Donnerstag, 28. März 2024

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Nach dem Abgasskandal
"VW ist in dieser Form nicht führbar"

"VW muss führbar gemacht werden", sagte der ehemalige Chefvolkswirt von BMW, Helmut Becker, im DLF. Dafür müssten vor allem Strukturen dezentralisiert werden. Bis zu einem "Wendemanöver in der Unternehmenskultur" werde es jedoch lange dauern, so Becker.

Helmut Becker im Gespräch mit Rainer Brandes | 10.12.2015
    VW-Aufsichtsratschef Pötsch und Vorstandschef Müller bei einer Pressekonferenz in Wolfsburg.
    Volkswagen sei auf dem Weg zu einer Unternehmenskultur, die Fehler zulasse, sagte Helmut Becker vom Institut für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation in München im Interview mit dem Deutschlandfunk. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Rainer Brandes: Abgastests, die dann auch tatsächlich die Wahrheit wiedergeben, eine Unternehmenskultur, in der Menschen auch Fehler machen und sogar zugeben dürfen, weniger Macht für die Konzernspitze, das klingt jetzt auf den ersten Blick nicht sehr sensationell, was der VW-Chef da heute angekündigt hat als Konsequenz aus dem Abgasskandal. Für einen Konzern aber, der es gewohnt war, von der Politik geschont zu werden und in dem die Konzernspitze zusammen mit der Gewerkschaftsspitze alle Macht in Händen hielt, für einen solchen Konzern ist das vielleicht doch revolutionär.
    Wir wollen das vertiefen mit Helmut Becker. Er arbeitet beim Institut für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation in München. Wichtiger noch: Früher war er Chefökonom von BMW, quasi bei der Konkurrenz von VW. Herr Becker, wir haben gerade gehört: Der VW-Konzern sei stark genug, diese Krise zu überstehen. Das muss man als VW-Manager wahrscheinlich auch so sagen. Aber wie ernst steht es wirklich um VW?
    "Die Krise wird VW nicht aus der Spur bringen"
    Helmut Becker: Nein, ich würde dem voll zustimmen. Dass die Krise den Volkswagen-Konzern nicht aus der Spur bringt, das ist mit Sicherheit so. Ich darf Ihnen dazu nur zwei Zahlen nennen. Die deutsche Automobilindustrie produziert im Jahr 15 Millionen Autos. Davon entfallen zehn Millionen, also zwei Drittel, allein auf den Volkswagen-Konzern. Einen solchen Konzern wird diese Abgasgeschichte nicht umschmeißen. Das ist so sicher wie das Amen im Gebet.
    Brandes: Es klingt ja beeindruckend, was da heute vorgestellt worden ist, die Menge an Daten, die VW nun schon ausgewertet haben will, oder noch auswerten möchte. Und trotzdem werden immer noch keine Namen genannt, wer ist verantwortlich. Wir hörten nur, es wussten nur ganz wenige im Konzern. Ist das vorstellbar?
    Becker: Nach dem, was man da heute jetzt von Herrn Pötsch gehört hat, ist das durchaus vorstellbar, dass die Gruppe doch relativ klein war. Was ja immer deutlicher herauskommt: Es sind die Fehler einzelner gewesen und die sind entstanden aus einer Angstkultur. Man durfte einfach nicht scheitern. Das heißt, man hat versucht, die Dinge unterm Deckel zu halten, und dafür spricht eigentlich, dass das auch innerhalb einer kleinen Gruppe passiert sein muss. Dem würde ich zustimmen.
    Aber grundsätzlich, und das erfreut mich, was ich heute dort auf der Pressekonferenz erfahren habe: Volkswagen ist auf dem gleichen Weg, den Toyota vor 70 Jahren eingeschlagen hat, nämlich eine Kultur, eine Unternehmenskultur, die Fehler zulässt und die im Zweifelsfall sagt, das schaffen wir nicht oder das müssen wir anders machen, oder wir müssen es sein lassen.
    "VW muss Ross und Reiter kennen"
    Brandes: Auf diese neue Führungskultur und Unternehmenskultur wollen wir gleich noch mal eingehen. Aber noch mal die Frage: Wo sehen Sie denn die Verantwortlichen in der Hierarchie im VW-Konzern angesiedelt? Eher ganz oben, oder eher in der zweiten und dritten Reihe?
    Becker: Das ist wie überall in Hierarchien. Die Verantwortung trägt letztlich der Mann an der Spitze. Oder, um es populär auszudrücken, der Fisch stinkt immer vom Kopf her. Aber die Verantwortlichen an der Spitze, sowohl der Herr Winterkorn wie der Herr Hackenberg, sind ja nicht mehr da. Das heißt, das oberste Führungspersonal ist ja ausgetauscht worden. Und auch in den Reihen darunter in der Entwicklung sind ja auch schon etliche Führungskräfte ausgetauscht, entlassen oder zumindest freigestellt worden. Ich finde die Diskussion, wer jetzt namentlich dafür im Einzelnen zuständig ist, müßig. Das ist Vergangenheit. Ob man jetzt die Leute kennt? Ich meine, die müssen wir kennen. Das ist sowieso klar. VW-Intern ist das klar.
    Brandes: Sonst können wir doch auch gar nicht aufklären.
    Becker: Ja natürlich! VW muss das intern kennen, muss das wissen. Aber die Öffentlichkeit hat davon eigentlich wenig. VW muss natürlich Ross und Reiter kennen und wenn sie das wissen, können sie von mir aus auch Ross und Reiter nennen.
    "Unglaublich hoher Aufwand, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen"
    Brandes: Es hat ja auch eventuell vielleicht strafrechtliche Relevanz.
    Becker: Absolut, absolut! Das hat Volkswagen ja auch schon angekündigt, dass sie solche Dinge dann vor den Kadi bringen werden. Wenn offensichtliche Betrugsvorgänge vorliegen, mit Schadensersatzansprüchen et cetera pp., dann ist das natürlich schon ein ganz wichtiger Faktor, wer das ist. Aber noch mal vom Grundsatz her: Diese Geschichte ist eigentlich Vergangenheit und es ist sichergestellt, das ist heute herausgekommen, es ist sicher und wird sichergestellt, dass in Folge dieser ganzen Kontrollen, die man jetzt durchführt, diese Gruppe von 450 oder 480 Leuten, die 100 Terrabytes Daten, die da geschaufelt werden - das sind so viel wie 50 Millionen Bücher, die da gelesen werden müssen und untersucht werden müssen. Also mit anderen Worten: Da wird ein unglaublich hoher Aufwand betrieben und ich gehe auch davon aus, der wird nicht nur betrieben der Augenwischerei wegen, sondern um der Wahrheit auf den Grund zu gehen.
    Brandes: Das heißt, da müssen wir uns einfach noch ein bisschen gedulden, bis wir Genaueres wissen?
    Becker: So ist es. Deshalb hat auch der Herr Pötsch den April 2016 avisiert, wo er dann Näheres beziehungsweise die endgültigen Ergebnisse der Untersuchung darlegen will. Das braucht Zeit und diese Zeit muss man dem Konzern auch geben. Volkswagen ist wie ein Ozeantanker. Das dauert lange, bis man da was in Bewegung setzt, oder bis man da irgendeine Bewegung und ein Wendemanöver hier in der Unternehmenskultur zumindest durchführen kann.
    "Das ist Wirtschaftsführung von gestern"
    Brandes: Und VW ist bisher wie ein Öltanker, der ganz von oben, ganz vom Kapitän her ausschließlich gesteuert wird, und das soll sich ja nun ändern. Eine neue Führungskultur, die soll dezentraler organisiert sein. Die einzelnen Marken sollen mehr Eigenrechte bekommen. Ist das der richtige Weg, solche Skandale zu verhindern?
    Becker: Wir müssen unterscheiden zwischen Organisationsproblemen und zwischen Problemen, die diesen Skandal verursacht haben. Was Sie jetzt angesprochen haben, ist schon vor Jahr und Tag auch von anderen Menschen außerhalb von VW angemahnt worden.
    Brandes: Ist aber nie umgesetzt worden?
    Becker: Nein, nie umgesetzt worden. Winterkorn hat im letzten Herbst ein bisschen was angekündigt von Verselbstständigung und und und und und und und, nachdem er dann jetzt wiedergewählt worden ist. Aber wie gesagt, das ist eine Selbstverständlichkeit. VW ist in dieser Form unabhängig von Skandalen, verstehen Sie, nicht führbar. Das heißt, VW muss führbar gemacht werden.
    Das heißt, die Strukturen müssen entsprechend dezentralisiert und angepasst werden. Zwölf Konzernmarken unter einem Dach zentral geführt von einem Kapitän, das funktioniert nicht mehr. Das ist Wirtschaftsführung von gestern. Aber wir müssen in die Zukunft gehen, und die sieht eben anders aus. Aber das ist nur die Organisation. Die mag teilweise dafür verantwortlich sein, dass dieser Skandal oder dieses, wenn Sie so wollen, illegale und unethische Verhalten einen Nährboden gefunden hat. Aber es ist nicht zwingend.
    Zwingend für dieses unethische Verhalten und für diese Trickserei und die Illegalität, die man dort gezeigt hat, ist einzig und allein die Angstkultur, die von oben mit dieser Ein-Mann-Show bis nach unten zum letzten Entwickler erzeugt worden ist. Das ist nicht zwingend mit der Organisationsform verbunden, war eher ein Spezifikum von Volkswagen, und dieses Spezifikum hat man jetzt aufgehoben.
    "Branche wird mit Samthandschuhen angefasst"
    Brandes: Gerade heute kündigt ja die EU-Kommission an, gegen die Bundesrepublik zu klagen. Der Grund dafür ist ein anderer Autokonzern: Daimler: Der hat sich jahrelang geweigert, ein klimaschädliches Kältemittel in seinen Klimaanlagen aus dem Verkehr zu ziehen. Und die Bundesregierung hat das akzeptiert. Ist das noch ein weiteres Indiz dafür, dass die Autoindustrie ganz allgemein in Deutschland immer noch zu sehr vom deutschen Staat geschützt anstatt kontrolliert wird?
    Becker: Da bin ich im Zwiespalt. Vom Grundsatz her muss man natürlich die Dinge, wenn sie vorgeschrieben werden, von welcher Behörde auch immer, jedenfalls die, die was zu sagen hat, die muss man einhalten. Punkt eins. Punkt zwei und letzter Punkt: Die deutsche Automobilindustrie ist der Träger der deutschen Wirtschaft. Das sage ich so unumwunden. 20 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts werden allein in diesem Bereich erstellt. Von der Seite her wird natürlich die Branche auch mit Samthandschuhen angefasst. Das muss man verstehen. Sie können auch eine Branche totregulieren.
    Brandes: ... sagt Helmut Becker, ehemaliger Chefvolkswirt von BMW. Wir haben das Gespräch vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.