Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Nach Berliner Kopftuch-Urteil
Neue Diskussion um Neutralitätsgesetz

Das Berliner Landesarbeitsgericht hat entscheiden, dass eine Lehrerin, die ein Kopftuch trägt, zwei Monatsgehälter Entschädigung bekommt, weil sie nicht an einer allgemeinbildender Schule unterrichten darf. Ist der Anfang vom Ende des Neutralitätsgesetzes? Politik und Religionsvertreter streiten über den Schulfrieden.

Von Claudia van Laak | 02.03.2017
    Aquila S. sitzt am 30.06.2016 im Verwaltungsgericht in Augsburg (Bayern) vor Richter Bernhard Röthinger (l). Die Jurastudentin klagt vor dem Gericht gegen Einschränkungen beim Rechtsreferendariat wegen des Tragens eines Kopftuches.
    Eine muslimische Jurastudentin klagt vor dem Verwaltungsgericht Augsburg gegen das Kopftuchverbot in Bayern. (picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand)
    Heute trägt sie ein dunkelblaues Tuch, eng an die Stirn geschmiegt, kein einziges Haar zu sehen, auch der Hals ist verdeckt. Vor vier Jahren ist die Deutschlehrerin Melanie Schmidt - in Wirklichkeit heißt sie anders - zum Islam konvertiert, seitdem trägt sie ein Kopftuch, wenn sie das Haus verlässt.
    "Weil es mir ein sehr angenehmes, wohliges Gefühl gibt", erklärt sie. "Aber auch weil ich schon gerne zu meinem Glauben stehe. Ich möchte auch zeigen, ich bin Muslimin. Aber ich möchte jetzt nicht provozieren oder ein politisches Symbol aussenden. Sondern: Das ist mein Glaube und der betrifft auch meinen Körper."
    Kopftuch tragen – ja oder nein – darüber sollte jede Muslima selber entscheiden, meint die Deutschlehrerin. Was Melanie Schmidt dagegen ablehnt – kleine Mädchen ein Kopftuch tragen zu lassen. Ihrer Meinung nach können 9-Jährige noch keine eigenständige Haltung dazu haben.
    "Also da ist für mich ganz klar eine Grenze. Generell finde ich es nicht gut, wenn Kinder ganz jung schon wie Erwachsene gekleidet sind. Das gilt auch für High Heels und Minirock auf der anderen Seite."
    Über das aktuelle Urteil des Berliner Landesarbeitsgerichts hat sich die 27-Jährige gefreut. Es spricht einer kopftuchtragenden Lehrerin eine Entschädigung von 8.680 Euro zu - zwei Monatsgehälter - weil diese nicht an einer allgemeinbildenden Schule in Berlin unterrichten darf. Empfindet sie das Kopftuchverbot als diskriminierend? Melanie Schmidt nickt.
    "Auf jeden Fall als Benachteiligung. Und nicht nur konkret, weil ich jetzt nicht als Lehrerin unterrichten dürfte, sondern weil das natürlich ein politisches Symbol ist. Ich hab schon selbst erlebt, dass bei Bewerbungsgesprächen, die jetzt nicht direkt in der Schule waren, dass das als Argument genommen wurde, warum ich denn jetzt da nicht so richtig reinpassen würde. Und das finde ich sehr problematisch."
    "Anfang vom Ende des Gesetzes"
    Die 27-jährige hat zunächst interkulturelle Germanistik studiert, jetzt belegt sie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität den Master-Studiengang "Religion und Kultur." An einer privaten Sprachschule bewarb sie sich als Dozentin im Integrationskurs, wurde zunächst abgelehnt.
    "Dass mir dann eben gesagt wurde, als Lehrerin trage man eben kein Kopftuch in Deutschland. Von daher war das dann schon ein sehr großer Schock für mich. Und da habe ich die Dimension zum ersten Mal verstanden, dass es sich eben nicht nur auf die Schule bezieht, sondern einfach als Argument genommen wird".
    Die private Sprachschule hätte die Muslima nicht wegen ihres Kopftuches ablehnen dürfen - denn das Berliner Neutralitätsgesetz sieht ein Kopftuchverbot lediglich für die Lehrerinnen an öffentlichen allgemeinbildenden Schulen vor. Noch. Möglicherweise wird dieses Gesetz jetzt novelliert. Der grüne Berliner Justizsenator Dirk Behrendt sagte nach der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts:
    "Dieses Urteil ist der Anfang vom Ende des Berliner Neutralitätsgesetzes. Wir werden jetzt das Gespräch mit den Koalitionspartnern suchen, wenn uns die Begründung des Urteils vorliegt und beraten, wie es mit dem Neutralitätsgesetz weitergeht."
    Dialog über den Neutralitätsbegriff
    Die Länder gehen höchst unterschiedlich mit diesem Thema um - während die Schulgesetze zum Beispiel von Schleswig-Holstein oder Rheinland-Pfalz das Kopftuch nicht verbieten, dürfen in bayerischen und Berliner Schulklassen weder Kopftuch noch Kippa getragen werden, auch keine großen Kreuze. Das Erzbistum Berlin möchte nun mit der rot-rot-grünen Landesregierung in ein Gespräch darüber kommen, was der Begriff "Neutralität" im Unterricht bedeutet. Generalvikar Pater Manfred Kollig:
    "Was heißt eigentlich Neutralität? Wo nutzt sie, wo kann ich sie einfordern, und ist sie wichtig für das Zusammenleben? Wo ist es aber auch wichtig, dass Überzeugungen besprochen werden, dass sie öffentlich sind, und nicht unter dem Tisch, im stillen Kämmerlein zum Ausdruck kommen? Wenn ich durch das Symbol ausdrücke, ich stehe dadurch auf dem Boden der Werte dieser Religion, dann finde ich, ist es etwas, das nicht schädlich, sondern sogar nützlich ist, weil ich mich damit auch auseinandersetzen kann."
    Vertreter der katholischen Kirche und Vertreter des Islam sind sich in dieser Argumentation ganz nah. Die Muslima und Theologiestudentin Melanie Schmidt ist der Ansicht:
    "Dass eine Lehrerin oder ein Lehrer Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene nicht irgendwie ideologisch beeinflussen sollte, sondern schon versuchen sollte, möglichst viele Perspektiven mit einzubeziehen. Damit stimme ich 100prozentig überein. Aber ich stimme nicht überein, dass ein Kopftuch mir diese Art von Multiperspektivität nimmt."
    Parteiübergreifende Einigkeit
    Das Gesetz bewertet die mögliche Wirkung religiöser Symbole auf die Schülerinnen und Schüler höher als der Wunsch der Lehrerin nach vielfältigen Perspektiven. Der CDU-Politiker Burkhard Dregger will auf jeden Fall am Neutralitätsgesetz festhalten - religiöse Konflikte habe Berlin schon genug, meint der integrationspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus:
    "Wir haben natürlich religiöse Wurzeln und wir wertschätzen das religiöse Bekenntnis. Aber wir wissen auch, dass das religiöse Bekenntnis von manchen als selbstgewählte Abgrenzung gesehen wird in einer Stadt wie Berlin mit 190 Herkunftsnationen. Und wir wissen auch, dass es religiöse Konflikte in der Stadt gibt. Das muss die Stadt aushalten, aber der demokratische Rechtsstaat hat kein Interesse daran, dass seine Beamten Partei dieser Konflikte werden."
    Einig ist sich der CDU-Oppositionspolitiker mit großen Teilen der regierenden SPD. Eine besonders starke Verfechterin des Berliner Neutralitätsgesetzes ist die Bürgermeisterin von Neukölln Franziska Giffey. Sie möchte auch Debatten über dieses Thema möglichst vermeiden. Jede weitere Diskussion über religiöse Symbole im Unterricht gefährde den Schulfrieden, sagt die SPD-Politikerin:
    "Ich denke, dass wir dafür streiten müssen, dass dieses Neutralitätsgesetz in der Stadt Bestand haben kann. Und es geht nicht darum, eine bestimmte Gruppe zu diskriminieren, es geht darum zu sagen: Die Neutralität des Staates und auch die Neutralität der Lehrer in der Schule ist für uns höher zu bewerten als das individuelle Recht der Religionsausübung."
    Der rot-rot-grüne Berliner Senat wartet nun auf die Begründung des Landesarbeitsgerichtsurteils - erst danach wird die Landesregierung entscheiden, ob sie das Urteil anfechten wird.