Samstag, 27. April 2024

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Nach dem blutigen Amoklauf in Erfurt

Zagatta: An guten Ratschlägen fehlt es nicht seit dem Amoklauf in der Erfurter Gutenberg-Schule, aber lässt sich so etwas tatsächlich verhindern? Franz-Josef Reisleber leitet die Münchener Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und hat auch als Gerichtsgutachter tagtäglich mit Jugendlichen zu tun, die als gewalttätig gelten. Mit ihm konnten wir vor der Sendung sprechen und haben zunächst einmal gefragt, ob es denn überhaupt möglich ist, dass Lehrer oder Mitschüler es erkennen können, wenn ein Jugendlicher sich mit Gedanken trägt, solch eine Wahnsinnstat zu begehen?

30.04.2002
    Freisleder: Man kann nicht sagen, dass man so etwas grundsätzlich erkennt. Typen, die so handeln wie der Erfurter Amokläufer, sind sehr oft undurchschaubar, abgekapselt, zurückgezogen, wenngleich wir auch wissen oder davon ausgehen müssen, dass doch ein entsprechender Täter irgendwelchen Vertrauten gegenüber tatsächlich oder verklausulierte Ankündigungen macht. Das kann man nicht vorhersehen. Auf jeden Fall ist Hellhörigkeit angesagt und sollte auch in Zukunft noch größer sein.

    Zagatta: Was heißt das für die Umgebung? Wie kann man sich da schützen?

    Freisleder: Man kann sich insofern schützen, als interessierte einfühlsame Lehrer darauf achten, verändert sich ein Jugendlicher in der Klassengemeinschaft, zieht er sich zurück, vermittelt er den Eindruck, dass er unter Spannung steht, dass er Probleme vor sich herschiebt. Aufmerksam werden können Lehrer, können aber auch Mitschüler, können auch Eltern werden. Besonders sinnvoll wäre es glaube ich, wenn es da in möglichst vielen Schulen so etwas psychologisch geschulte Vertrauenslehrer, Schulpsychologen gebe, an die sich jemand wendet, der irgendwie einen Verdacht schöpft.

    Zagatta: Wie groß ist denn die Gefahr, dass diese Bluttat, dass der Mörder von Erfurt jetzt Nachahmer findet?

    Freisleder: Die Gefahr im Hinblick auf Nachahmungstaten habe ich schon früher gesehen und auch erwähnt. Wir haben ja nun etwa seit Herbst 1999 in Deutschland fortlaufend und auch an zeitlicher Dichte, Nähe zunehmend solche Taten. Wie Sie wissen gab es ja in Bayern vor zehn Wochen den Amoklauf in Freising oder eine Tat, die so beschrieben wird. Ich sehe durchaus die Gefahr, dass sich Jugendliche, auffällige, labile Jugendliche, die ihre Aggressionen nicht regulieren können, unter Umständen dazu aufgerufen fühlen, hier zu zeigen, dass sie gleiches können. Das halte ich durchaus für möglich.

    Zagatta: Die Gefahr geht jetzt auch von Erfurt direkt aus? Also halten Sie das in den nächsten Wochen schon für möglich?

    Freisleder: Ich will hier wirklich nicht dazu beitragen, eine dramatische Situation noch dramatischer werden zu lassen, aber man sollte jetzt gerade in den nächsten Tagen und Wochen eher hellhörig sein und aufpassen und sehen, ob im jeweiligen Umfeld Jugendliche Andeutungen machen oder entsprechende Signale senden. Wichtig ist gerade auf der anderen Seite aber auch eine Besonnenheit, hier wiederum nichts übertrieben wahrzunehmen, aber Aufmerksamkeit ist sicherlich am Platze.

    Zagatta: Lässt sich dieser Nachahmeffekt damit erklären, dass es auch in Deutschland jetzt eine Reihe von solchen Taten schon gegeben hat, oder hat das irgend etwas mit den Lebensumständen der Jugendlichen zu tun? Haben die sich in den letzten Jahren derart verändert, dass es irgendwo einen Grund als Auslöser für diesen Wahnsinn gibt?

    Freisleder: Ich denke da kommen beide Aspekte zusammen, eben diese Gefahr der Imitationstat. Aber man kann nun auch fragen, warum ist diese Gefahr vielleicht so groß? Warum gab es schon solche Nachfolgetaten, so ein Dominoeffekt. Das hängt sicherlich auch mit der Situation unserer Jugend, aber auch mit den gesellschaftlichen Umständen zusammen. Ich denke Jugendliche sind heute insgesamt gesehen weniger frustrationstolerant und sind nicht so leicht bereit, mal mit Misserfolgen gelassener umzugehen. Dies liegt nun auch nicht nur an den Jugendlichen, sondern ebenso an der Erwartungshaltung der Erwachsenen. Ein weiterer wichtiger gesellschaftlicher Aspekt ist, dass auch Jugendliche und Kinder tagtäglich damit konfrontiert werden, dass Gewalt sich zumindest scheinbar lohnt. Tagtäglich lernen sie sozusagen am Modell, denken Sie zum Beispiel an die Selbstmordattentate im nahen Osten, dass man doch mit solchen Amoktaten, die das nun auch sind, diese Selbstmordattentate, irgendwie was bewegen kann, bewegen will. Insofern ist die Lage schon brisant.

    Zagatta: Welchen Einfluss haben aus Ihrer Sicht Gewaltvideos oder gewaltverherrlichende Computerspiele? Sind das tatsächlich Auslöser für solch einen Amoklauf?

    Freisleder: Darüber muss man oder kann man spekulieren, ob es in dem einen oder anderen Fall so ist, aber aus meiner gerade Gutachtererfahrung bei aggressiven Jugendlichen, die zu Gewalttaten neigen, ist es über zufällig häufig so, dass psychisch auffällige Jugendliche sich Horrorvideos und Killercomputerspiele geradezu reinziehen. Gerade in der Tatvorlaufzeit sieht man es oder erfährt man es nachträglich, wenn solche Jugendliche begutachtet werden, dass sie sich suchtartig exzessiv mit solchen Themen, mit solchen Filmen und Spielen beschäftigen, so dass ein Zusammenhang da ist, wenngleich auch hier nur ein ganz kleiner Kreis von gefährdeten Jugendlichen in Frage kommt.

    Zagatta: Würden Sie dafür plädieren, dass man diese Videos und Computerspiele verbietet?

    Freisleder: Ich wäre hier ehrlich gesagt ziemlich rigoros. Die Herstellung solcher Produkte sollte verboten werden. Es sollte auch sehr wohl überlegt werden, was im Fernsehen zu sehen ist, gerade auch was zu später Stunde zu sehen ist. Ich weiß von Jugendlichen, die großes Interesse am Sehen solcher Filme haben, dass sie ihre Videorekorder entsprechend programmieren. Ich würde hier doch zu einschneidenden Veränderungen raten.

    Zagatta: Würden sich solche Jugendliche, die so einen Amoklauf planen, auch von schärferen Sicherheitsvorkehrungen abhalten lassen, oder würde das wenig bringen?

    Freisleder: Wenn Sie mit schärferen Sicherheitsvorkehrungen jetzt die bewachte Schule meinen und den Waffendetektor an der Schultüre, dann weiß ich nicht, ob das auf lange Sicht der richtige Weg ist. Es wäre schade, wenn man unsere Schulen in Festungen verwandeln würde, aber insgesamt eine wie schon gesagt größere Hellhörigkeit, ein Ablenken von dem Konsum von Horrorvideos und entsprechenden Computerspielen und insgesamt mehr Wachsamkeit auch in den Schulen, mehr Konfliktbereitschaft wären schon ein kleiner Weg in die Richtung.

    Zagatta: Franz-Josef Freisleder war das, der Direktor der Münchener Heckscher-Klinik für Jugendpsychiatrie. Mitgehört hat Konrad Freiberg, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei. Guten Morgen Herr Freiberg!

    Freiberg: Schönen guten Morgen Herr Zagatta.

    Zagatta: Herr Freiberg, das hier angesprochene Verbot von Gewaltfilmen und solchen Killercomputerspielen, das fordert ja auch die Polizeigewerkschaft. Aber wie realistisch ist das?

    Freiberg: Ich halte das für sehr realistisch. Wir müssen erst mal dazu kommen, dass wir uns gesellschaftlich einig sind, dass wir diese Art von Gewaltverherrlichung sozusagen nicht haben wollen. Das ist ja der erste Schritt, dass wir uns darüber einig sind. Da muss man natürlich überlegen, wie man dieses realisieren kann. Wer sich einmal etwa diese Horrorvideos angeschaut hat, wie dort Menschen abgeschlachtet werden, wo die Gedärme herausgucken, wer einmal so einen Mist gesehen hat, der wird mir zustimmen: so etwas brauchen wir gesellschaftlich nicht und so etwas gehört verboten. Ich weiß wie schwierig Abgrenzungen sind; ich weiß auch wie schwierig es ist, gerade in Fragen des Internets.

    Zagatta: Das wollte ich Sie fragen. Wie wollen Sie das im Internet umsetzen? Wer soll Jugendliche daran hindern, sich solche Filme oder Spiele dann irgendwo aus dem Internet herunterzuladen?

    Freiberg: Das ist sicherlich schwierig. Wir können aber bei Videofilmen erst mal anfangen, dass es die nicht zu kaufen gibt, in keinen Geschäften. Damit ist erst mal der Zugang wesentlich schwieriger. Die Frage des Internets? Natürlich ist es schwierig, mit ausländischen Providern zu reden und dort Einfluss zu haben, insbesondere auf amerikanische Provider. Aber ich glaube der erste Schritt muss sein, dass wir dieses gesellschaftlich nicht haben wollen, und diese Zeichen müssen zunehmen.

    Zagatta: Die Gewerkschaft der Polizei fordert jetzt ja auch, das Waffenrecht noch weiter als geplant zu verschärfen. Illegaler Waffenbesitz müssen härter bestraft werden. Hätte das denn den Amoklauf von Erfurt überhaupt verhindert? Der Täter hat doch diese Waffen ganz legal besessen.

    Freiberg: Natürlich darf man sich jetzt nicht nur auf diesen Fall konzentrieren und somit Maßnahmen fordern, die mit diesem Fall zusammenhängen, sondern es geht darum, insgesamt Gewalt in unserer Gesellschaft, Jugendgewalt zu verhindern und dort zu Verbesserungen zu kommen. Wenn man die Vorschläge anschaut, die wir zur Verschärfung des Waffengesetzes gemacht haben - und die sind nicht erst seit diesen Tagen entstanden; schon vorher -, so wollen wir einmal, dass insgesamt derjenige, der illegal eine Schusswaffe bei sich hat, somit zu erkennen gibt, dass er sie auch gebrauchen möchte, als Verbrecher bestraft wird. Dadurch kann man den wirklich besser sozusagen per Haftbefehl wegsperren. Das muss ganz deutlich werden. Das zweite ist dann natürlich der Vorschlag, der jetzt aktuell wird, den Zugang zu Waffen für die Altersgruppe 18 auf 21 Jahre zu erhöhen. Somit hätte man die Tat rein theoretisch verhindern können. Aber das soll man jetzt nicht immer nur auf diesen Fall beziehen. Dann fordern wir bundeseinheitlich ein Waffenregister. Das bedeutet: wir wollen die Übersicht haben, wer hat in der Bundesrepublik überhaupt eine Waffe. Ich glaube das würde uns dann in der Prävention auch weiterhelfen.

    Zagatta: Genau diese Forderungen haben Sie aber auch nach den Schüssen von Bad Reichenhall oder Freising schon einmal erhoben. Woran liegt es denn, dass es sich nicht durchsetzt?

    Freiberg: Ja, es gibt Interessenlagen: einerseits natürlich durch die Schützenvereine, den Lobbyismus, aber auch in erster Linie durch die Länder. Die Länder sind nicht bereit, wie sie argumentieren, diesen Verwaltungsaufwand zu betreiben. Ich bin mir ganz sicher: wenn unsere Vorschläge realisiert werden würden - und ich hoffe jetzt, dass sie realisiert werden -, dann könnte man viel Gewalt in dieser Gesellschaft verhindern. Ich hoffe, dass die Bundesländer zur Einsicht kommen.

    Zagatta: Jetzt gibt es ja auch die Forderung, Herr Freiberg, dass deutsche Schulen, die bisher mehr oder minder unkontrolliert zugänglich sind, ihre Sicherheitsmaßnahmen verschärfen müssen. Welche Position vertreten Sie da?

    Freiberg: Schulen sind zum Lernen da, sind Begegnungsstätten von jungen Menschen, sind zur Erziehung, zur Werteerhaltung da. Da passt es nicht, sozusagen Sicherheitsschleusen zu machen. Ich halte das auch wirklich für eine unrealistische Diskussion dabei. Wir sollten uns bemühen, im menschlichen Verhalten mehr Aufmerksamkeit, mehr Sensibilität im Miteinander, mehr Kommunizieren, mehr Verantwortungsgefühl von Lehrern und eine bessere Zusammenarbeit zwischen Schülern, Lehrern und Eltern zu erreichen.

    Zagatta: Die Polizeigewerkschaft in Baden-Württemberg hat jetzt erklärt, Polizeipräsenz an den Schulen dürfe kein Tabu mehr sein. Tragen Sie das nicht mit?

    Freiberg: Die Frage ist, was man jetzt darunter versteht. Polizeipräsenz bedeutet für mich - und das gibt es natürlich in Einzelfällen -, dass die Polizei an die Schulen eingeladen wird, um über Prävention, Verhinderung von Kriminalität, Drogenkriminalität insbesondere dort mit den Jugendlichen zu reden. In diesem Sinne Polizeipräsenz ja, aber nicht in dem Sinne, sozusagen Wache zu stehen, um zu warten, bis dort irgend etwas passiert.

    Zagatta: Wie reagiert denn die Polizei auf das Blutbad von Erfurt in den eigenen Reihen? Werden Polizisten jetzt angehalten, mit wesentlich mehr Vorsicht in die Schulen hineinzugehen, wenn sie zur Hilfe gerufen werden, oder war das vorher schon ganz genauso?

    Freiberg: Natürlich wird jeder Fall, der passiert, bundesweit von uns ausgewertet. Die Erkenntnisse werden gesammelt, Verbesserungen werden sozusagen eingearbeitet in die bestehenden Richtlinien. Jeder Fall muss sozusagen dazu führen, das eigene Verhalten zu überprüfen: einerseits natürlich in der Aus- und Fortbildung, in der Waffenkunde, aber auch in der Eigensicherung des einzelnen Beamten. Es bleibt immer zu hoffen, dass man immer daraus lernt.

    Zagatta: Konrad Freiberg, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei. - Herr Freiberg, ich bedanke mich für das Gespräch!

    Link: Interview als RealAudio