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Nach Erfurt: Erziehung muss Werte vermitteln

Liminski: "Erfurt darf nicht Wahlkampfthema werden" forderten die Kirchen drei Tage nach der Tat, aber da war es schon zu spät. Es war Thema, und es war im Wahlkampf. Die Politik zeigte nicht nur Betroffenheit, sie zeigte auch Entschlossenheit zum Handeln, etwa bei der Verschärfung der Waffengesetze oder auch beim Thema Gewalt in den Medien. Man traf sich mit den Intendanten der Rundfunk- und Fernsehanstalten, aber fast am Rande der Politik ergriff die öffentliche Debatte auch Fragen der Werte auf. Vor allem die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Wissenschaftsministerin in Thüringen, Frau Professor Dagmar Schipanski, hatte schon früh darauf hingewiesen, dass es ohne Werte nicht geht. Sie ist nun am Telefon. Guten Morgen, Frau Schipanski!

04.05.2002
    Schipanski: Guten Morgen!

    Liminski: Frau Schipanski, Sie haben darauf hingewiesen: Ohne Werte geht es nicht. Aber woher sollen die Werte kommen?

    Schipanski: Ich glaube einmal, dass wir in Deutschland dem Wertekanon des christlichen Abendlandes verpflichtet sind. Dort haben wir Werte festgelegt. Wir haben Werte in den zehn Geboten festgelegt; wir haben Werte in unserer Gesellschaft über viele Jahre bewahrt. Die Widerstandskämpfer des Nazireiches haben sie bewahrt; diejenigen, die in der DDR dagegen waren, haben sie bewahrt. Ich glaube, auch diese Gesellschaft hat ihre Werte. Sie muss sich nur darauf besinnen.

    Liminski: In der pluralistischen Gesellschaft ist das natürlich eine schwierige Debatte. Wie sieht der Grundkonsens in so einer Gesellschaft aus? Nicht alle akzeptieren ja die zehn Gebote oder, sagen wir mal, wenigstens die Werte des christlichen Abendlandes.

    Schipanski: Sie haben Recht, dass es eine sehr schwierige Debatte ist, aber ich bin der Meinung, dass wir diese schwierige Debatte führen müssen. Und dass wir beginnen sollten, uns darauf zu besinnen, was uns wertvoll ist, daher kommt nämlich der Begriff Werte. Und für mich ist Gewaltfreiheit bei der Lösung von Konflikten ein besonderer Wert. Für mich ist ein besonderer Wert, dass ich Toleranz dem anderen gegenüber übe. Toleranz heißt für mich aber, und darauf möchte ich immer wieder hinweisen, nicht wegsehen, sondern genau hinsehen. Das heißt Anerkennen der Andersartigkeit der anderen, aber nicht anerkennen, wenn er sich über mich erhebt und sozusagen sich mit meinen Wertvorstellungen über mich lustig macht. Dann muss ich mich mit ihm auseinandersetzen. Es heißt auch für mich, dass wir uns überlegen: Was ist Gerechtigkeit? Ist Gerechtigkeit, dass wir in einer anonymen Umverteilungsmaschinerie jedem sein bestimmtes Stück am Kuchen des Bruttosozialprodukts zukommen lassen? Ist Gerechtigkeit das gerechte Handeln vieler Einzelner? Was ist es eigentlich? So gibt es für mich eine ganze Reihe von Werten, von Begriffen, von Begriffsbestimmungen, über die wir uns im Klaren sein müssen in unserer Zeit.

    Liminski: Gibt es nicht auch eine Art Begriffsverwirrung? Sie haben Toleranz, Gewaltfreiheit, Gerechtigkeit genannt. Wenn ich an den Begriff der Freiheit denke, dann wird darunter vielfach etwas unterschiedliches verstanden. Was verstehen Sie darunter?

    Schipanski: Freiheit ist für mich nicht, dass der Einzelne jede seiner individuellen Freiheiten ausleben kann. Sondern für mich sind Freiheit und Verantwortung zwei einander ergänzende Grundsätze. Und Freiheit ohne Verantwortung entführt uns eben in maßlose Reiche oder entführt uns in Gewaltphantasien. Aber Freiheit und Verantwortung, das heißt für mich: Diese Demokratie begreifen als eine Chance für alle, die in der Demokratie leben. Und ich persönlich habe die Verantwortung als Politikerin, dass diese Demokratie lebenswert bleibt. Das heißt, ich muss auch Einzelnen die Grenzen ihrer persönlichen Freiheit zeigen. Die Grenze der persönlichen Freiheit ist bei dem Täter von Erfurt überschritten worden in einer maßlosen Weise, die uns erschrocken hat. Wir werden darüber nachdenken müssen, warum er gerade diese maßlose Weise genutzt hat.

    Liminski: Wer soll die Werte vermitteln? Die Schule? Die Eltern? Die Gesellschaft?

    Schipanski: Wertevermittlung fängt für mich im Elternhaus an. Es ist ganz wichtig, dass die Eltern vorleben, was sie sagen. Dass sie nicht belehren, sondern dass sie einfach mit den Kindern leben. Ich betone immer wieder: Fröbel kommt aus Thüringen. Er hat die ersten Kindergärten der Welt eingerichtet. Sein Motto war: Kommt, lasst uns mit unseren Kinder leben. Und so einfach dieses Motto ist. So einfach ist es meiner Meinung nach wirklich, schon im Kindesalter Werte zu vermitteln. Selbstverständlich gehört die Gesellschaft und die Schule mit dazu. Wir können es nicht nur den Kirchen überlassen, Werte zu vermitteln.

    Liminski: Gehört zu der Vermittlung auch die Konfliktfähigkeit von Eltern, zum Beispiel den Kindern mal das Fernsehen oder bestimmte Computerspiele zu verbieten?

    Schipanski: Das gehört offensichtlich dazu. Aber ich weiß, dass das sowohl den Kindern als auch den Eltern teilweise schwer fällt. Aber für mich ist eigentlich das Wichtigste, dass man von sich heraus erkennt: Was ist wesentlich für mich und was kann ich vielleicht auch weglassen? Also ich kann Computerspiele weglassen. Das ist nicht wesentlich für mich. Aber das ist natürlich ein langer Prozess, den man dazu durchlaufen muss. Ich glaube, dass dieses eigene Einsehen, aber natürlich auch ein Verbot wichtig ist. Unsere Gesellschaft kommt nicht ohne Verbote aus sonst bräuchten wir kein Strafgesetz.

    Liminski: Sie sprachen von den Eltern, von der Schule. Brauchen wir eine Aufwertung der Erziehungsarbeit insgesamt?

    Schipanski: Ja, die brauchen wir insgesamt. Ich sage immer: Wir müssen uns in der Gesellschaft darüber bewusst sein, was uns die Arbeit wert ist, die überhaupt keinen Preis hat in unserer Gesellschaft, das ist die Erziehungsarbeit von Eltern. Sie ist außerordentlich wichtig. Sie ist wesentlich. Sie ist eigentlich die Grundlage für unsere Gesellschaft. Und ich betone hier auch, dass für mich wichtig ist, dass man die Familie als Grundbaustein einer Gesellschaft wieder in den Mittelpunkt rückt. Wir neigen in Deutschland dazu, die Randgruppen in den Mittelpunkt zu rücken. Mir kommt es darauf an, dass wir der Familie, den Kindern, den Eltern den Platz in der Gesellschaft geben, der ihnen gebührt.

    Liminski: Das war Frau Professor Dagmar Schipanski, Wissenschaftsministerin in Thüringen und Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Besten Dank für das Gespräch, Frau Schipanski!

    Schipanski: Bitteschön!