Freitag, 19. April 2024

Archiv

Nach Abzug aus Afghanistan
Deutschland drückt sich vor der Verantwortung

Viele Afghanen arbeiten als Ortskräfte im Dienst der Bundesregierung - sie übersetzen, bewachen Lager oder setzen Entwicklungsprojekte um. Wegen ihrer Arbeit für die Deutschen werden sie oft bedroht, vor allem von den Taliban. Als der schrittweise Rückzug Deutschlands 2012 begann und die Bundeswehr in Nord-Afghanistan ein Lager nach dem anderen verließ, häuften sich Gefährdungsanzeigen. Doch Berlin stellte sich taub.

Von Christoph Heinzle | 21.12.2015
    Afghanische Sicherheitskräfte trainieren Terror-Abwehr in der Provinz Herat.
    Afghanische Sicherheitskräfte trainieren Terror-Abwehr in der Provinz Herat. (dpa / picture alliance / Jalil Rezayee)
    Seit der internationale ISAF-Kampfeinsatz vor einem Jahr beendet wurde, wollte die Bundesregierung aus Afghanistan vor allem gute Nachrichten hören. Doch dann machten schlechte den Plan zunichte, nun auch rasch das Engagement für Beratung und Ausbildung der afghanischen Armee zu verringern.
    "Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit den Tagesthemen."
    Wenn nun zum Jahreswechsel das neue Bundeswehrmandat in Kraft tritt, dann werden noch mehr deutsche Soldaten nach Afghanistan geschickt, - wegen der schlechten Sicherheitslage, besonders seit jenem denkwürdigen 28. September dieses Jahres.
    "Zwei Jahre nach dem Abzug der Bundeswehr ist die afghanische Stadt Kundus in die Hände der radikalislamischen Taliban gefallen. Mehr dazu jetzt in den Nachrichten mit Linda Zervakis. Afghanische Medien berichten von zahlreichen Toten. Viele Menschen sind auf der Flucht. (Reporter) Am Abend hissen die Taliban ihre Flagge mitten in der Stadt. Schon Stunden zuvor rufen sie: Wir haben gewonnen, ein Sieg für das Islamische Emirat Afghanistan. Immer wieder flammen die Kämpfe auf, viele Zivilisten sitzen in der Falle."
    Entsetzt verfolgt Mansoor Ashrafi in München die Meldungen aus seiner Heimatstadt Kundus. Seit Februar 2015 ist er in Deutschland, weil er als langjähriger Übersetzer für deutsche Regierungsorganisationen von den Taliban bedroht wurde. Seither versucht er, seine ebenfalls bedrohte Familie nachzuholen. Durch die Besetzung von Kundus wird ihm klar, wie gefährdet sie dort ist.
    "Einige Vermummte fragten Nachbarn, ob hier Mansoor wohnt, der Übersetzer der Deutschen. Dann brachen sie unser Haus auf. Sie sagten, Mansoor hat für Nicht-Moslems gearbeitet, bekommt immer noch Geld von ihnen und deshalb ist er selbst kein Moslem und den Taliban gehört das Haus. Unsere Nachbarn sagten: Wenn Eltern und Geschwister zuhause gewesen wären, hätten die Taliban sie enthauptet."
    Doch die Familie war kurz vor dem Sturm der Taliban in Nachbarprovinzen geflohen.
    Mansoor Ashrafi steht vor dem Eingang des U-Bahnhofs am Münchener Hauptbahnhof.
    Mansoor Ashrafi am Münchener Hauptbahnhof. (Deutschlandradio / Christoph Heinzle)
    Entführt oder getötet?
    Mansoor Ashrafi hatte in Kundus insgesamt sechs Jahre für das Auswärtige Amt und den Deutschen Entwicklungsdienst gearbeitet. Als Übersetzer und Assistent des DED-Vertreters kannten ihn viele. Seit 2012, sagt er, drohten ihm die Taliban immer wieder, ihm, dem angeblichen deutschen Spion. Trotzdem lehnte die Bundesregierung eine Ausreise nach Deutschland zunächst ab. Ohne Begründung. Nach weiteren Drohanrufen und einem Drohbrief beantragte der Afghane erneut die Ausreise und wartete Monate ohne Bescheid. Verzweifelt wandte er sich im Herbst 2014 an Rechercheure von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung.
    "Seit den Drohanrufen und dem Drohbrief der Aufständischen kann ich nachts nicht mehr in meinem Haus bleiben und ich bewege mich verhüllt durch die Stadt. Mein Leben ist jede Minute und jede Sekunde in Gefahr. Mein Wunsch an die deutsche Regierung ist: Ich habe für die Deutschen großartige Arbeit gemacht. Ich habe ihnen geholfen, sie unterstützt. Jetzt möchte ich, dass sie uns unterstützen, um unsere Leben zu sichern. Wenn ich nicht so bald wie möglich nach Deutschland komme, werden wir entführt oder getötet."
    Die Medien fragten die Bundesregierung nach dem Fall. Dann ging alles ganz schnell. Mansoor Ashrafi durfte ausreisen, mit seiner Frau und inzwischen drei kleinen Kindern hat er in München ein neues Leben begonnen. Er ist dafür sehr dankbar. Doch jetzt hat er schlicht Angst um Familienmitglieder, die noch in Nordafghanistan sind. Zweieinhalb Monate nach einem offiziellen Termin der Eltern bei der Bundeswehr in Masar-i-Scharif immer noch keine Nachricht - trotz der angespannten Lage.
    "Wenn die Bundesregierung meiner Familie und meinem Bruder, der wie ich für die Bundeswehr gearbeitet hat, kein Visum gibt, wird das sehr schwierig. Sie werden weiter bedroht und ich fürchte, eines Nachts könnten Bewaffnete kommen und sie umbringen."
    Berlin stellt sich taub
    Diese Bedrohung erleben viele sogenannte Ortskräfte, Afghanen in Diensten der Bundesregierung. Sie übersetzen, bewachen Lager oder setzen Entwicklungsprojekte um. Wegen ihrer Arbeit für die Deutschen werden sie oft bedroht, vor allem von den Taliban. Als der schrittweise Rückzug Deutschlands 2012 begann und die Bundeswehr in Nord-Afghanistan ein Lager nach dem anderen verließ, häuften sich die Gefährdungsanzeigen. Doch zunächst stellte sich Berlin taub, spielte das Risiko herunter. Erst auf öffentlichen Druck entwickelte die Bundesregierung ein Verfahren für ihre afghanischen Mitarbeiter in solchen Fällen.
    Amruddin Muradi bekommt die Todesdrohung der Taliban Mitte 2014 zunächst per Brief: "Wenn wir Dich erwischen, werden wir Dich töten", steht da, "Du bist zum Tod verurteilt worden." Kurz darauf liegt eine DVD vor seiner Haustür in Kundus.
    Muradi zeigt das Video mit Bildern von Kämpfen und Aufnahmen von sich, wie er zwischen 2009 und 2013 als Dolmetscher für die Bundeswehr arbeitete.
    "It was written in red colour that we working as a spy."
    "Spion", stehe da in roter Schrift, neben einem Pfeil, der auf seinen Kopf zeigt. Zwei Mal lehnt die Bundesregierung Muradis Anträge ab. Dann berichten die ARD-Radioprogramme und das Fernseh-Magazin Panorama über seinen Fall.
    "Ich habe unter Lebensgefahr für die Deutschen gearbeitet. Sie haben jetzt die Verantwortung, mich aus Problemen und Gefahren herauszuholen."
    Kurz darauf bekommt Muradi eine Zusage für die Ausreise, lebt jetzt in München. Ein Happy End – aber nur für eine Minderheit ehemaliger Ortskräfte der Bundesregierung. Dabei hatte Innenminister Thomas de Maizière im Juni 2014 versprochen:
    "Viele haben uns dabei geholfen aus dem Land: Ortskräfte, Übersetzer, andere. Wir wollen, dass sie in Afghanistan eine sichere Zukunft haben und helfen ihnen dabei, auch Existenzen zu gründen. Für den Fall aber, dass Sie bedroht sind – latent oder offen – bieten wir ihnen auch Schutz in Deutschland. Darauf können sich alle verlassen."
    Amruddin Muradi sitzt in einer Wohnung auf einer Matratze.
    Amruddin Muradi in seiner Münchener Wohnung. (Deutschlandradio / Christoph Heinzle)
    1.700 Gefährdungsanzeigen
    Insgesamt hat die Bundesregierung über rund 1.700 Gefährdungsanzeigen entschieden. Mehr als die Hälfte, 55 Prozent, lehnte sie ab. Warum, sagt sie nicht: weder den Antragstellern noch der Öffentlichkeit. Interviews geben die zuständigen Ministerien dazu nicht. Kein Kommentar zu Einzelfällen - um die afghanischen Ortkräfte zu schützen, heißt es immer wieder schriftlich.
    Fabian Forster arbeitet als Münchener Regionalkoordinator für das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte, eine ehrenamtliche Initiative, in der vor allem Bundeswehrsoldaten den Neuankömmlingen in Deutschland helfen wollen. Seine Forderung: Wenn Ausreiseanträge abgelehnt werden, müsse die Bundesregierung ihre Gründe wenigstens erläutern.
    "Es würde schon helfen, bestimmte Entscheidungen transparent darzustellen. Ich glaube, dass auch viele Ortskräfte verstehen würden, wenn ein Antrag nicht bewilligt würde. Unsere Ortskräfte bekommen beispielsweise auch die Flüchtlingsthematik in Deutschland mit und wissen, dass sie nicht die Einzigen sind, die momentan in Gefahr sind."
    Auch der Frankfurter Anwalt Victor Pfaff von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl spricht von mangelnder Transparenz:
    Oft erschließen sich für mich die Ablehnungen nicht. Wenn es sich zum Beispiel um Dolmetscher gehandelt hat, die im Feldeinsatz tätig waren und wo wir auch Videos oder Fotos haben und sehen, dass der Einsatz stattgefunden hat in der Bevölkerung, wo also jeder hingehen und zuschauen kann und die betreffende Person erkennen kann und dann eben auch Meldungen weitergeben kann.
    Mangelnde Transparenz
    Doch das reicht der Bundesregierung meist nicht für eine Ausreisezusage. Verlangt werden Belege für eine – Zitat – "individuelle Gefahr für Leib und Leben". Grundlage für die Prüfungen sei ein einheitlicher Kriterienkatalog, schreibt eine Regierungssprecherin. 14 Kriterien mit detaillierten Handlungsanweisungen enthält der Katalog – doch der wird als Verschlusssache amtlich geheim gehalten.
    "Das Verfahren findet nicht in der Öffentlichkeit statt, die unser Gesetz vorschreibt. Natürlich muss ich doch eine Begründung bekommen, wenn mein Gesuch abgelehnt ist. Solange die Kriterien nicht auf den Tisch kommen und solange die Arbeitsweise nicht auf den Tisch kommt, solange bleibt ein Misstrauen in das Verfahren, in Verbindung damit, dass wir eben Ablehnungen bekommen, die wir nicht nachvollziehen können."
    Die Bearbeitung von Gefährdungsanzeigen und Visaanträgen zieht sich häufig aber über Monate hin, nicht selten über ein Jahr – selbst bei konkreten Drohungen. So bemängelte denn auch Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen im vergangenen April im Bundestag:
    "Wir sind da einfach zu langsam. Mir sagt einfach auch mein Gefühl: Wir haben diesen Männern und Frauen vertraut in Afghanistan, wir haben ihnen indirekt das Leben der Soldatinnen und Soldaten anvertraut. Denn wenn sie nicht aufrichtig gewesen wären, hätte das Soldatenleben gekostet. Und deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass es eine vornehme Aufgabe von uns ist, noch mehr Tempo in diesen Prozess hineinzubringen und großzügiger zu werden. Wir haben diesen Menschen vertraut. Wir sollten ihnen jetzt auch weiterhin vertrauen."
    In der Folge habe man mehr Personal eingesetzt und die durchschnittliche Bearbeitungszeit inzwischen von sechs Wochen auf drei Wochen senken können, schreibt jetzt eine Regierungssprecherin auf Anfrage. Die Recherche dutzender Fälle ergibt allerdings deutlich längere Wartezeiten. Und sie zeigt, dass im Zweifelsfall oft gegen den Antragsteller entschieden wird. Politiker der Regierungsparteien wie der Opposition sehen hier seit langem ein grundsätzliches Problem. So sagte der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels von der SPD:
    "Eine Prüfung ist richtig, aber diese Prüfung sollte zunächst mal davon ausgehen, dass hier nicht Afghanen den Prüfern etwas vormachen und einen Zugang nach Deutschland erschleichen wollen, sondern sollte erst mal davon ausgehen, dass es wirklich eine Gefährdung in diesem gefährlichen Land gibt."
    Und die grüne Innenpolitikerin Luise Amtsberg ergänzt:
    "Wir hätten uns gewünscht, dass die Bundesregierung sich dafür stark macht, dass nicht derjenige, der sich gefährdet fühlt, in dieser unglaublichen Beweislast steht, sondern dass man großzügiger auf die Menschen zugeht und sagt: Eine Gefährdung ist eine subjektive Angelegenheit und deshalb müssen wir eher großzügig handeln. Die Zahlen sprechen da absolut dagegen."
    Afghanische Sicherheitskräfte beschützen das Diplomatenviertel in Kabul nach einem Angriff der Taliban
    Afghanische Sicherheitskräfte nach dem Angriff auf das Diplomatenviertel in Kabul (dpa/picture-alliance/Hedayatullah Amid)
    Immer noch aber verlangen die Entscheider von Verteidigungsministerium, Auswärtigem Amt, Entwicklungs- und Innenministerium konkrete Nachweise einer besonderen Bedrohung, die über das in Afghanistan übliche Maß hinausgeht und klar auf die Tätigkeit der Afghanen für die Bundesregierung zurückzuführen ist. Fabian Forster vom Patenschaftsnetzwerk hält das gerade in Unruheprovinzen wie Kundus für unrealistisch:
    "Eine ehemalige Ortskraft hat es mir so gesagt: Drohbriefe und Drohanrufe gab es in Zeiten, in denen die Taliban noch schwach waren, wo man an die Leute nicht so heran gekommen ist, wo sie auch von der Bundeswehr noch geschützt wurden. Derzeit ist die Situation anders. Wenn die Taliban jemandem etwas antun möchten, dann können sie das ohne weiteres Tun und müssen dafür keinen Drohbrief mehr schreiben."
    Ein kleines Dachzimmer in Starnberg ist die erste Unterkunft Abdullah Arians in Deutschland. Auch er hatte auf seinen langjährigen Arbeitgeber, die Bundeswehr, gesetzt – und wurde enttäuscht. Vier Jahre war er Dolmetscher der deutschen Soldaten in Kundus gewesen. Als Arian 2012 deshalb von Taliban bedroht wurde, bat er um Versetzung. Weil die Bundeswehr das nicht erlaubte, kündigte er und entschloss sich zur Flucht nach Deutschland. Seinen Schleppern zahlte er dafür 20.000 Dollar – alles, was ihm von seiner Arbeit für die Bundeswehr blieb. In der Starnberger Asylunterkunft wartete er über ein Jahr verzweifelt auf eine Aufenthaltserlaubnis.
    "Was ist verkehrt mit mir? Warum können sie mich nicht auf die Liste setzen? Ich habe mein Geld dafür ausgegeben, bin ein Risiko eingegangen."
    Dass die Bundeswehr in Afghanistan ihm nicht geholfen hat, dass er deshalb fliehen musste, empört Abdullah Arian.
    "Sie sagten: nein, du musst die Gefahr beweisen, der du ausgesetzt bist. Da sagte ich: Nein, das kann ich nicht beweisen. Und ich will nicht erst getötet werden, damit ihr einen Beweis habt."
    Inzwischen hat sich für den 26-Jährigen sein Wunsch nach einem Leben in Sicherheit erfüllt. Auch seine Frau und seine kleine Tochter durften nachkommen.
    "Ich kann jetzt zum Deutschkurs gehen, auch meine Tochter ist im Kindergarten, spricht ein bisschen Deutsch. Und ich arbeite jetzt als Übersetzer, Englisch oder Deutsch in Dari/Paschtu/Urdu. Aber das geht. Und ich fühle mich sehr gut hier – ich und mit meiner Familie hier."
    Doch die zeitweise Besetzung von Kundus durch die erstarkten Taliban bringt auch Arian um den Schlaf, aus Angst um seine zurückgebliebenen Familienmitglieder, die weiter bedroht werden.
    "Vor der Eroberung von Kundus wussten die Taliban nur, dass es Mitarbeiter der ISAF und anderer ausländischer Organisationen in Kundus gibt – jetzt wissen sie genau, wo jeder wohnt, kennen alle Adressen."
    Viele ehemalige afghanische Helfer der Bundesregierung berichteten Ähnliches, erzählt Ehrenamtler Forster.
    "Unsere Ortskräfte haben natürlich die Befürchtung, dass jetzt an ihren Familien Racheakte verübt werden. Wir wissen, dass die Taliban bestimmte Häuser in Kundus gezielt aufgesucht haben und gefragt haben nach den Familien – und dies auch natürlich im Zusammenhang mit der Tätigkeit der ehemaligen Ortskräfte."
    Doch die Bundesregierung widerspricht und erklärt schriftlich:
    "Eine systematische Erfassung und Nutzung personenbezogener Daten der Ortskräfte zum Zwecke konkreter Bedrohung durch die Taliban konnte im Zusammenhang mit der Einnahme der Stadt Kunduz nicht bestätigt werden."
    Amruddin Muradi hält Kundus für nicht mehr sicher, auch wenn die Taliban wieder ins Umland zurückgedrängt wurden, das sie weiterhin zu großen Teilen kontrollieren.
    "Meine Familie ist aus Kundus nach Takhar geflohen, aber es gab Gerüchte, auch diese Provinz werde bald von denTaliban erobert. Deshalb ist mein Bruder dann aus Afghanistan geflohen, um sein Leben zu retten."
    Afghanische Armee in Kundus (3.10.2015).
    Afghanische Armee in Kundus (3.10.2015). (picture alliance / dpa / Jawed Kargar)
    Wenn die Lage so bleibt, sind sich Muradi und seine Kollegen sicher, werden sich noch mehr Afghanen auf den Weg machen, Richtung Europa und vor allem nach Deutschland. So sagt Abdullah Arian:
    "Das Risiko in Afghanistan zu bleiben, ist größer als bei der Flucht. Als ich mich zur Flucht entschloss, sagte ich mir: Wenn ich auf dem Weg sterbe, dann habe ich es wenigstens versucht. Besser als in Afghanistan darauf zu warten, dass die deutschen Behörden mich herausbringen. Wenn ich dann dort ums Leben komme, bin ich auch selbst mit daran schuld, dachte ich."
    Die Bundesregierung macht auch nach den Ereignissen in Kundus in den Verfahren für Ortskräfte weiter wie bisher und erklärt auf Anfrage – Zitat:
    "Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt angespannt, ist von Region zu Region unterschiedlich und zeitlichen Veränderungen unterworfen. Übergangsweise von Aufständischen erobertes Gebiet – wie jüngst in Kunduz – ist von den afghanischen Sicherheitskräften stets zurückerobert worden. Diese Gesichtspunkte fließen in die Bewertung der individuellen Gefährdungssituation ein."
    Dass Deutschland derzeit Probleme hat, mit dem Zustrom der Flüchtlinge umzugehen, verfolgt auch der 26-jährige Arian. Doch die Fälle der Ortskräfte seien etwas anderes, meint er. Sie haben für Deutschland gearbeitet und seien deshalb jetzt in Gefahr. Arian sieht eine Verantwortung der ehemaligen Arbeitgeber.
    "Ich sehe, wie viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Und ich habe den Eindruck, das beeinflusst die Verfahren für den Familiennachzug afghanischer Mitarbeiter deutscher Organisationen. Aber normalerweise sollte es diese Verfahren nicht beeinflussen, denn das ist ein anderes Verfahren. Die deutschen Behörden wissen längst, wie schwierig es für ihre Mitarbeiter und deren Familien derzeit ist."
    Ehemalige Ortskräfte wie Arian registrieren auch Äußerungen wie die von Innenminister de Maizière, der mehr Abschiebungen afghanischer Flüchtlinge für nötig und möglich hält, wie er Ende Oktober erklärte.
    "Deutsche Soldaten und Polizisten tragen dazu bei, Afghanistan sicherer zu machen. Es sind viele, viele Summen von Entwicklungshilfe nach Afghanistan geflossen. Da kann man erwarten, dass die Afghanen in Ihrem Land bleiben."
    Abdullah Arian steht vor dem Münchener Rathaus.
    Abdullah Arian vor dem Münchener Rathaus. (Deutschlandradio / Christoph Heinzle)
    "Ich habe Verständnis dafür: Die Deutschen haben viel Geld in Afghanistan ausgegeben und hatten viele Todesopfer. Sie versuchten der afghanischen Bevölkerung zu helfen, sie wollten Frieden und Entwicklung bringen. Aber leider war die Zeit zu kurz, der afghanischen Regierung und der afghanischen Gesellschaft wirklich zu helfen."
    Aus Sicht der afghanischen Ortskräfte geht es beim Umgang der Bundesregierung mit ihnen um Verantwortung und Menschlichkeit. Und auch Grünen-Politikerin Amtsberg sagt:
    "Ich finde schon, dass sehr auffällig ist, dass bei der Frage nach Anerkennungskultur von Soldaten und rückkehrenden Soldaten nach Deutschland immer sehr viel politisch unternommen wird, die auch nach vorne zu stellen, was auch richtig ist. Aber dasselbe wünsche ich mich natürlich auch für die einheimischen Ortskräfte, die schließlich auch im Interesse ihres Landes vor Ort aktiv waren, für die Bundeswehr, und die, wenn sie in eine Bedrohungssituation geraten, da schließlich auch ihr gesamtes Leben aufgeben und hier neu starten müssen. Und diese Anerkennung und das Hingucken zu diesen Menschen fehlt mir politisch doch ziemlich."
    Aus Sicht vieler Experten und Politiker geht es zudem aber auch um künftige Bundeswehreinsätze. So sagte SPD-Innenpolitiker Gerold Reichenbach schon vor über einem Jahr:
    "Wir werden auch weiter im Ausland tätig sein und wenn sich das rumspricht, dass man, wenn man bei den Deutschen arbeitet, noch eine zweite Lebensversicherung braucht, weil die sich anschließend nach dem Einsatz zu wenig um die jeweiligen Mitarbeiter kümmern, dann ist das auch eine Gefährdung für unsere Einsatzkräfte in der Zukunft."