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Nach der Krise

Nehmen wir an, liebe Hörerin, lieber Hörer, Sie seien Marketingmann oder ­frau in einem der großen Medienkonzerne der Welt. Dann hat ihnen die Geschäftsleitung eine Zahl und ein Vorurteil eingetrichtert. Die Zahl lautet "siebzig" und das Vorurteil "dumm". 70 Prozent aller Belletristikleser sind Leserinnen, die man vorsorglich für dumm zu halten hat. Deswegen bekommen Sie bei Dienstantritt auch gleich einen Stempel ausgehändigt, mit dem Sie Ihre Zielgruppe werbetechnisch erreichen können. Der Stempeltext lautet: "Ein ergreifender Roman über eine junge Frau auf der Suche nach der einzig wahren großen Liebe." Da ist alles drin: junge Frau, ergreifend, wahr, groß, Liebe. Sie stempeln Tag und Nacht, denn dieser Satz passt auf 95 Prozent Ihrer Produktion, und dabei erwischen Sie dann auch Roxana Robinsons Roman Der Sommer am See. Klingt kitschig, Stempel auf den Buchrücken, raus in die Auslieferung damit!

Von Florian Felix Weyh |
    Dummerweise ist die Heldin des Buches siebenundvierzig. Dummerweise schildert der Roman keine Suche nach der großen Liebe, sondern das Gegenteil davon, den langen Abschied aus einer schwierigen, im manisch-depressiven Schub durch Selbstmord beendeten Ehe. Dummerweise ist es ein gutes Buch, das im Rahmen des gehobenen Unterhaltungsgenres genau die Leserinnen und Leser verdient hätte, die mehr erwarten als eine Trivialschmonzette, nämlich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit biographischen Zwängen, Fehlentscheidungen, Schuldgefühlen und dem Rest an Wahlfreiheit, der einem nach 47 Lebensjahren bleibt.

    Ein Buch aus der Mitte des Lebens für Menschen aus der Mitte der Gesellschaft geschrieben. Da ist die Heldin Isabel, eine gut situierte Amerikanerin mit dem so typischen Lebenslauf der heute Fünfzigjährigen. Noch im College die Jugendliebe Michael geheiratet, einen Sohn bekommen, eigene Karrierepläne begraben. Das fiel nicht schwer, weil erstens der Mann bessere Aussichten besaß und zweitens der eigene Drang zur beruflichen Profilierung an Stärke mangeln ließ. Doch Michael, der brillante Journalist, der schon als Student preisgekrönte Reportagen schrieb, schultert eine schwere Last. Er ist manisch-depressiv, fällt immer wieder in tiefe, schwarze Löcher, verbringt Monate in Kliniken und springt schließlich nach fünfundzwanzig Ehejahren aus dem Fenster. Isabel heiratet rasch wieder, den wohlerzogenen Anwalt Paul, weil sie sich davon Ruhe erhofft.

    Doch diese Ruhe tritt nicht ein, schon gar nicht im Milieu der Ruhe, den majestätischen Wäldern im Nordosten New Yorks, in denen Pauls Familie ein Wochenendhaus besitzt. Die Konfrontation mit Pauls anders komplizierten Familienverhältnissen steigert ihre Zweifel an der neuen Ehe. Eine äußerliche Katastrophe – ausgedehnte Waldbrände ringsum – lässt schließlich die Lage eskalieren. Feuer als Katharsis, zur Reinigung der Seele: Isabel trennt sich von Paul und wechselt auf die Seite seines Bruders Whitney über, von dem eine echte Anziehung ausgeht.

    Das alles ist sehr ostküsten-amerikanisch und beileibe nicht originell. Es folgt dem Grundmuster von Midlifecrisis- und Familienkonstellationsromanen, wie sie von amerikanischen Autoren zu Dutzenden geschrieben werden. Dennoch ist es ein empfehlenswertes Buch. Das Verhältnis von Handlung zu Naturlyrik, von Psychologie zu Reflexion bleibt ausgewogen und stimmig. Die Probleme der Handelnden mit ihrem Leben spiegeln sich zurück auf den Leser, der die grundlegende Frage von vertraglicher Treue versus Handlungsfreiheit für sich selbst lösen muss. Keine Figur bekommt von Roxana Robinson den Schwarzen Peter zugeschoben, alle haben gute Gründe für ihre charakterliche Disposition.

    Wenn Romane eine dritte Alternative zwischen Aufrührung und Tröstung verkörpern und als Vademecum fürs Weiterleben nach Krisen dienen sollen, dann müsste der "Sommer am See" eine breite Leserschaft erreichen. Indes: Mit diesem Ordnungsstempel auf der Stirn – "Ergreifender Roman über eine junge Frau auf der Suche nach der einzig wahren großen Liebe" – hätte ihn der Verlag gleich in die Altpapiertonne werfen können. Im Limonadenregal sucht keiner nach Wein, und wenn er dort welchen findet, kauft er ihn nicht. Man fragt sich, wozu Verlage Bücher drucken, wenn sie nicht wollen, dass sie ihre Zielgruppe erreichen. Nur um Produktionskapazitäten auszulasten? Ein tiefes Rätsel.

    Roxana Robinson
    Der Sommer am See
    BTB, 442 S., EUR 9,50