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Nach dem Tod von Adam Zagajewski
Poesie für Anfänger

Am 21. März starb der polnische Dichter Adam Zagajewski. Sein letzter Essayband beweist, dass Liebenswürdigkeit Teil seiner Poetik war. Diese gilt als mögliche Antwort auf die Zerrüttungen des 20. Jahrhunderts.

Von Katharina Teutsch | 18.04.2021
Der polnische Schriftsteller Adam Zagajewski und seine Essays „Poesie für Anfänger"
Der polnische Schriftsteller Adam Zagajewski und seine Essays "Poesie für Anfänger" (Foto: IMAGO/gezett; Buchcover: Hanser Verlag)
"Fragte mich jemand – was ist eigentlich dieses geistige Leben, das du in deinen Texten so gern erwähnst, selbstzufrieden, vielleicht sogar stolz, dass du so unmodern, so mutig bist..." Unmodern war der polnische Dichter Adam Zagajewski in seinem Bemühen, den magischen Kern der Poesie gegen die ironische Attitüde zu verteidigen. Und mutig, sich für ein Leben im Dienst der geistigen Arbeit entschieden zu haben. Man könnte leicht noch ein paar weitere Adjektive aus der Feder des Autors selbst hinzufügen, um den poetischen Kosmos des am 21. März Verstorbenen abzustecken: "Leidenschaftlich" ist ein seit Jahrzehnten wiederkehrender Imperativ seines Schaffens. Außerdem "vielseitig" und ""empathisch".

Arbeiten unter Publikationsverbot

Dabei haben viele den polnischen Dissidenten vor allem als politischen Autor verbucht. Seine Lyrik scheute ja nie den Bezug zu den Dingen des Alltags, auch des politischen Alltags im kommunistischen Polen. Zagajewski gehörte 1975 zu den Unterzeichnern des "Briefs der 59". Polnische Intellektuelle hatten sich darin gegen den Staatskommunismus nach Moskauer Art ausgesprochen. Zagajewski lebte daher ab 1976 in Polen mit Publikationsverbot. Nachdem die demokratische Bewegung im Land via Kriegsrecht zurückgedrängt worden war, verließ er 1981 das Land. Zunächst nach Deutschland.

Seit 9/11 weltberühmt

Seit 1988 lebte er in den USA und in Frankreich. Zu seiner Prominenz als engagiertem Autor trug nicht zuletzt sein Poem zum 11. September 2001 bei, abgedruckt im berühmten Magazin "New Yorker" war es in aller Munde.
"Du mußt die verstümmelte Welt besingen.
Du hattest die eleganten Jachten und Schiffe betrachtet;
eines davon hatte eine lange Reise vor sich,
ein anderes erwartete nur das salzige Nichts.
Du hast die Flüchtlinge gesehen, die nirgendwohin gingen.
Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen.
Du solltest die verstümmelte Welt besingen.
Denke an die Augenblicke, als ihr beisammen wart
in dem weißen Zimmer und die Gardine sich bewegte.
Erinnere dich an das Konzert, als die Musik explodierte.
Im Herbst sammeltest du Eicheln im Park
und die Blätter wirbelten über den Narben der Erde.
Besinge die verstümmelte Welt
und die graue Feder, die die Drossel verlor,
und das sanfte Licht, das umherschweift und verschwindet
und wiederkehrt."

Zwei Tage im Jahr aufgeregt

Mit dem Abdruck dieser Verszeilen wurde der Exilant aus Gliwice einem internationalen Publikum bekannt. Spätestens von da an galt er als natürlicher Kandidat für den Literaturnobelpreis. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk vor ein paar Jahren anlässlich der Verleihung des Heinrich-Mann-Preises durch die Berliner Akademie der Künste sagte er verschmitzt, er sei jeweils zwei Tage im Jahr aufgeregt. Den Tag vor der Bekanntgabe und den Tag der Bekanntgabe selbst. Das sei insgesamt wenig auf ein Jahr gerechnet.
Der Nobelpreis kann Adam Zagajewski nun nicht mehr verliehen werden. Dafür ist jetzt ein Band mit Essays in deutscher Übersetzung erhältlich. Er heißt "Poesie für Anfänger". Und der Name ist wirklich Programm. Denn der Dichter legt geduldig, und als würde er noch einmal zu seinen Anfängen zurückkehren, seine Rezeptur für die schreibende Nachwelt aus.
Er, der auch lange als Lehrer für creative writing in den USA gearbeitet hat, präsentiert Autoren und Autorinnen, die ihn beeinflusst haben, er wirft Schlaglichter auf Weggefährten der polnischen Literatur wie Czesław Miłosz, Wisława Szymborska und Zbigniew Herbert. Aber er hat auch die deutschen Autoren im Blick: Hölderlin, Goethe, Rilke, Kafka, Grass, um nur einige zu nennen.

Lebenslang mit Rilke

Zagajewskis Familie wurde nach dem Krieg aus Lemberg vertrieben. Zuhause wurde neben polnisch auch deutsch gesprochen. Zu einer aktiven Sprache des Dichters wurde das Deutsche allerdings erst nach einer Romanlektüre: "Die Blechtrommel" begleitet von einem Wörterbuch war der Beginn einer langen, intensiven Bekanntschaft mit der deutschen Sprache.
Aber Zagajewski machte viele Sprachbekanntschaften. Er war ein polyglotter Europäer, der fließend Englisch und Französisch sprach. Und als er vor neun Jahren wieder zurück nach Krakau zog, da hatte er ein Leben voller lebens- und sprachweltlicher Wendungen hinter sich.
Ein Dichter, der ihn ein Leben lang begleitete, war Rainer Maria Rilke. Ihm ist der erste Essay im Band gewidmet. "Rückkehr zu Rilke" entfaltet, welches intellektuelle Spannungsfeld Zagajewski am meisten faszinierte:
"Was an Rilkes symbolischem Status so anziehend ist, hat fast nichts mit der äußeren Wirklichkeit seiner Zeit zu tun. Rilke war nicht – wie Goethe – ein ausdrücklicher Vertreter seiner Epoche, sondern eher ein kalligraphisches Fragezeichen."

Ohne Flagge oder Nationalhymne

Das unablässige Reisen, die Unfähigkeit, an die Traditionen seiner böhmischen Herkunftsfamilie anzuschließen, die Herkunft vom Rand des Habsburger Reichs: Das alles machte Rilke als Dichter zu einem Ort- und Zeitlosen, zu einem Unangepassten, der gleichzeitig aber auch mit den Emanationen der Moderne fremdelte.
"In den Elegien befinden wir uns weder in der Schweiz noch in Österreich, Frankreich oder Deutschland. Das Poem 'Das wüste Land', die angelsächsische Entsprechung von Rilkes Meisterwerk, ist, wie wir wissen, in London angesiedelt. Die 'Duineser Elegien' dagegen schaffen einen Raum, der nie eine Flagge oder Nationalhymne haben wird – es ist der menschliche Raum par excellence, und bei der in einer der Elegien erwähnten Post könnten wir vielleicht Briefmarken kaufen (aber in welcher Währung?), es würde sich allerdings herausstellen, dass der Kosmos selbst sie in Umlauf gebracht hat, kein konkreter, zur UNO gehörender Staat. Doch die in den Elegien dargestellten menschlichen Leidenschaften, Sehnsüchte und Situationen erkennen wir sofort als unsere eigenen."

Kein mystischer Hedonismus

In Zagajewskis Engführung von Künstlerbiographie, feinsinniger Lektüre und Impuls zum eigenen Schreiben geht es also genau darum, den Raum abzustecken, in dem große Poesie entstehen kann. Weder "mystischer Hedonismus" führt hier laut Zagajewski zum Ziel. Noch übertriebene Hurtigkeit in tagespolitischen Dingen.
"In kommunistischen Zeiten haben wir gesehen, wie die Ideologie die Literatur formen kann. Das hat in Polen nicht lange gedauert, doch eine Zeitlang war es so – selbst herausragende Intellektuelle erlagen für einige Jahre der hegelianisch-marxistischen Illusion, die etwas Großartiges, nämlich die Befreiung des Menschen versprach und in der Praxis zu dessen Demütigung und Unglück führte. Goethe sagte sinngemäß (ich zitiere nach Sebastian Kleinschmidt): 'Solange die Epoche dauert, kann man keinen Standpunkt finden, von dem aus man sie beurteilen könnte.' Und dennoch versuchen wir es alle."
Rilkes achte Duineser Elegie, die Zagajewski an anderer Stelle im Buch zitiert, kann auch vor diesem Standpunkt aus gelesen und verstanden werden:
"Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus!
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst."

Die Brüder Mann streiten souverän

Es sind also die Dichter des Zweifels und des Zögerns! Ihnen gilt Zagajewskis Sympathie. Ihnen gilt sein philosophisches Interesse. Es sind Dichter wie Apollinaire, der in seinem berühmten Gedicht "La jolie Russe", die "Querelle des Anciens et des Modernes", nicht entscheidet, sondern stattdessen mit der Liebeserklärung an eine "hübsche Rothaarige" endet.
"Wie charakteristisch für diesen Dichter! Statt einer 'Lösung' des dargestellten intellektuellen Dilemmas zu finden, verlässt er das Gedicht im Tanzschritt, im Tanz einer neuen Melodie."
Zu diesem virtuosen Spiel mit dem unversöhnlichen Gegensatz gehört exemplarisch auch der Briefwechsel von Heinrich und Thomas Mann. Zwei Brüder mit unterschiedlichen künstlerischen Ambitionen und literarischen Temperamenten. Vor allem aber mit grundverschiedenen Auffassungen vom Leben und dem passenden politischen Profil. Ihr Briefwechsel war Mitte der siebziger Jahre in Polen erschienen. Als historisches Dokument aus Zeiten, die eigentlich längst vergangen waren.
"Ganz offensichtlich war etwas an dem Streit zwischen Heinrich und Thomas immer noch aktuell, er hatte etwas Echtes an sich. Ich gab dem Artikel den Titel 'Wurden wir aus dem Sattel gehoben?' – mit einem Fragezeichen am Ende. Offenkundig beneidete ich die Brüder Mann ein wenig um die Lebendigkeit ihres Streits. Vor dem Hintergrund der toten, verlogenen Übereinkunft, die im Geistesleben der realsozialistischen Länder als potjomkinsche Fassade diente (und die in Polen bald schon durch offene Kritik am System ersetzt werden sollte), erschienen mir die schwierigen Dilemmata der beiden begabten Brüder beachtenswert, lebendig, ja sogar attraktiv. Beide sprachen als souveräne Menschen, als Menschen, deren Ansichten einander nicht glichen, sondern völlig unabhängig und authentisch waren. In der Polemik war der Geist der Freiheit zu spüren."

Ebenmaß bringt Mittelmaß

Zagajewskis letzter Gedichtband hieß "Asymmetrie", und dieser Titel erscheint jetzt im Rückblick wie eine Überschrift über sein Lebenswerk. Denn ohne Asymmetrie kann es gar kein Werk geben. Das Ebenmaß bringt meist nur Mittelmaß. Und das einseitige Extrem nur Extremismus.
Als junger Dichter in Polen hatte Zagajewski sich als Autor systemkritischer Gedichte versucht. Aber er merkte, schreibt er in einem Essay, dass die Poesie künftig andere Quellen des Wissens würde anzapfen müssen.
"In Bereichen höherer Komplexität, in der Fähigkeit, die Vielheit der Welt anders als durch die moralische Verurteilung des ideologischen Gegners zu erfassen."
Erst in der Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven darzustellen, entstehe eine Vielseitigkeit des Sachverhalts, die poetische Werke in der Regel haltbarer mache. In einem frühen Gedicht heißt es bei Zagajewski einmal programmatisch:
"Das Gedicht wächst/ aus dem Widerspruch, aber/ es wächst diesen nicht zu".

Die Ringe des Saturn

Haltbarer bei Zagajewski heißt deswegen auch immer: metaphysisch wirksamer. Und das ist nicht jedem Autor gegeben. W.G. Sebald etwa gehöre in "Klugheit, Form und Kontinuität", zu den Meistern eines "pessimistischen Manierismus". Doch Sebald sei ein Autor der "stilistischen und gedanklichen Einseitigkeit" gewesen. Ähnlich wie Thomas Bernhard.
Seine Welt sei deswegen – wenn auch faszinierend in ihrer düsteren Monotonie – tot; nicht ästhetisch, sondern philosophisch tot. "Die Ringe des Saturn", Sebalds 1995 erschienenes Buch, habe er zwar gierig verschlungen. Aber er habe es kein zweites Mal lesen wollen. Erst nachher sei ihm aufgegangen, weshalb:
"Hier dominiert der Tod, nicht das Leben. Um das festzustellen, genügt die einmalige Lektüre."
Zagajewski liefert mit dieser Lektürehaltung zu einer "culture morte" wie nebenbei eine interessante Rezeptionstheorie. Und das ist typisch für seine Schreibweise. Er macht eigentlich nie viel Wind um seine Erkenntnisse. Manchmal überliest man sie fast. Dann staunt man wieder über diese in lauter Freundlichkeit eingebettete Luzidität des Urteils.

Wunschtraum von Gerechtigkeit

Es ist Sebalds Unfähigkeit, Trost zu finden und Trost zu spenden, die Zagajewski dazu veranlasste, sich wieder von ihm zu trennen. Seine Verbissenheit bei der Suche nach den moralischen Verfehlungen seines literarischen Lieblingsfeinds Alfred Andersch, war Zagajewski suspekt – menschlich und poetologisch.
"Ein Schriftsteller muss – solle – kann – angesichts der Realität, in der er lebt, das Bestehende dem gegenüberstellen, was sein könnte, was vielleicht nur ein Traum, nur eine Hoffnung oder auch nur ein Geistesblitz ist. ... Das Bestehende ist oft düster, grausam, misslungen, aber Dichter und Prosaschriftsteller betrachten das, was ist, im Licht eines Streichholzes. Dieses Streichholz, dieses Flämmchen, ist der Wunschtraum, der Wunschtraum von Gerechtigkeit, der fast nie direkt ausgesprochen, nie deklariert wird, denn Schriftsteller sind keine Ideologen, oder gesellschaftliche Aktivisten. Sebald ist und bleibt ein großer Schriftsteller, aber bisweilen haben wir den Eindruck, dass sein Streichholz ausgegangen ist."

Politische Emotionen

Als Gegengift zu Sebalds Pessimismus empfiehlt Zagajewski die in Deutschland völlig unbekannte polnische Autorin Hanna Malewska, die mit historischen Romanen wie "Familienapokryph" in den sechziger Jahren bekannt wurde. Denn ihr großes Thema sei die Kontinuität "malgré tout" gewesen.
Ihr hervorragender Roman "Die Gestalt dieser Welt vergeht" ist eine große Meditation eben darüber, eine Meditation, die aus der Frage resultiert, wie es kommt, dass zahllose Katastrophen, Dramen, radikale Änderungen, erzwungene und freie Konversionen, Übergänge von einem Herrscher zum anderen, Massaker, Momente der Angst und des Hungers, Momente des Neuanfangs bei null, Stunden des Abschieds von unseren Angehörigen, aber auch kurze Augenblicke des Glücks – das all das die grundlegende feuerbeständige Substanz des menschlichen Lebens doch nicht zerstört, nicht zerstören kann.
Ein anderes Buch, das über schreckliche Dinge so spricht, dass am Ende das Leben, nicht der Tod darin obsiegt, stammt von Aleksander Wat. "Jenseits von Wahrheit und Lüge. Mein Jahrhundert" heißen seine verschriftlichten Tonbandaufnahmen aus den Jahren 1926–1945.b Sie gelten heute neben den Zeugnissen Nadeschda Mandelstams oder Alexander Solschenizyns als kanonische Lagerliteratur in Polen. Wat hat jahrelang in sowjetischen Gefängnissen eingesessen und damit den Terror der Stalinismus am eigene Leib erfahren.

Tiefe Transzendenz

Und obwohl das Buch die Grausamkeiten des Lageralltags, der Bürokratie und der alltäglichen Schikane drastisch schildert, ist es doch niemals bitter, findet Zagajewski. Es sei vielmehr ein
"Fest der Konversation, bisweilen spürt man die Freude am Denken –, vor allem aber aus einer Position der Weisheit heraus, die er den Erfahrungen und Irrtümern seines schweren und intensiven Lebens verdankte."
Wat war der Meinung, die literarische Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus müsse Distanz wahren. Sie dürfe nicht zur unmittelbaren Konfrontation, zur "Auseinandersetzung mit dem Kommunismus" werden, sondern müsse auf das "Leben und Sein auf einer völlig anderen geistigen Ebene" abzielen.
Was meinte er damit? Zagajewski sekundiert: Auf tiefe, die politischen Emotionen transzendierende Erlebnisse abzielen.

Vertikale Sehnsucht

Zagajewski bezeichnete seine Suche nach dem Transzendenten im eigenen Schreiben mal als "vertikale Sehnsucht". In seinen neuen Essays kann man an vielen Beispielen, in vielen Quellen und in vielen Exkursen verstehen, wie Zagajewski diese Facette der Dichtung zur Geltung bringen wollte. Was er als die Keimzelle der Poesie überhaupt ansah.
Inspiration – wo ist sie zu Hause, wo wohnt sie? Sie scheint keine feste Adresse zu haben, wir sind für sie nur eine Art Hotel – ein Stundenhotel.
Diese Sätze finden sich in einem Essay, dem Zagajewski den Titel "Inspiration und Hindernis" gegeben hat. Und darin widmet er sich offenherzig dem Dilemma des Dichters in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts: Inspiration zu finden oder zu empfinden. Die Dichtung sei, so habe schon Czesław Miłosz erkannt, von zwei Gefahren bedroht:
"Erstens den allmählichen Verlust der reichen Materie, aus der Dichtung entsteht (der Substanz, die unter dem Druck der Moderne schrumpft), und zweitens den drohenden, vielleicht unwiderruflichen Verlust der Glaubwürdigkeit, der sich eine Dichtung ausgesetzt sähe, die die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ignorieren, die es nicht schaffen würde, die Shoah und den Archipel Gulag in ihre Vorstellungskraft einzubinden. Diese beiden Gefahren stehen in einem starken Widerspruch zueinander, so jedenfalls scheint es: Will man den göttlichen Funken bewahren, so darf man sich nicht auf das schrecklichste, finsterste Gebiet der jüngsten menschlichen Erfahrung begeben, das mit der Asche des Völkermords bedeckt ist. Hier, an diesen düsteren Orten, die man weder beschreiben noch begreifen kann, ist sogar die Milch schwarz, wie in der 'Todesfuge' von Celan."

Was Poesie motiviert

Es ist also die denkbar schwierigste Aufgabe, die poetische Einbildungskraft zu verteidigen gegen die Zerstörungskräfte der Geschichte und wider die politischen Affekte der Gegenwart. Aber ist der Widerspruch vielleicht gar keiner, sondern das Wesen der Poesie selbst? In einem sehr schönen Essay über den portugiesischen Dichter Antonio Machado führt Zagajewski aus, was die Poesie motiviert und damit wirksam werden lässt. Es ist das Verhältnis von Konkretem und Abstraktion. Verzichtet die Dichtung auf greifbare Erlebnisse, bleibt sie reine Rhetorik. Verzichtet sie auf Phantasie, bleibt sie reines Dokument. Die Poesie ist ein unwahrscheinlicher Balanceakt. Das gelungene Gedicht ein Glücksfall.

Lemuren und Rostkappenpapageien

Ähnlich gefährdet ist eine andere Textart, der Adam Zagajewski das letzte Kapitel seines Buches widmet. Der Band endet mit einem Essay über die vom Aussterben bedrohte Textart des Essays.
"Wir haben keinen zeitgenössischen Montaigne, wir haben immer mehr Spezialisten, sogar die Dichter verwandeln sich bisweilen in Spezialisten", klagt er. Der Essay ist wesensverwandt mit der Poesie. Er ist im Falle seines Gelingens nie borniert. Er ist vielseitig und leidenschaftlich. Düster und hell. Konkret und abstrakt. Er verteidigt die Beweglichkeit der Gedanken. Und er hat immer einen Kern von Euphorie, aus der heraus er Windung um Windung einen funkelnden Gedanken zur Welt bringt.
"Lasst doch/ Den Dichtern den Augenblick der Freude/ Sonst geht eure Welt zugrunde", dichtete der polnische Nobelpreisträger Czesław Miłosz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist ein Appell, der auf Adam Zagajewski gemünzt zu sein scheint. Im Alter von 75 Jahren in Krakau gestorben, hinterlässt er das Werk eines melancholischen Dichters, den es immer zum Licht gezogen hat.
Adam Zagajewski: "Poesie für Anfänger"
aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidtgall
Hanser Verlag, München. 269 Seiten, 24 Euro.