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Nach der Brexit-Abstimmung
"Jetzt ist die EU in der Falle"

Ein geordneter Brexit sei nur möglich, wenn die EU auf den sogenannten Backstop verzichtet, sagte der irische Historiker Brendan Simms im Dlf. Die geplante Regelung für die irisch-nordirische Grenze sei mit dem britischen Selbstverständnis, europäische Ordnungsmacht zu sein, nicht vereinbar. Erzwingen können die EU den Backstop nicht.

Brendan Simms im Gespräch mit Mario Dobovisek | 16.01.2019
    Die britische und die EU-Flagge vor dem Parlamentsgebäude in London
    Ringen um den Brexit - nach Ansicht von Historiker Brendan Simms ein "Ordnungs-Armdrücken" mit offenem Ausgang (imago stock&people / Alberto Pezzali)
    Mario Dobovisek: So voll, so beengt wie gestern Abend war es selten im britischen Unterhaus. Es ging "um die bedeutendste Entscheidung unserer politischen Karriere", so rief es Premierministerin Theresa May den Abgeordneten vor der Abstimmung über ihren Brexit-Kompromiss noch zu. Dann stimmten sie ab, buchstäblich mit den Füßen: Die überwältigende Mehrheit verließ den Plenarsaal nämlich durch jene Tür, bei der jeder Durchschreitende mit einem Nein gewertet wird. Auch aus den eigenen Reihen lehnten viele den Brexit-Deal ab.
    Eine schallende Ohrfeige für May, ihre Regierung und vor allem ihren Brexit-Kurs. Damit ist wieder alles offen, auch die Frage, ob May überhaupt wird weiterregieren können. Heute Abend wissen wir mehr, nach der Abstimmung über die Vertrauensfrage. Das wollen wir weiter vertiefen, gemeinsam mit Brendan Simms, Historiker an der Universität Cambridge und Experte für die Beziehungen zwischen Großbritannien und Europa. Guten Tag, Herr Simms!
    Brendan Simms: Guten Tag!
    Dobovisek: Ihren Brexit-Kompromiss haben die Abgeordneten mit überdeutlicher Mehrheit abgelehnt. Am Abend folgt dann das Misstrauensvotum, wir haben es gehört. Kann Theresa May weiter Premierministerin von Großbritannien bleiben?
    May wird Misstrauensvotum bestehen
    Simms: Ich glaube, durchaus. Sie hat schon vor einigen Wochen ein Misstrauensvotum überstanden. Das heißt, es kann innerhalb eines Jahres oder ungefähr dieser Zeit kein neues geben innerhalb ihrer eigenen Partei. Das heißt, ich gehe davon aus, sie wird im Parlament das überleben. Weil die DUP, die nordirischen Unionisten nichts machen werden, was die Möglichkeiten einer Neuwahl beschleunigen würde. Weil das dann unter Umständen die Labour Party an die Macht bringen würde.
    Dobovisek: Das heißt, sie wird den Rückhalt noch genießen, auch in den eigenen Reihen, anders als gestern bei der Abstimmung. Trotzdem: Dann müsste sie ihren Plan B vorlegen, ihren Plan B für einen veränderten Brexit-Kompromiss. Wie könnte der Ihrer Meinung nach aussehen, damit er tatsächlich tragfähig ist?
    Simms: Ich glaube, ein Deal wäre nur tragfähig, wenn die Europäische Union den Backstop abschaffen würde. Das heißt: Wenn sie das nicht tun, dann, glaube ich, steuern wir auf ein "No Deal" zu.
    "Die EU hat aber eigentlich keine Machtmöglichkeiten"
    Dobovisek: Warum sollte das die EU tun?
    Simms: Ich glaube, weil sie erstens keinen Deal bekommen, wenn sie ihn nicht abschaffen. Zweitens, weil sie dann natürlich vor der Wahl stehen, im Falle eines "No Deals", ob sie dann von der Dubliner Regierung in der Republik Irland verlangen, entlang der irisch-irischen Grenze eine EU-Zollgrenze zu errichten. Das wäre die Folge. Sinn des Backstops war, das zu verhindern. Die EU hat aber eigentlich keine Machtmöglichkeiten, die Briten dann zur Annahme des Backstops zu zwingen.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Prof. Dr. Brendan Simms, Historiker an der Universität Cambridge (imago/Mauersberger)
    Dobovisek: Sie sind ja selbst Ire, haben auch deutsche Wurzeln. Das kann man, glaube ich, dazu sagen.
    Simms: Ja!
    Dobovisek: Ist die Grenzfrage zwischen Nordirland und der Republik Irland am Ende so entscheidend, dass sie auch alles zu Fall bringen könnte?
    Simms: So wie die Sachen jetzt liegen, ja. Ich gehe davon aus, dass sowohl eine Grenze zwischen Nord- und Südirland wie auch eine Grenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs nicht mit dem Friedensvertrag von 1998 vereinbar sind. Die EU und die Dubliner Regierung hat leider verlangt, dass es einen Backstop gibt, was letztendlich zu einer Grenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs führen könnte.
    "EU hat sich in eine sehr schwierige Situation manövriert"
    Dobovisek: Aber wie sollte ein Kompromiss aussehen, der einerseits zusichert, dass Irland weiter Teil der EU ist, ohne irgendwelche Grenzbeschränkungen, gleichzeitig Nordirland den Zugang zum Markt gewährt?
    Simms: Ich glaube, die einzige Möglichkeit ist, dass man dem Vereinigten Königreich einen so erträglichen wirtschaftlichen Deal gibt, der übrigens auch für die Europäer sehr gut sein würde, dass eine Grenze nicht nötig wird. Das würde natürlich Rosinenpickerei bedeuten, aber darum geht es ja.
    Dobovisek: Und das ist genau das, was die EU auch ablehnt.
    Simms: Richtig! Aber jetzt ist die EU sozusagen in der Falle. Sie ist davon ausgegangen: Wir werden das Vereinigte Königreich – ich sage das jetzt mal salopp – wirtschaftlich an die Wand drücken, und die werden dann, bitte schön, diesem Deal zustimmen.
    Dobovisek: Aber für wen, Herr Simms, ist diese Falle am Ende gefährlicher, für das Vereinigte Königreich oder die Europäische Union?
    Simms: Auf jeden Fall für die Europäische Union und vor allen Dingen für die Republik Irland.
    Dobovisek: Warum?
    Simms: Ich sagte es ja schon. Wenn es einen "No Deal" gibt, dann wird, wenn die EU dann konsequent sein will, sie von der Dubliner Regierung verlangen, eine Grenze zwischen Nord- und Südirland zu errichten. Wenn die Dubliner Regierung das nicht tut und dann sozusagen der Himmel nicht einbricht, dann wird man natürlich fragen: Worum ging es dann überhaupt? Warum brauchte man diesen Backstop und warum haben wir jetzt diese Unterhaltung? Ich glaube, die EU hat sich in eine sehr schwierige Situation hineinmanövriert.
    "Briten sind ein Sonderfall in der europäischen Geschichte"
    Dobovisek: Im März erscheint Ihr neues Buch, Herr Simms: "Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation" lautet der Titel, der schon in sich birgt, dass sich Europa und die Briten bei allen Spannungen immer wieder zusammenraufen konnten. Warum gelingt das beim Brexit nicht?
    Simms: Ich glaube, es wird gelingen, aber es ist letztendlich eine Ordnungsfrage. Was ich in meinem Buch ausbreite ist die Tatsache, dass bis zu dem jetzigen Zeitpunkt das Vereinigte Königreich eigentlich immer Ordnungsfaktor in Europa war und nicht ein Raum, der geordnet wird. Jetzt ist aber Anspruch der EU, dass selbst nach dem Brexit zumindest ein Teil des Vereinigten Königreichs von der EU geordnet wird. Das ist natürlich nicht mit dem Selbstverständnis des Vereinigten Königreichs vereinbar.
    Dobovisek: Aber die EU wollte den Brexit nicht, sondern die Briten.
    Simms: Richtig! Ich sage es ja: Die Briten sind ein Sonderfall in der europäischen Geschichte. Sie hatten den Vorteil oder es ist ihre Erfahrung gewesen über hunderte von Jahren hindurch, unabhängig geblieben zu sein. Sie haben ihre eigene Währung, ihre eigene Armee, ihre eigene Souveränität. Der Zweck des Brexits war, dies gegenüber der Europäischen Union zu behaupten. Das heißt: Wenn man jetzt so einen Deal unterzeichnen würde, würde das bedeuten, einen Teil des Vereinigten Königreiches preiszugeben.
    Dobovisek: Reden wir da, ganz vorsichtig gefragt, über gekränkte Eitelkeiten?
    Simms: Es geht nicht um Eitelkeiten. Es geht um die wesentlichsten Sachen in der Politik überhaupt: um die Souveränität. Und das ist das Problem. Der Brexit war die Artikulation der britischen Souveränität gegenüber der EU, und die EU verlangt im Rahmen des Austrittsvertrages, dass ein Teil der Souveränität wieder zurückgegeben wird.
    "Das Vereinigte Königreich ist immer noch ein großer Machtfaktor"
    Dobovisek: Dann frage ich, Herr Simms, mal anders herum. Großbritannien hatte in der Tat in der Geschichte Europas immer eine Sonderstellung. Doch das Imperium existiert nicht mehr, der wirtschaftliche wie politische Einfluss in der Welt ist geschwunden - unbestritten. Warum sollten die britischen Inseln in Europa weiter etwas Besonderes sein?
    Simms: Ich glaube, wenn man das jetzt historisch sieht – und das versuche ja in dem Buch zu tun -, dann wird man sehen, dass England schon lange vor dem Imperium ein sehr wichtiger Faktor, manchmal auch der wichtigste Faktor in der europäischen Geschichte war. Das heißt, es war immer von Interesse, über die vorherigen 500 Jahre, was in London über ein bestimmtes Problem gedacht wurde. Das Imperium hat natürlich Großbritannien gestärkt, aber das Imperium war auch Ausdruck der europäischen Macht der Engländer und später des Vereinigten Königreiches.
    Das ist auch heute noch der Fall. Das Vereinigte Königreich hat die eigene Währung, es ist Nummer fünf oder Nummer sechs als Wirtschaftsmacht in der ganzen Welt. Es ist militärisch wahrscheinlich die Nummer drei oder die Nummer vier und es hat einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat der UNO. Das heißt, das Vereinigte Königreich ist immer noch ein großer Machtfaktor und die Europäische Union wird ohne das Vereinigte Königreich natürlich schwächer sein, und wir sehen das ja jetzt.
    Armdrücken zwischen EU und Großbritannien
    Dobovisek: Aber Großbritannien ohne die Europäische Union vielleicht auch.
    Simms: Das müssen wir sehen. Deshalb sage ich ja: Es ist nicht geschrieben, dass das Vereinigte Königreich jetzt in diesem Ordnungs-Armdrücken, sagen wir mal salopp, bestehen wird. Es ist möglich, dass dieser Deal letztendlich durch das Parlament kommt. Aber ich glaube, die große Wahrscheinlichkeit ist nicht und die Europäische Union hat nicht die Machtmittel, dieses zu erzwingen. Deshalb sind wir jetzt in dieser Situation.
    Dobovisek: Weil David Cameron einst die EU unter Druck gesetzt hatte. Er wollte Reformen, weitere Zugeständnisse, die kamen nicht. Es gab ja schon diverse Briten-Rabatte, so wie sie immer bezeichnet werden. Die EU sagte damals Basta. Jetzt stehen wir da, wo wir sind. Ist das am Ende nur die logische Konsequenz, dass beide nun tatsächlich getrennte Wege gehen müssen?
    Simms: Richtig! Das würde ich nicht bestreiten. Aber es ist ja nicht so, dass man einfach sagt, jetzt gehen wir getrennte Wege, sondern man sagt: Wenn ihr austretet, dann müsst ihr einen Teil eures Landes zurücklassen.
    Ich gebe Ihnen mal einen Vergleich. Gesetz den Fall, Italien würde aus der EU austreten. Der Backstop für Italien wäre zu sagen: Es gibt Südtirol, das ist jetzt ein Streitobjekt zwischen Österreich und Italien, und wir hätten ein Streit-Beilegungspaket, und wenn die Italiener austreten, dann sollten sie doch, bitte schön, nur eine Zollgrenze südlich von Alto Adige anlegen, das heißt, einen Teil des italienischen Staatsterritoriums außerhalb des eigenen wirtschaftlichen Ordnungssystems verorten. Das wäre der Vergleich.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.