Tod süß wie Zucker", heißt es bei Mawlana Dschalal ad-Din Rumi, dem wohl bekanntesten islamischen Poeten. Gelehrte, Sufis und Dichter wie Rumi haben den Tod und die Auferstehung mit Metaphern beschrieben. Rumi selbst umschrieb seinen Tod als "Shab-i Aruz", also Hochzeitsnacht. Für den Experten Karakaya ist hieran besonders spannend, "dass sozusagen die Angst des Todes genommen wird durch den Islam, sondern sie wird umkoordiniert in etwas Notwendiges und etwas, das keine Angst macht."
    Eine alte Praxis in islamischen Sufi-Orden ist die sogenannte "Rabita-i Mevt". Dabei handelt es sich um ein komplexes Gedankenexperiment, bei dem man sich mit hoher Konzentration in ein ganz bestimmtes Szenario vertiefen soll: die Vorstellung vom eigenen Tod.
    Erdogan Karakaya erklärt dieses Ritual: "In Ordensgemeinschaften hat man unterschiedliche Methoden entwickelt, um die Idee der Endlichkeit sehr lebendig zu halten, damit es konkrete Auswirkungen auf das Verhalten in der Welt haben soll. Ein Beispiel wäre für solch eine Methode, sich in ein ausgehobenes Grab hineinzulegen und dort eine Zeit zu verbringen. Die Enge des Grabes zu spüren und so, durch den performativen Akt, das eigene irdische Ende voraus zu ahnen. Damit geht einher, dass man fast eine stoische Haltung zur Welt einnehmen soll, sodass Gutes und auch Schlechtes was man im Leben erfahren wird in Dank an Gott, also im sogenannten Alhamdulillah angenommen werden kann."
    Probeliegen im Grab
    Alhamdulillah ist einer der Schlüsselbegriffe in der islamischen Gebetskultur. Dieser Begriff soll den bedingungslosen Dank gegenüber dem Schöpfer ausdrücken. Das Ritual Rabita i-Mevt ist ein Weg um diese Alhamdulillah-Haltung zu erreichen. Das Ritual ist mittlerweile aus dem Alltag der muslimischen Mehrheit verschwunden; dennoch finden sich auch in Deutschland noch vereinzelt Muslime in Orden und Gemeinden wieder, die mit diesem Ritual leben. Cavit Mal ist Ende zwanzig und kennt diese Praxis von Jugend an. Durch seine Eltern hat er die Tradition des Rabita i-Mevt in einer muslimischen Gemeinde im Ruhrgebiet erlernt. Er schildert den Platz dieses Rituals in seinem religiösen Alltag.
    Cavit Mal: "Ich genieße dieses Ritual, als einen wichtigen Ausgleich neben all dem weltlichen Stress, den man im Alltag so erlebt. Durch die Erinnerung an den Tod bin ich ruhiger, vorsichtig im Umgang mit Menschen und der Umwelt. Ich achte das Leben, die Natur und meine Mitmenschen und fühle mich mit Gott verbunden."
    Ein Imam rezitiert hier aus dem Koran und widmet diese Verse der Seele meiner verstorbenen Großmutter. Die Verstorbenen mit Koranrezitationen ins Jenseits zu verabschieden ist eine verbreitete islamische Tradition. Nach dem Tod meiner Großmutter kamen viele Verwandte und Bekannte zu Besuch. Es ist auch Tradition, dass sie der Familie in ihrer Trauer beistehen.
    Es wird natürlich über den Tod gesprochen, aber ein Großteil der Gäste unterhält sich schon nach nur wenigen Minuten über eher weltliche Dinge. Etwa, welches Auto man demnächst kaufen möchte, was mit den Schulden passiert, oder man diskutiert darüber, wo der Leichnam am besten beigesetzt werden sollte, ob in Deutschland oder in der Türkei?
    Im Islam gibt es volkstümliche Vorstellungen vom Leben nach dem Tod: Man wird in einen Grab gelegt und dieser verwandelt sich in eine Art Warteraum. Für gute Menschen verwandelt sich das Grab in einen angenehmen und hellen Warteraum, mit Ausblick auf das Paradies. Schlechte Menschen hingegen werden in einem dunklen im Grab von der Erde eingeengt. Auch meine Großmutter hoffte stets auf ein Grab mit paradiesischem Ausblick.
    Das Diesseits bestimmt die Gespräche
    Ein Imam rezitiert hier aus dem Koran und widmet diese Verse der Seele meiner verstorbenen Großmutter. Die Verstorbenen mit Koranrezitationen ins Jenseits zu verabschieden ist eine verbreitete islamische Tradition. Nach dem Tod meiner Großmutter kamen viele Verwandte und Bekannte zu Besuch. Es ist auch Tradition, dass sie der Familie in ihrer Trauer beistehen.
    Es wird natürlich über den Tod gesprochen, aber ein Großteil der Gäste unterhält sich schon nach wenigen Minuten über eher weltliche Dinge. Etwa, welches Auto man demnächst kaufen möchte, was mit den Schulden passiert, oder man diskutiert darüber, wo der Leichnam am besten beigesetzt werden sollte, ob in Deutschland oder in der Türkei?
    Vergänglichkeit und Jenseits sind nicht einmal auf der Beerdigung ein Thema. Das Diesseits bestimmt die Gespräche. Was ich bei der Beerdigung meiner Großmutter beobachte, ist durchaus repräsentativ, sagt Bestattungs-Experte Karakaya.
    Erdogan Karakaya: "Wenn wir heute über das Ansinnen des Todes sprechen, gibt es Daten, empirische Daten, die zeigen in Deutschland, dass es immer mehr Menschen gibt, die sich als Muslime wahrnehmen, aber gleichzeitig nicht an das Jenseits glauben."
    Das bedeute laut Erdogan Karakaya, eine islamische Glaubenswahrheit werde entweder nicht verstanden, nicht gekannt oder abgelehnt. Seiner Ansicht nach sollten islamische Theologen sich diesem Thema häufiger widmen und die volkstümlichen Metaphern so vermitteln, dass sie auch heute verständlich sind. Gelingt das nicht, stirbt auch auch für Muslime das Jenseits aus.