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Nach dem Missbrauchsurteil in den USA
"Es ging nicht um die Athletinnen, sondern ausschließlich um Medaillen"

Das Urteil gegen Larry Nassar schlägt Wellen. Unter Tränen berichteten US-Turnerinnen vor Gericht von der Gewalt, die ihnen von dem ehemaligen Teamarzt angetan wurde - und die sie sich aus lauter Verzweiflung selbst antaten, berichtet Andrea Schültke. Angesichts der Enthüllungen könne auch der deutsche Sport sich nicht zurücklehnen.

Andrea Schültke im Gespräch mit Astrid Rawohl | 28.01.2018
    Die ehemalige US-Turnerin Mattie Larson sagte vor Gericht gegen Larry Nassar aus
    Die ehemalige US-Turnerin Mattie Larson sagte vor Gericht gegen Larry Nassar aus. Sie verletzte sich selbst, um nicht am Training teilnehmen zu müssen. (dpa/Lansing State Journal)
    Astrid Rawohl: Es ist etwas passiert, seit der ehemalige Teamarzt der US-Turnerinnen am vergangenen Mittwoch zu bis zu 175 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, wegen sexuellem Missbrauch von teilweise minderjährigen Turnerinnen. Fast 160 Betroffene hatten im Gericht ihre Geschichte erzählt, und unter anderem schwere Vorwürfe gegen Verantwortliche erhoben. Als Folge ist der gesamte Vorstand des US-Gymnastik Verbandes ist zurückgetreten. Und auch die Präsidentin der Universität Michigan, wo Nassar ebenfalls gearbeitet und junge Turnerinnen missbraucht hatte. Das Verfahren hat viele erschütternde Einblicke geliefert – auch in den teilweise brutalen Trainingsalltag, der Missbrauch begünstigt. Andrea Schültke, Sie haben Aussagen herausgesucht, die Beleg dafür sind. Worum geht es?
    Andrea Schültke: Viele ehemalige Top-Turnerinnen haben mit Abscheu von der Karolyi-Ranch berichtet. Eine große Trainingsanlage, in Kooperation mit dem US-Verband, in der die Turnerinnen regelmäßig Trainingslager abhielten. Völlig abgeschieden von der Außenwelt. Geleitet wurde das ganze von dem rumänischen Ehepaar Bela und Marta Karolyi. Die hatten schon die fünfmalige Olympiasiegerin Nadia Komaneci, eine der brühmtesten Turnerinnen aller Zeiten, groß gemacht. Auch Larry Nassar war immer vor Ort. Vize-Weltmeisterin Matti Larson berichtete am Dienstag über sexuellen Missbrauch wie sie ihn auf der Ranch erlebt hat, im Beisen ihrer Teamkolleginnen:
    "Der Missbrauch fand in einem großen Raum statt, wo alle Fernsehen guckten. Die Behandlungstische hinten im Raum. Und ich dachte, wenn er es im Beisen der anderen macht, dann kann es nichts schlechtes sein, oder?"
    Auch Verbands-Trainerin Debbie van Horn sei dabei gewesen. Seit drei Tagen ist auch Debbie van Horn nicht mehr im Amt.
    Larson verletzte sich selbst, um nicht trainieren zu müssen
    Rawohl: Das erklärt sich vielleicht auch, warum die vielen Turnerinnen sich nicht früher gemeldet haben, sie dachten einfach es gehöre dazu. Die Ranch ist inzwischen geschlossen. War sexueller Missbrauch durch Larry Nassar, der auch dort stattgefunden hat, der einzige Grund für die Schließung?
    Schültke: Absolut nicht, es ging auch um brutale Trainingsmethoden und den Umgang mit den Athletinnen. Auch das kam an die Öffenbtlichkeit im Rahmen der Aussagen der Athletinnen vor Gericht: Bei der Ankunft auf der Ranch sei den Turnerinnen direkt jegliches Essen abgenommen worden, was sie dabei hatten. Matti Larson berichtet von einer massiven Essstörung, die sie dadurch entwickelt habe. Sechs Jahre lang habe sie täglich bis zu 15 verschiedene Abführmittel konsumiert:
    "Sechs bis sieben Stunden Training, sechs Tage die Woche, teilweise ohne einen Schluck zu trinken und danach überfraß ich mich, als ich zurückkam. Dachte nach jedem Training, ich würde ohnmächtig."
    Auch mit schweren Verletzungen habe sie turnen müssen, teilweise mit gebrochenen Knochen. Es sei so schrecklich gewesen, dass sie Panikattacken bekam und sich sogar selbst verletzt hat, um nicht in dieses Trainingslager zu müssen. Unter Tränen hat sie erzählt, sie legte eine nasse Badematte auf den Boden und:
    "Ich schlug meinen Hinterkopf gegen die Badewanne, sodass es aussah wie ein Ausrutscher und damit ich eine Beule bekam. Meine Eltern brachten mich ins Krankenhaus, sie dachten ich hätte eine Gehirnerschütterung."
    Kaum vorstellbar und zeigt, es ging nicht um die Athletinnen, sondern ausschließlich um Medaillen.
    "Es geht auch um Medikamentenmissbrauch"
    Rawohl: Matti Larson ist ja nicht die einzige, die von diesem Horrortraining und dem Missbrauch auf der Ranch berichtete. Simone Biles, die derzeit beste Turnerin der Welt, viermalige Olympiasiegerin von Rio, hatte ja vor kurzem berichtet, ebenfalls Opfer von Larry Nassar zu sein. Auch auf der Ranch. Und damit sind wir auch bei einer anderen Facette, des Missbrauchs, Puzzleteile lassen sich zusammensetzen, welche?
    Schültke: Es geht um Medikamentenmissbrauch. Matti Larson hat von diversen Abführmitteln berichtet, die sie genommen hat. Larry Nassar war der einzige Arzt, den die Turnerinnen konsultieren durften. Die Ranch war weit abgelegen. Es ist also nicht auszuschließen, dass Larry Nassar diese Medikamente verteilt hat. Dazu passt eine Information, die die - vermutlich russische Hackergruppe "Fancy Bears" im Herbst 2016 rausgepustet hat. Nämlich, dass Simone Biles während der Spiele von Rio, wo sie viermal Gold gewonnen hatte, eine medizinische Ausnahmegenehmigung hatte und die verbotene Substanz Methylphenidat einnehmen durfte. Das ist ein Mittel gegen Aufmerksamkeitsdefizitstörungen. Eine der Nebenwirkungen: Appetitlosigkeit und Leistungssteigerung. Klingt nach einem perfekten Mittel fürs Turnen
    Vor dem Hintergrund, den auch Matti Larson geschildert, auch mit kaputten Knochen und Schmerzen antreten zu müssen, kann man meiner Ansicht nach nicht ausschließen, dass Larry Nassar in diesem geschlossenen System den jungen Athletinnen auch Medikamente gegeben hat, die sie dann auch genommen haben, weil sie so gedrillt wurden, dass sie nichts in Frage gestellt haben. Da stellt sich dann auch die Frage, ob möglicherweise auch Dopingmittel darunter waren. Dafür gibt es aber keinerlei Belege und das war in den Aussagen im Prozess auch kein Thema.
    "Der deutsche Sport kann sich nicht zurücklehnen"
    Rawohl: Das war jetzt alles in den USA. Kann sich denn der Sport in Deutschland ausruhen, das in einen anderen Kontinent schieben und sagen, bei uns gibt es so etwas nicht?
    Schültke: Keinesfalls. Wir wissen ja aus der Studie "Safe Sport" von vor anderthalb Jahren, dass es auch im deutschen Sport sexuelle Übergriffe gibt. Ein Drittel aller Athletinnen und Athleten hat das schon erlebt, so die Studie. Aber Ende vergangenen Jahres gab es noch weitere Befunde, die sich auch auf die Trainingskultur beziehen, sagt Bettina Rulofs, Projektleiterin von der Sporthochschule Köln. Demnach haben 86 Prozent der Befragten emotionale Gewalt im Sport erlebt:
    "Also beschimpft zu werden, bedroht zu werden, gemobbt zu werden im Kontext des Sports."
    Und 30 Prozent haben von körperlicher Gewalt berichtet, die sie im Umfeld des Sports erfahren haben, und zwar nicht durch Kampfsportarten. Daran seien sowohl Trainer als auch Trainingspartner beteiligt. Das sind Zahlen, bei denen der deutsche Sport sich nicht zurücklehnen kann.