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Nach Gaza die Westbank?

Für den israelischen Historiker Moshe Zimmermann zeigt sich im Abzug der Siedler aus dem Gaza-Streifen zwar kein Verzicht Israels auf sämtliche besetzten Gebiete, aber doch ein wichtiger Schritt, der Bewegung in den Friedensprozess bringen kann. Der Kampf, den die Siedler derzeit führen, sei kein Kampf um den Gaza-Streifen, sondern schon einer um die Siedlungen in der Westbank. Denn auch dort könne man mit der Räumung einzelner Ortschaften rechnen.

Moderation: Hans-Joachim Wiese |
    Hans-Joachim Wiese: Und am Telefon in Tel Aviv begrüße ich jetzt den israelischen Historiker, Professor Moshe Zimmermann. Guten Tag.

    Moshe Zimmermann: Guten Tag.

    Wiese: Herr Zimmermann, hätten Sie sich jemals träumen lassen, dass ausgerechnet der Vater der jüdischen Siedlungen, Ariel Scharon, jetzt den Gaza-Streifen räumen lässt?

    Zimmermann: Also die Wahrheit ist: Ja. Als Ariel Scharon im Jahr 2001 Regierungschef geworden ist, habe ich als Historiker gedacht, hier könnte ein Mini-De-Gaulle entstehen. Und so ist es auch gekommen. Es ist eben die Mentalität von Generälen, die überlegen sich, ob sie nicht auf etwas verzichten können, um eben das Hauptgebiet zu gewinnen oder zu verteidigen. Das nennt man im Schachspiel Gambit und so ein Gambit, das hat sich Ariel Scharon erlaubt.

    Wiese: Dann erläutern Sie das doch bitte einmal, Herr Zimmermann. Was bewegt Ariel Scharon? Ist sein Räumungsbeschluss nur Einsicht in die Notwendigkeit oder was steckt denn Ihrer Meinung nach dahinter?

    Wiese: Was im Bericht vorher nicht betont war, war der Zustand der Intifada. Die Intifada war im Zustand des Stillstandes oder der Sackgasse. Die Palästinenser terrorisierten die Israelis, die Israelis waren terrorisiert und terrorisierten wiederum die Palästinenser. Und es gab oder es schien keinen Ausweg zu geben. Die Amerikaner haben Druck ausgeübt, haben eine Road-Map vorgeschlagen und da musste etwas Bewegung in die Sache hineinkommen. Und dafür sorgte Ariel Scharon. Er wusste bescheid, er schafft etwas Bewegung mit dieser Idee von Gaza. Und tatsächlich reden alle nur über den Gaza-Streifen, über diesen Schritt von Ariel Scharon. Die gesamte Politik greift um diesen Schritt, und auf diese Art und Weise kam insgesamt Bewegung in den Prozess zwischen Israelis und Palästinensern. Ein Prozess, der den Prozess des Terrors ersetzt. Und im Endeffekt bedeutet das nicht automatisch, dass Israel auf alle besetzten Gebiete verzichtet. Und Ariel Scharon - der schon bald 80 Jahre alt sein wird - kann davon ausgehen, dass er nur auf den Gaza-Streifen verzichtet und auf diese Art und Weise nicht dafür schuldig gemacht wird, dass er die gesamten besetzten Gebiete aufgibt.

    Wiese: Also wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Zimmermann, Ariel Scharon räumt in diesem Gambit, wie Sie es nennen, den Gaza-Streifen, um dann mit umso größerer Entschlossenheit auch vor der Weltöffentlichkeit und auch entgegen der Road-Map - dem internationalen Friedensplan - an der Westbank, am größten Teil der Westbank, festzuhalten?

    Zimmermann: Man muss das so verstehen: Nur ist die Road-Map kein fester Plan, und dieser Plan ist flexibel genug, um das auch zu akzeptieren, was Ariel Scharon im Moment vornimmt. Ariel Scharon weiß bescheid, Israel kann für sich nur die Gebiete behalten, die sehr dicht von Israelis besiedelt worden waren. Da ist der Gaza-Streifen eben ein Gebiet, auf das man verzichten kann. Es gibt auch Teile der Westbank, die man aufgeben wird, aber andere Teile wird man behalten. Ariel Scharon ist hier auch nicht allzu originell. Als vor 25 Jahren der Regierungschef Begin bereit war, auf Sinai zu verzichten und Sinai an die Ägypter wieder zurückzugeben, hat er eine ähnliche Überlegung angestellt: Wir verzichten auf Sinai, um das Land Israel für uns zu gewinnen oder für uns zu retten. Jetzt, wo der Druck noch weiter gegangen ist, ist Ariel Scharon bereit, um den Preis des Gaza-Streifens die Westbank oder so viel wie möglich von der Westbank für Israel zu "retten", in Anführungszeichen. Das ist die Taktik, und die geht auf. Israel hat ja es geschafft mit der Zeit eine Verzögerungstaktik zu entwickeln. Und so kam es dazu, dass die Siedlungen immer größer geworden sind, die Palästinenser unter Druck geraten sind, auf Gebiete zu verzichten, auf die sie früher nicht hätten verzichten wollen.

    Wiese: Geht diese Taktik tatsächlich auf, langfristig auch auf, Herr Zimmermann? Ich erinnere an die Räumung des Süd-Libanon durch die israelischen Streitkräfte. Das hatten die Palästinenser seinerzeit als großen Sieg gefeiert und das hatte letzten Endes dann auch zu einer Verschärfung des Terrors geführt. Wird also nicht eine Weigerung, die Westbank zu räumen, auf lange Sicht zu einer Verschärfung des Terrors wiederum führen?

    Zimmermann: Da muss man unterscheiden: Süd-Libanon gehörte nicht zu Palästina und hat nur indirekt einen Einfluss auf den Prozess zwischen Israelis und Palästinensern. Es ist aber eine Überlegung, die in Israel sehr populär ist, eben die Überlegung, die Sie hier angestellt haben, nämlich in dem Moment, wo Israel auf etwas verzichtet, ist es ein Signal für die Palästinenser, mehr Terror auszuüben. Als Historiker würde ich sagen, es war von Beginn an ein Fehler, die besetzten Gebiete zu besiedeln. Es war von Beginn an ein Fehler, nicht zu versuchen, mit den Palästinensern zu verhandeln. Es gab auch Fehler auf der Seite der Palästinenser, die zum Terror auch dann griffen, als man verhandeln konnte. Aber weil man diesen Fehler begangen hat, und so lange hat sich etwas entwickelt, ein fait à complet, mit dem es viel schwieriger ist zu leben. Und deswegen ist das, was jetzt geschieht, wo man nach und nach langsam auf etwas verzichtet, weniger als das, was man hätte erreichen sollen, aber mehr als nur ein Stillstand.

    Wiese: Aber es ist ja auch sehr viel einfacher, rund 8000 Siedler aus dem Gaza-Streifen zu räumen, als die rund 200.000 Siedler, die mittlerweile auf der Westbank leben.

    Zimmermann: Das ist klar, das ist die Überlegung von Ariel Scharon. Einen Schritt zu machen, der nicht so gewichtig ist, rein finanziell gesehen und essentiell. Es ist aber klar für alle Leute, dass der Kampf, den die Siedler jetzt führen, nicht der Kampf um den Gaza-Streifen ist, sondern ein Kampf um die besetzten Gebiete in der Westbank und die Siedlungen in der Westbank. Die Mahnung lautet: Seht euch an, wie viel es Israel kostet, nur diese 6000, 7000 Siedler zu räumen. Wie wäre es dann später, wenn man 200.000 oder mehr räumen sollte?

    Wiese: Da müsste man realistischerweise schon mit deutlich mehr Widerstand rechnen, als jetzt beim Gaza-Streifen?

    Zimmermann: Nein, nicht unbedingt. Das ist eben eine Mahnung. Es sind die Siedler aus der Westbank, die jetzt so viel Wind machen. Das sind viel mehr die Siedler aus der Westbank, die sich im Gaza-Streifen befinden, als die Siedler vom Gaza-Streifen selbst. Die Siedler im Gaza-Streifen kümmern sich um ihr Eigentum, um ihre Häuser, um ihre Familien. Die Siedler, die jetzt aus dem Norden in den Gaza-Streifen gekommen sind, die kümmern sich um die zukünftigen Schritte der israelischen Regierung. Die versuchen selbstverständlich so viel Druck auszuüben wie möglich, um die Regierung - und jede Regierung in der Zukunft - davon abzuhalten, weitere Schritte zu machen. Trotzdem muss man damit rechnen, dass diese Schritte kommen, weil nicht das gesamte Gebiet der Westbank dicht besiedelt ist. Und es gibt auch andere, kleinere Ortschaften, die man räumen kann. Und wenn es jetzt im Gaza-Streifen gelingt, könnte es auch in der Zukunft anderswo gelingen.