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Mythen der EU (3/5)
Wenn Bürger plötzlich mehr EU wollen

Mischt sich die Europäische Union zu stark in die Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten ein? Der Vorwurf ist ein Klassiker unter EU-Kritikern. Doch bei manchen Themen wünschen sich die Bürger mehr EU - zum Beispiel bei Datenschutz und Terrorismusbekämpfung.

Von Benjamin Dierks | 13.06.2018
    Der Grünen-Politiker Jan-Philipp Albrecht
    "Ich glaube, die Leute sehen, die EU hat für sie einen Sinn, einen Mehrwert", sagt der grüne EU-Abgeordnete Jan Albrecht, Vorkämpfer für einen europäisch geregelten Datenschutz (Bodo Marks / dpa)
    Die Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin liegt direkt am Brandenburger Tor gegenüber dem Hotel Adlon. Vor den bodentiefen Fenstern flanieren Touristen im gleißenden Sonnenlicht. Drinnen ist es kühl. Rund 80 Besucher, die meisten sehen aus wie Mitte 20, sitzen eng gereiht Reihen auf weißen Hockern und blicken auf eine kleine Bühne. Die Moderatorin hat gerade darauf hingewiesen, dass der Gast auf dem Podium in der Presse mit einem Eiswürfel verglichen worden sei: kühl und solide.
    Der so beschriebene Jyrki Katainen versucht das zweifelhafte Kompliment in einem Witz aufzulösen, aber den versteht niemand. Katainen ist nicht der spritzigste Redner, aber ein Hochkaräter: ehemaliger Ministerpräsident Finnlands, heute Vizepräsident der EU-Kommission, zuständig für Beschäftigung, Wachstum, Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit.
    "Die Europäische Kommission spricht jetzt schon seit anderthalb Jahren mit den Bürgern über die Zukunft Europas. Und wir sind überrascht, wie viel Interesse daran besteht."
    EU-Kommissionsvize Katainen: "Wir hören zu"
    Jyrki Katainen hat in Berlin zu einem sogenannten Bürgerdialog geladen. Diese Treffen veranstaltet die Kommission seit einiger Zeit in allen Mitgliedsstaaten. Die Besucher sind so unterschiedlich wie die Fachgebiete der Redner. Bei dieser Fragestunde sind die meisten Zuhörer Wirtschaftsstudenten und auf Einladung hier. Dennoch, die EU-Kommission will mit allen Bürgern reden und Katainen ist überzeugt, dass die Bürger auch der EU zugeneigt sind:
    "Obwohl man sagt, dass wir in Zeiten von Populismus und EU-Kritik leben, scheinen sich doch viele Leute dafür zu interessieren, in welche Richtung die EU sich bewegt - und sie haben ihre eigenen Vorstellungen davon, wo es hingehen sollte. Und wir hören zu."
    Was er höre sei, dass die Menschen Hilfe erwarteten von der EU, sagt Katainen. Sie verlangten vor allem mehr Standfestigkeit der EU in Sicherheitsfragen.
    "Und wenn ich Sicherheit sage, meine ich Terrorismusbekämpfung, in zunehmenden Maße Cyber-Sicherheit, Datenschutz aber auch Grenzschutz und klassische militärische Zusammenarbeit. Ich glaube, der Grund dafür ist, dass die Cyberwelt unsere Sicherheitslage verändert hat, wie wir es bisher noch nicht erlebt haben."
    Umfrage: Viel Kritik, aber auch viel Zustimmung
    Was Katainen beschreibt, ist eine bemerkenswerte Entwicklung: In Umfragen wie dem von der EU-Kommission erhobenen Eurobarometer punkten zwar einerseits die Populisten. Aber auch die Zustimmungswerte der Europäischen Union sind so hoch wie noch nie. Galt die EU lange als Bürokratiekrake, die sich über Gebühr in das Leben der Bürger einmischt, so scheinen viele Bürger in Fragen wie Datenschutz heute sogar eine stärkere Regulierung durch die EU zu verlangen.
    "My question is: Regarding the Cambridge Analytica Scandal in America, how is the European Union going to protect us against something like that?"
    Wie zum Beweis fragt ein junger Mann aus dem Publikum, wie die EU-Kommission denn gedenke, ihre Bürger gegen Unternehmen wie Cambridge Analytica zu schützen, das in den USA die Daten von Millionen Facebook-Nutzern abgeschöpft hatte.
    "We have to create a regulatory environment showing what is allowed and what is not allowed."
    Man könne die technische Entwicklung nicht voraussehen, antwortet Katainen. Deswegen müsse klar festgelegt werden, was erlaubt ist und was nicht.
    "Die Leute sehen, die EU hat für sie einen Mehrwert"
    Einer, der das versucht hat, ist der Europaparlamentarier Jan Albrecht. Er war die treibende Kraft hinter der Datenschutzgrundverordnung oder DSGVO, die Unternehmen zwingen soll, den Datenschutz besser zu achten.
    "Hallo ich bin Jan, irgendwer meinte, dass er auf mich wartet…"
    Albrecht ist auf dem Weg in ein Programmkino in Berlin-Mitte. Er hat vor kurzem im Europaparlament Facebook-Chef Mark Zuckerberg zum Vorgehen des Sozialen Netzwerks befragt. Eine Sitzungswoche in Brüssel hat er gerade hinter und eine in Straßburg vor sich. Dazwischen hat der Grünen-Europaabgeordnete eine Konferenz seiner Partei über Digitalisierung in Berlin geleitet und will nun auf einer Diskussionsveranstaltung von Netzaktivisten die DSGVO erläutern, seinen wohl größten politischen Erfolg.
    "Ich glaube, dass die Leute sehen, die Europäische Union hat für sie einen Sinn, einen Mehrwert. Sie kann nämlich dann, wenn sie zum Beispiel fürs Digitale oder den globalen Markt Standards setzt oder regeln verabschiedet oder regeln verabschiedet, deutlich besser die Interessen der Bürger schützen, als die Nationalstaaten das noch können. Und wenn die EU sich auf das konzentriert, was diesen Mehrwert bietet und nicht mehr so wahrgenommen wird, sozusagen im Klein-Klein einfach nur aus Selbstzweck heraus zu regulieren, kann das sogar umschwingen in eine richtige Zustimmung und Freude über die Europäische Union."
    "Öffentlichkeit häufiger einbinden" wäre gut
    Die Datenschutzgrundverordnung zwingt Unternehmen unter anderem dazu, nur noch dringend notwendige Daten zu speichern und das ausdrückliche Einverständnis von Nutzern einzuholen. Jan Philipp Albrecht war der zuständige Berichterstatter im Europäischen Parlament und hat die Verordnung in unzähligen Debatten und gegen ein Heer an Industrielobbyisten durchgesetzt.
    Im langwierigen Prozess europäischer Gesetzgebung sei es als Verantwortlicher nicht immer leicht zu wissen, ob er auf dem richtigen Weg sei, berichtet Albrecht. Sein Rezept gleicht dem der Kommission: mit den Bürgern reden.
    "Man kann sich ein Stück weit darüber versichern, dass es eben öffentliche Debatte immer wieder gibt. Und das müssen auch die europäischen Institutionen, vor allem die Europaparlamentarier lernen: Öffentlichkeit in viel häufigerem Abstand einzubinden, zu informieren und mitzunehmen in so einem Prozess. Dann weiß man auch, dass man auf dem richtigen Weg ist und hat nicht am Ende die böse Überraschung, dass vielleicht doch was ganz anderes an Erwartungshaltung da war, als man geliefert hat."
    Die öffentliche Debatte hat noch nicht aufgehört für den jungen Angeordneten, der im Herbst als Minister in die Landesregierung von Schleswig-Holstein wechseln wird. Bei vielen Betroffenen kommt die Unsicherheit über die Datenschutzverordnung erst jetzt nach Inkrafttreten auf und Albrecht hat noch immer viel Überzeugungsarbeit zu leisten. An diesem Abend in Berlin-Mitte immerhin erwartet ihn ein wohlgesonnenes Publikum.