Montag, 13. Mai 2024

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Nach dem Mord an Jo Cox
"Wir müssen versuchen, Politik zu versachlichen"

Nach dem Mord an der britischen Labour-Abgeordneten Jo Cox wirft der CDU-Außenpolitiker Karl-Georg Wellmann die Frage nach der Schuld von Politikern an derartigen Attentaten auf. Wenn diese versuchten, ihre Wähler zu radikalisieren, dürfe man sich nicht darüber wundern, "wenn irgendwelche Wirrköpfe dann zur Selbstjustiz greifen", sagte Wellmann im DLF.

Karl-Georg Wellmann im Gespräch mit Mario Dobovisek | 17.06.2016
    Der CDU-Bundestagsabgeordnete Karl-Georg Wellmann
    Spricht von einer "kollektiven Psychose" in der Welt: Der CDU-Bundestagsabgeordnete Karl-Georg Wellmann im Interview mit dem Deutschlandfunk. (Imago)
    Mario Dobovisek: Die Briten in Schockstarre nach dem Mord an der linken Abgeordneten Jo Cox gestern auf offener Straße. Erstochen und erschossen wurde sie und viele Fragen bleiben offen, vor allem jene nach den Motiven. Cox setzte sich für einen Verbleib Großbritanniens in der EU ein, für Migranten, für Frauenrechte. Die Kampagnen für das Referendum nächste Woche jedenfalls wurden vorübergehend ausgesetzt.
    Am Telefon begrüße ich den CDU-Außenpolitiker Karl-Georg Wellmann. Guten Morgen, Herr Wellmann.
    Karl-Georg Wellmann: Guten Morgen.
    Dobovisek: Was war Ihr erster Gedanke, als Sie vom Angriff auf Jo Cox erfuhren?
    Wellmann: Mein erster Gedanke ist, dass man den Eindruck hat, es gibt eine kollektive Psychose in der Welt. Aber der zweite Gedanke ist, welche Schuld haben eigentlich Politiker an diesen Vorfällen, an dieser Psychose. Wenn englische Politiker hingehen, auch konservative Politiker wie Boris Johnson, die EU mit Adolf Hitler vergleichen, dann darf man sich nicht wundern, wenn irgendwelche Wirrköpfe dann zur Selbstjustiz greifen.
    Gucken Sie sich an, was in Amerika passiert, in Florida, diese schrecklichen Morde in dem Nachtclub, und anschließend sagt Senator McCain, der US-Präsident Obama sei persönlich schuld, und bei uns laufen die Leute Rattenfängern wie Herrn Gauland hinterher. Das ist ein Problem der Politik und das müssen wir in den Griff kriegen.
    Kollektive Psychose: "Daran haben Rattenfänger schuld, die daraus versuchen, ihr Süppchen zu kochen"
    Dobovisek: Sie sehen einen klaren Zusammenhang zur Emotionalität, zur Radikalisierung auch in der Brexit-Debatte?
    Wellmann: Ja natürlich! Wenn Politiker einfachen Gemütern unter den Wählern erklären, die Welt geht unter, wir werden überfremdet, es kommen zu viele Flüchtlinge, was objektiv gar nicht der Fall ist. Sehen Sie mal: Deutschland geht es wunderbar. Wir hatten noch nie so viele Arbeitsplätze wie jetzt. Wir haben Lohnsteigerungen.
    Und es laufen viele herum, die denken, es sei eine Endzeitstimmung und Deutschland geht unter. Das ist es, wenn ich von kollektiver Psychose rede, und daran haben Leute schuld, daran haben Rattenfänger schuld, die daraus versuchen, ihr Süppchen zu kochen.
    Dobovisek: Rattenfänger oder jene, die versuchen, die Rattenfänger zu stoppen, aber es nicht schaffen.
    Wellmann: Ja, das ist richtig. Man hofft auf die Vernunft, gerade bei Briten. Großbritannien ist ja das Mutterland des Parlamentarismus, der nüchternen sachlichen Politik, und ich hoffe, dass das da nicht vollends verloren geht.
    Brexit: "Die Kampagne müsste eigentlich aufhören"
    Dobovisek: Welche Konsequenzen sollte dieser Vorfall haben? Wir wissen ja noch nicht viel über die genauen Hintergründe, über die Motivlage. Welche Konsequenzen sollte das jetzt für die Kampagne in Großbritannien haben und auch für das Referendum?
    Wellmann: Die Kampagne müsste eigentlich aufhören. Es ist kein Wahlkampf. Es ist eine Interessenabwägung in Großbritannien, ob es besser für das Land und für Europa ist, wenn Großbritannien dabei bleibt, wovon ich persönlich sehr überzeugt bin. Wir brauchen England in der Europäischen Union aus vielen Gründen.
    Und nicht den Eindruck hervorrufen, es geht um sein oder nicht sein, es geht ums Überleben der Nation, wenn man in Europa bleibt, geht England unter. Das ist alles furchtbar dummes Zeug und wenn man damit versucht, Wähler zu radikalisieren und zur Wahlurne zu bringen, dann wie gesagt gibt es solche Wirrköpfe, die zum Messer greifen.
    Dobovisek: Spricht im Grunde generell gegen Referenden auf dieser Ebene?
    Wellmann: Ja man muss damit sehr vorsichtig sein. Aber Sie können ja auch nach Deutschland gucken, was hier passiert. Dass Kollegen von uns mit türkischem Hintergrund Polizeischutz bekommen müssen, weil wir eine Abstimmung gemacht haben im Bundestag, die sehr sachlich war und die niemanden beleidigt und niemanden beschuldigt, …
    Russland versucht, mit einem "völlig überbordenden Nationalismus" Politik zu machen
    Dobovisek: Sie reden über die Armenien-Resolution im Deutschen Bundestag.
    Wellmann: So ist es. Auch das ist ein Zeichen, was wir sehr ernst nehmen müssen und gegen das wir mit aller Konsequenz vorgehen müssen, auch in der politischen Kultur.
    Dobovisek: Auch Sie sind Abgeordneter, Herr Wellmann, auch ein Freund der klaren Worte. Vor gut einem Jahr zum Beispiel haben Sie im ZDF gesagt, es sei ein russischer Krieg, und meinten damit den Konflikt in der Ukraine. Die Separatisten seien Werkzeuge der Russen. Die Konsequenz: ein Einreiseverbot für Sie. Fühlen Sie sich auch in Deutschland bedroht?
    Wellmann: Nein, ich fühle mich nicht bedroht, zumal die Gesprächskanäle nach Moskau ja nie abgerissen sind. Es kommen ja häufig Abgesandte, mit denen man spricht und die auch nach Lösungen suchen. Persönlich sehe ich keine Bedrohung. Politisch sehe ich schon für uns eine Bedrohung. Wenn unser größter östlicher Nachbar sich entschließt, ein anderes Land zu überfallen und militärisch vorzugehen, dann müssen wir darüber reden, dann muss das Konsequenzen haben, so wie Herr Juncker das ja auch mit Putin gestern in Petersburg besprochen hat.
    Dobovisek: Das ist die politische Dimension, Herr Wellmann. Aber Sie sind sicherlich konfrontiert mit, sagen wir es genau so wie Sie es vorhin gesagt haben, Wirrköpfen, die Sie anschreiben, die Ihnen vielleicht sogar auflauern. Beschreiben Sie mal, wie sind Sie damit konfrontiert?
    Wellmann: Ich sehe meine persönliche Sicherheit nicht bedroht. Wir fühlen uns auch gut geschützt von den zuständigen Stellen. Das ist nicht das Problem. Wir müssen versuchen, Politik zu versachlichen. Auch in Russland gab es ja lange Zeit einen völlig überbordenden Nationalismus, ähnlich wie in anderen Ländern. Die russische Regierung hat versucht, damit Politik zu machen und Zustimmung zu bekommen bei den Menschen. Es wurde ja lange von einer faschistischen Gefahr gesprochen.
    Wenn man als schlichter russischer Bürger auf dem Dorf sich nur aus russischen Medien informiert hat und nicht ins Internet guckte, dann konnte man ja den Eindruck haben, die Waffen-SS ließe schon wieder die Panzermotoren warmlaufen. Das ist so furchtbar abwegig, dass man wirklich mit der russischen Führung darüber sprechen muss. Das passiert ja auch, das tut ja auch die Bundeskanzlerin, und deshalb ist es richtig, dass gesprochen wird, jetzt zuletzt durch Herrn Juncker, und das versuchen wir alle. Wir versuchen alle, unseren Beitrag zu leisten, dass es besser wird.
    "Russland ist unberechenbar"
    Dobovisek: Muss auch über die Rücknahme der Sanktionen gesprochen werden?
    Wellmann: Ja, natürlich. Die Sanktionen sind kein Selbstzweck und es gibt sehr viel intelligentere Methoden, miteinander umzugehen, als aufzurüsten, als einander zu bedrohen, als sich wie in der Ukraine totzuschießen, und darüber müssen wir sprechen. Es ist viel intelligenter, den Wohlstand unserer Völker zu mehren, Handel zu treiben. Wandel durch Handel ist immer noch ein Wort, was gilt, was ich für richtig halte. Und wir hoffen sehr, dass die Russen wieder zurückfinden zu einer europäischen Friedensordnung, denn das ist das Problem.
    Russland hat alle Verträge verletzt, die sie selbst unterschrieben haben. Russland hat seinen Nachbarn überfallen und dem Land geraubt, nichts anderes ist passiert, und Russland ist unberechenbar und deshalb musste der Westen und die NATO reagieren, aber andererseits die Hand ausgestreckt lassen und zu sagen, wir wollen mit euch zusammenarbeiten, zum Wohle aller, vor allem zum Wohle Russlands, dem es wirtschaftlich nicht gut geht und das eigentlich die Kooperation mit dem Westen braucht, und das ist Aufgabe von Politik. Das ist nicht immer einfach, aber wir dürfen nie nachlassen.
    Dobovisek: … sagt Karl-Georg Wellmann (CDU), Außenpolitiker im Bundestag und Vorsitzender der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe. Ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch.
    Wellmann: Danke Ihnen! - Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.