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Nach Brexit-Entscheidung
"Europa braucht wieder leidenschaftliche Plädoyers"

Wer sich jetzt nicht für Europa einsetze, der mache sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig, sagte Henrik Enderlein, Direktor des pro-europäischen Jacques Delors Instituts in Berlin. Europa sei nicht Teil des Problems, Europa sei Teil der Lösung. Man müsse mit viel Pragmatismus und Ruhe in den Verhandlungsprozess mit Großbritannien gehen, so Enderlein.

Henrik Enderlein im Gespräch mit Andreas Noll |
    09.07.2015, Berlin, Deutschland - Polit-Talkrunde bei Maybrit Illner im Zweiten Deutsches Fernsehen, ZDF, mit dem Thema - Grexit oder Hilfspaket-zahlt Europa sowieso? Foto: Hendrik Enderlein, Direktor des Jacques Delors Instituts in Berlin, Regierungsberater und Professor f
    Henrik Enderlein, Direktor des Jacques Delors Instituts in Berlin (imago stock&people)
    Andreas Noll: Henrik Enderlein, Direktor des Think Tank Jacques Delor Institut in Berlin. Herr Professor Enderlein, ist Kerneuropa, ist das jetzt die Lösung?
    Henrik Enderlein: Guten Morgen, Herr Noll. Ja, ich glaube, dass ein Europa der zwei Ebenen jetzt der nächste konsequente Schritt ist. Sehen Sie, Großbritannien ist ja noch nicht aus der Europäischen Union ausgeschieden mit dieser Abstimmung. Jetzt beginnt ein sehr langwieriges Verfahren, wo Großbritannien nach Artikel 50 einen Antrag stellt, dann verhandelt man, dann spricht man über zwei Jahre.
    Und ich glaube einfach nicht, dass Großbritannien diesen ganz harten Schnitt vollziehen wird, sondern dass man versuchen wird, möglichst nah an der Europäischen Union zu bleiben. Und das schafft dann eben außerhalb des Vertrags wahrscheinlich einen Status, der eine verbesserte assoziierte Mitgliedschaft ist. Und das wäre dann eben eine zweite Ebene Europas, die vielleicht eines Tages auch für die Türkei oder für die Ukraine, für Norwegen und die Schweiz Anwendung finden könnte.
    "Pragmatismus und Ruhe sind wichtig"
    Noll: Da gibt es aber die Worte des Finanzministers Wolfgang Schäuble, der sagt: In ist in, out ist out. Sollte man aus Ihrer Sicht trotzdem versuchen, die Briten eben weiter eng an Europa zu binden, oder sollte man vielleicht sogar versuchen, jetzt an Großbritannien ein Exempel zu statuieren, und knallhart sein?
    Enderlein: Klar muss sein: Was jetzt beginnt, ist kein Verhandlungsprozess. Großbritannien stellt einen Antrag und die Europäische Union muss ganz klar sagen, dass es nichts anzubieten gibt von Europa. Wenn Großbritannien aber kommt und sagt, man würde gerne weiterhin ein assoziiertes Mitglied der Europäischen Union sein, man würde gerne einen Weg zurückfinden in eine assoziierte Mitgliedschaft, dann sollte sich Europa diesen Wünschen sicherlich nicht in den Weg stellen, sondern man sollte versuchen, den Vertrag weiterzuentwickeln. Hier kommt man an einer Vertragsänderung sowieso nicht vorbei. Und dort eben diesen zweiten Status zu schaffen.
    Zu dem Satz: Out ist out oder raus heißt raus … Wir wissen alle, dass vor Wahlen und vor Referenden auch mal harte Töne angeschlagen werden müssen. Ich würde heute Morgen aber zu Pragmatismus aufrufen und an alle Politiker, auch an Deutschland appellieren zu sagen: Ja klar, man darf jetzt nicht Zugeständnisse machen, aber man muss mit sehr viel Pragmatismus und Ruhe in diesen Verhandlungsprozess, in diesen Gesprächsprozess gehen, denn am Ende schaden wir uns alle selbst.
    Was die Gefahren für andere europäische Länder betrifft, sich jetzt im Windschatten Großbritanniens auf irgendwelche Austrittsreferenden vorzubereiten. Ich sehe das sehr indirekt nur. Denn wir merken ja jetzt, was heute an den Finanzmärkten passiert, wie Großbritanniens Finanzmärkte reagieren. Ich glaube nicht, dass ein Land wie Polen oder Ungarn oder Schweden oder Dänemark oder auch die Niederlande jetzt schnell auf die Idee kommen, so was nachzumachen, das Exempel ist bereits statuiert.
    "Europa braucht wieder leidenschaftliche politische Plädoyers"
    Noll: Sie sagen, Pragmatismus ist jetzt gefragt. EU-Kritiker wie der UKIP-Chef Farage, die frohlocken allerdings schon vom Ende der EU. Wie ernst ist aus Ihrer Sicht die Lage für die Union, wenn jetzt zum ersten Mal in der Geschichte ein Mitgliedsstaat austritt?
    Enderlein: Es gibt ja einen Unterschied. Als wir im letzten Jahr über den Grexit gesprochen haben, über das Ausscheiden Griechenlands, da war überhaupt keine Rechtsgrundlage vorhanden, dass ein Land aus der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, aus dem Euro ausscheiden kann. Demgegenüber sieht der Vertrag einen normalen Austritt eines Landes vor. Das heißt, es gibt einen rechtlich abgesteckten Prozess, Europa ist vorbereitet, die Pläne liegen in den Schubladen.
    Ich glaube nicht, dass man jetzt von einem Zerfall Europas sprechen kann. Natürlich ist das kein guter Tag für Europa, aber es ist ein noch viel schlimmerer Tag für Großbritannien. Ich würde aber auch anmerken, dass Europa wieder Verteidiger braucht, dass Europa wieder leidenschaftliche politische Plädoyers braucht. Wer sich jetzt nicht engagiert für Europa einsetzt, der macht sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. Denn dieses Projekt steht im Kreuzverhör der Kritik und jeder Politiker, der die Zukunft dieses Kontinents weitertreiben möchte, der muss jetzt für Europa in die Bresche gehen und sagen: Ja, wir wollen dieses Europa weiterbauen, Europa ist nicht Teil des Problems, Europa ist Teil der Lösung.
    Noll: Aber mit welchen Argumenten sollen die Politiker das versuchen? Mit dem Krieg-und-Frieden-Argument? Mit den Vorteilen der Währungsunion, der Reisefreiheit? Oder was sticht eigentlich noch für Europa?
    Enderlein: Die Probleme in der heutigen Welt sind entweder global oder regional, aber sie sind nicht mehr national. Wer glaubt, man könne Herausforderungen wie die Flüchtlingskrise, Herausforderungen wie Währungs- und Wirtschaftsprobleme, Herausforderungen wie die äußere, auch die innere Sicherheit, man könne all das hinter den Schranken, hinter den herabgelassenen Grenzen des Nationalstaats lösen, der irrt. Der Nationalstaat ist nicht mehr handlungsfähig in der heutigen Welt.
    Die Bonner Republik mit Gartenzwergen in den Vorgärten gibt es nicht mehr. Das heißt, wir müssen eine europäische Antwort finden, denn nur sie kann Europa, kann Deutschland in der Welt stärken. Und dieser nationale, dieser neonationalistische Reflex, der jetzt immer wieder kommt von der AfD, von UKIP, von Le Pen in Frankreich, der ist doch nur eine verfehlte Nostalgie, weil man glaubt, längst, längst nicht mehr funktionsfähige Mechanismen anwerfen zu können, um dann eine verlorene Welt irgendwie wieder zurückzuholen.
    Nein, Europa ist ein Teil der Lösungen, Europa muss Antworten auf die Probleme, die ich gerade beschrieben habe, formulieren, und das wird auch gelingen. Ich würde Europa aber auch nicht überlasten und sagen, alles muss nach Europa gehen, Europa muss ein Superstaat werden, das fordert niemand. Es geht einfach darum, dass wir in einem Mehrebenen-System der Regierungen unterwegs sind, es gibt die lokale Ebene, es gibt die Landesebene, es gibt die nationale Ebene, aber es gibt dann eben die starke Europa-Ebene und dann auch noch die globale Ebene. Aber das europäische Element, diese europäische Ebene müssen wir jetzt wieder stärken und verteidigen.
    Noll: Einschätzungen von Henrik Enderlein, Direktor des Jacques Delors Instituts in Berlin.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.