Erler: Na, erst mal ist das natürlich ein spektakulärer politischer Erdrutsch, wenn praktisch ein ganzes parlamentarisches Parteienspektrum ausgewechselt wird und keine der bisherigen Parteien wieder Parlamentsniveau erreicht und keine altvertraute Partei, aber eine andere, die erst seit einem Jahr im Geschäft ist, sogar die absolute Mehrheit bekommt, dann hat das schon Seltenheitswert. Und es ist in dieser Minute natürlich noch sehr schwer, zu sagen, was das politisch für Folgen haben wird, weil wir über das Programm und die Ausrichtung dieser Partei auch im Wahlkampf relativ wenig erfahren haben. Die AKP hat profitiert von dem völligen Vertrauensverfall der bisherigen politischen Klasse, die eine dramatische Wirtschaftskrise ausgelöst hat mit sozialen Folgen für weite Bevölkerungskreise und hat dieses genutzt, hat vor allem um Vertrauen geworben für neue Leute, für neue Gesichter, hat aber zum Beispiel über Wirtschaftspolitik, was sie machen will, sehr wenig geäußert. Wir wissen nur, dass im Prinzip der pro-europäische Kurs fortgesetzt werden soll.
Engels: Sie haben es angedeutet: Zwar ist die frühere EU-Kritik, die auch von der AKP zu hören war, unterdessen einem offeneren Kurs gewichen, auf der anderen Seite steht in der Tat jetzt der Wirtschaftskurs nicht so recht fest. Das spricht doch dafür, dass Gespräche mit der Türkei, was das Thema EU-Beitritt angeht, möglicherweise schwerer werden.
Erler: Das hängt jetzt völlig ab von der Bildung eines neuen Kabinetts, von den Figuren, die dort auftauchen werden, und auch von der Programmatik, die ja nun nach der Verantwortungsübergabe an diese neue Regierung, wenn sie dann gebildet worden ist, nicht mehr verborgen werden kann. Dann wird sich ja eine politische Richtung herausstellen. Ich denke aber, dass noch ein anderer Punkt entscheidend sein wird. Es ist ja eine Partei, die aus der islamistischen Bewegung herausgewachsen ist. Wie weit man sie als ‚reform-islamistisch’ bezeichnen kann wird sich noch herausstellen. Und jetzt ist die große Frage, ob das Militär erneut zugreifen wird, vielleicht in Verbindung mit der Justiz, und auf diese Weise eingreifen wird in diese Wahl nach der Wahl. Das wäre für den europäischen Weg der Türkei natürlich eine riesige Belastung, wenn erneut ein Beweis geliefert würde, dass in Wirklichkeit es sich um keine Demokratie mit dem souveränen Wähler handelt, sondern dass im Grunde genommen es eine Abhängigkeit nach wie vor der politischen Entwicklung vom Militär gibt. Insofern werden die nächsten Wochen auch entscheidend sein darüber, was zum Beispiel in Kopenhagen von der EU für die möglichen künftigen Beitragsverhandlungen mit der Türkei beschlossen wird.
Engels: Im Vorfeld hat der jetzige Wahlsieger Erdogan mehrfach angedeutet, der EU-Beitritt sei zwar ein Ziel, aber die EU sei nicht ganz so wichtig – war jedenfalls von ihm zu hören. Bekommt die Europäische Union damit möglicherweise auch die Quittung, dass sie seit Jahren zu einem Türkei-Beitritt letztlich nicht klar Farbe bekennt?
Erler: Ich würde hier keinen Vorwurf an die EU machen. Die EU hat mit dem Beschluss von Helsinki ja eine klare Beitrittsperspektierung für die Türkei ausgesprochen...
Engels: ...aber kein Datum...
Erler: ...kein Datum, aber es war trotzdem ja außerordentlich wirksam, zu sagen, dass es bestimmt Vorbedingungen gibt, die die Türkei erst mal erfüllen muss, damit man glaubwürdig - und so ist es ja auch im Konsens mit den europäischen Wählern – überhaupt ein weiteres Vorgehen im Sinne von Verhandlungen perspektieren kann. Und das hat sich positiv auf die türkische Politik im Sinne auch von Reformen ausgewirkt. Und man muss realistisch bleiben. Es ist nicht so, dass ohne diesen Prozess es denkbar wäre, Verhandlungen über einen EU-Beitritt aufzunehmen. Und jetzt muss man sehen: Was wird Erdogan machen in der Frage der Fortsetzung dieser Reform? Wird er sich zu diesem Ziel klar bekennen? Es gibt Anzeichen dafür jetzt auch in der Wahlnacht. Und dann wird man in Kopenhagen einen Beschluss über den möglichen Beginn von konkreten Verhandlungen fällen können.
Engels: Auf dem EU-Gipfel in Brüssel, das war ja der Vor-Gipfel zu Kopenhagen im Dezember, gab es ja eigentlich vorsichtige Signale positiver Natur in Richtung Türkei. Gelobt wurden die Fortschritte der Türkei, und die großen EU-Staaten, einschließlich Deutschland, hatten eigentlich beschlossen, im Dezember schon anzugehen, wann sie erneut die Reife der Türkei prüfen wollen. Waren das positive Signale, vielleicht zu sehr darauf gesetzt, dass man möglicherweise doch die bisherigen Kräfte in der Türkei stärken wollte, und ist diese Strategie gescheitert?
Erler: Nein, ich sehe nicht in der Haltung der EU einen Versuch, innenpolitisch Einfluss auf die Wahlen zu nehmen. Natürlich ist es ein Interesse der EU und übergeordnet der Vereinigter Staaten, die Kräfte zu stärken in der Türkei, die dieses Land möglichst in Richtung Europa führen möchten und dabei aber eine laizistische Verfassung in einem moslemischen Staat aufrechterhalten wollen. Und insofern wird insgesamt auch sehr interessant sein, wie die Reaktion in den Vereinigten Staaten, die ja auch Druck gemacht haben in den letzten Jahren, den EU-Beitritt zu beschleunigen, wie dort die Reaktion auf diesen politischen Wechsel in Ankara sein wird. Denn aus der Sicht der Vereinigten Staaten hat die Bedeutung der Türkei in der Geopolitik auch etwas zu tun mit dieser prowestlichen laizistischen Ausrichtung der türkischen Politik, sozusagen als ein Beispiel von einem modernen moslemischen Land, das nicht islamistisch wird. Wenn sich jetzt doch islamistische Tendenzen in der neuen künftigen türkischen Regierung durchsetzen, könnte es zu einem Wechsel der amerikanischen Politik führen. Der wäre auch nicht ohne Bedeutung für die europäischen Entscheidungen, die anstehen.
Engels: Da ist dann die deutsche Außenpolitik gefragt. Welchen Kurs würden Sie denn da empfehlen?
Erler: Das ist jetzt einfach zu früh. Wir müssen jetzt abwarten. Ich denke, die Europäer werden insgesamt offen sein gegenüber der AKP und werden natürlich versuchen, auch in ihr die Kräfte zu stärken, die eher Kontinuität zeigen, was die Europaausrichtung der türkischen Politik angeht. Und ich wiederhole: Es gibt da durchaus Zeichen, die auch von Erdogan gegeben worden sind, auf denen man aufbauen kann. Und wenn sich dann der politische Wechsel in der Türkei eher auf die Innenpolitik, auf die Wirtschaftspolitik bezieht, aber in diesem Punkt Kontinuität herrscht, dann kann das aus europäischer Sicht auch zu einem guten Verhältnis zu dieser fast unbekannten Partei führen.
Engels: Sie haben es eben angesprochen: Die Vereinigten Staaten haben bislang immer die Speerspitze des Drucks gebildet, dass die Türkei bei ihrem laizistischen System bleibt. Hier hat sich ja auch Deutschland zum Teil stark angeschlossen. Bezahlt vielleicht jetzt auch Deutschland den Preis dafür, dass man auf der einen Seite versucht, dem Kurs der USA Folge zu leisten, auf der anderen Seite aber die Verhältnisse so jetzt nicht richtig annehmen will?
Erler: Also, ich glaube, dass es eigentlich zu der europäischen und damit auch zu der deutschen Politik gegenüber der Türkei keine vernünftige Alternative gab. Man musste Vorbedingungen formulieren für eine Annäherung EU – Türkei und für einen konkreten Beginn, für den Zeitrahmen von Verhandlungen, und musste auf diese Weise versuchen, die pro-europäischen Kräfte in der Türkei zu stärken. Und das hat auch funktioniert in den vergangenen Jahren. Es gibt wirklich erfreuliche Entwicklungen, zum Beispiel die Abschaffung der Todesstrafe und noch eine, sage ich mal, Entschärfung des Kurdenkonflikts, für die man auch die bisherige Regierung verantwortlich machen kann - im positiven Sinne. Und insofern ist es wirklich die entscheidende Frage, ob die neue Regierung diesen Kurs fortsetzen wird, ob sie diese ausgestreckt Hand wirklich ergreifen will, und auf diese Weise übrigens auch hier eine bestimmte Deckung schaffen würde für die notwendigen wirtschaftlichen Reformen, das Herausführen der Türkei aus der wirtschaftlichen Krise. Das ist ja das, was der Wähler in der Türke von Erdogan erwartet, dass er das tut, dass er neues Vertrauen schafft. Das kann er aus unserer Sicht eigentlich am besten, wenn er in der Frage der Europa-Ausrichtung der Partei auf dem Kurs bleibt, den er vorgefunden hat.
Engels: Vielen Dank. Soweit Gernot Erler, SPD-Fraktions-Vize und Spezialist für die Außenpolitik. Ich bedanke mich für das Gespräch.
Erler: Bitte sehr.
Link: Interview als RealAudio
Engels: Sie haben es angedeutet: Zwar ist die frühere EU-Kritik, die auch von der AKP zu hören war, unterdessen einem offeneren Kurs gewichen, auf der anderen Seite steht in der Tat jetzt der Wirtschaftskurs nicht so recht fest. Das spricht doch dafür, dass Gespräche mit der Türkei, was das Thema EU-Beitritt angeht, möglicherweise schwerer werden.
Erler: Das hängt jetzt völlig ab von der Bildung eines neuen Kabinetts, von den Figuren, die dort auftauchen werden, und auch von der Programmatik, die ja nun nach der Verantwortungsübergabe an diese neue Regierung, wenn sie dann gebildet worden ist, nicht mehr verborgen werden kann. Dann wird sich ja eine politische Richtung herausstellen. Ich denke aber, dass noch ein anderer Punkt entscheidend sein wird. Es ist ja eine Partei, die aus der islamistischen Bewegung herausgewachsen ist. Wie weit man sie als ‚reform-islamistisch’ bezeichnen kann wird sich noch herausstellen. Und jetzt ist die große Frage, ob das Militär erneut zugreifen wird, vielleicht in Verbindung mit der Justiz, und auf diese Weise eingreifen wird in diese Wahl nach der Wahl. Das wäre für den europäischen Weg der Türkei natürlich eine riesige Belastung, wenn erneut ein Beweis geliefert würde, dass in Wirklichkeit es sich um keine Demokratie mit dem souveränen Wähler handelt, sondern dass im Grunde genommen es eine Abhängigkeit nach wie vor der politischen Entwicklung vom Militär gibt. Insofern werden die nächsten Wochen auch entscheidend sein darüber, was zum Beispiel in Kopenhagen von der EU für die möglichen künftigen Beitragsverhandlungen mit der Türkei beschlossen wird.
Engels: Im Vorfeld hat der jetzige Wahlsieger Erdogan mehrfach angedeutet, der EU-Beitritt sei zwar ein Ziel, aber die EU sei nicht ganz so wichtig – war jedenfalls von ihm zu hören. Bekommt die Europäische Union damit möglicherweise auch die Quittung, dass sie seit Jahren zu einem Türkei-Beitritt letztlich nicht klar Farbe bekennt?
Erler: Ich würde hier keinen Vorwurf an die EU machen. Die EU hat mit dem Beschluss von Helsinki ja eine klare Beitrittsperspektierung für die Türkei ausgesprochen...
Engels: ...aber kein Datum...
Erler: ...kein Datum, aber es war trotzdem ja außerordentlich wirksam, zu sagen, dass es bestimmt Vorbedingungen gibt, die die Türkei erst mal erfüllen muss, damit man glaubwürdig - und so ist es ja auch im Konsens mit den europäischen Wählern – überhaupt ein weiteres Vorgehen im Sinne von Verhandlungen perspektieren kann. Und das hat sich positiv auf die türkische Politik im Sinne auch von Reformen ausgewirkt. Und man muss realistisch bleiben. Es ist nicht so, dass ohne diesen Prozess es denkbar wäre, Verhandlungen über einen EU-Beitritt aufzunehmen. Und jetzt muss man sehen: Was wird Erdogan machen in der Frage der Fortsetzung dieser Reform? Wird er sich zu diesem Ziel klar bekennen? Es gibt Anzeichen dafür jetzt auch in der Wahlnacht. Und dann wird man in Kopenhagen einen Beschluss über den möglichen Beginn von konkreten Verhandlungen fällen können.
Engels: Auf dem EU-Gipfel in Brüssel, das war ja der Vor-Gipfel zu Kopenhagen im Dezember, gab es ja eigentlich vorsichtige Signale positiver Natur in Richtung Türkei. Gelobt wurden die Fortschritte der Türkei, und die großen EU-Staaten, einschließlich Deutschland, hatten eigentlich beschlossen, im Dezember schon anzugehen, wann sie erneut die Reife der Türkei prüfen wollen. Waren das positive Signale, vielleicht zu sehr darauf gesetzt, dass man möglicherweise doch die bisherigen Kräfte in der Türkei stärken wollte, und ist diese Strategie gescheitert?
Erler: Nein, ich sehe nicht in der Haltung der EU einen Versuch, innenpolitisch Einfluss auf die Wahlen zu nehmen. Natürlich ist es ein Interesse der EU und übergeordnet der Vereinigter Staaten, die Kräfte zu stärken in der Türkei, die dieses Land möglichst in Richtung Europa führen möchten und dabei aber eine laizistische Verfassung in einem moslemischen Staat aufrechterhalten wollen. Und insofern wird insgesamt auch sehr interessant sein, wie die Reaktion in den Vereinigten Staaten, die ja auch Druck gemacht haben in den letzten Jahren, den EU-Beitritt zu beschleunigen, wie dort die Reaktion auf diesen politischen Wechsel in Ankara sein wird. Denn aus der Sicht der Vereinigten Staaten hat die Bedeutung der Türkei in der Geopolitik auch etwas zu tun mit dieser prowestlichen laizistischen Ausrichtung der türkischen Politik, sozusagen als ein Beispiel von einem modernen moslemischen Land, das nicht islamistisch wird. Wenn sich jetzt doch islamistische Tendenzen in der neuen künftigen türkischen Regierung durchsetzen, könnte es zu einem Wechsel der amerikanischen Politik führen. Der wäre auch nicht ohne Bedeutung für die europäischen Entscheidungen, die anstehen.
Engels: Da ist dann die deutsche Außenpolitik gefragt. Welchen Kurs würden Sie denn da empfehlen?
Erler: Das ist jetzt einfach zu früh. Wir müssen jetzt abwarten. Ich denke, die Europäer werden insgesamt offen sein gegenüber der AKP und werden natürlich versuchen, auch in ihr die Kräfte zu stärken, die eher Kontinuität zeigen, was die Europaausrichtung der türkischen Politik angeht. Und ich wiederhole: Es gibt da durchaus Zeichen, die auch von Erdogan gegeben worden sind, auf denen man aufbauen kann. Und wenn sich dann der politische Wechsel in der Türkei eher auf die Innenpolitik, auf die Wirtschaftspolitik bezieht, aber in diesem Punkt Kontinuität herrscht, dann kann das aus europäischer Sicht auch zu einem guten Verhältnis zu dieser fast unbekannten Partei führen.
Engels: Sie haben es eben angesprochen: Die Vereinigten Staaten haben bislang immer die Speerspitze des Drucks gebildet, dass die Türkei bei ihrem laizistischen System bleibt. Hier hat sich ja auch Deutschland zum Teil stark angeschlossen. Bezahlt vielleicht jetzt auch Deutschland den Preis dafür, dass man auf der einen Seite versucht, dem Kurs der USA Folge zu leisten, auf der anderen Seite aber die Verhältnisse so jetzt nicht richtig annehmen will?
Erler: Also, ich glaube, dass es eigentlich zu der europäischen und damit auch zu der deutschen Politik gegenüber der Türkei keine vernünftige Alternative gab. Man musste Vorbedingungen formulieren für eine Annäherung EU – Türkei und für einen konkreten Beginn, für den Zeitrahmen von Verhandlungen, und musste auf diese Weise versuchen, die pro-europäischen Kräfte in der Türkei zu stärken. Und das hat auch funktioniert in den vergangenen Jahren. Es gibt wirklich erfreuliche Entwicklungen, zum Beispiel die Abschaffung der Todesstrafe und noch eine, sage ich mal, Entschärfung des Kurdenkonflikts, für die man auch die bisherige Regierung verantwortlich machen kann - im positiven Sinne. Und insofern ist es wirklich die entscheidende Frage, ob die neue Regierung diesen Kurs fortsetzen wird, ob sie diese ausgestreckt Hand wirklich ergreifen will, und auf diese Weise übrigens auch hier eine bestimmte Deckung schaffen würde für die notwendigen wirtschaftlichen Reformen, das Herausführen der Türkei aus der wirtschaftlichen Krise. Das ist ja das, was der Wähler in der Türke von Erdogan erwartet, dass er das tut, dass er neues Vertrauen schafft. Das kann er aus unserer Sicht eigentlich am besten, wenn er in der Frage der Europa-Ausrichtung der Partei auf dem Kurs bleibt, den er vorgefunden hat.
Engels: Vielen Dank. Soweit Gernot Erler, SPD-Fraktions-Vize und Spezialist für die Außenpolitik. Ich bedanke mich für das Gespräch.
Erler: Bitte sehr.
Link: Interview als RealAudio