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Nach neuen Eroberungen
"IS ist gestärkt, auch propagandistisch"

Der außenpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Omid Nouripour, hat vor einem weiteren Erstarken der Terrormiliz "Islamischer Staat" gewarnt. Nouripour sagte im Deutschlandfunk, der IS plündere die Städte und löse so seine Geldprobleme.

Omnid Nouripour im Gespräch mit Jasper Barenberg | 23.05.2015
    Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen
    Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen (dpa / Hannibal Hanschke)
    In Ramadi hätten die Terroristen zudem zahlreiche Rüstungsgüter erbeutet, darunter gepanzerte Fahrzeuge der irakischen Armee. Der Grünen-Politiker erklärte, gleichzeitig seien die Regierungen im Irak und Syrien in den vergangenen Wochen deutlich schwächer geworden. Es sei beängstigend, dass der IS immer näher an die Hauptstädte beider Länder heranrücke.
    Die Miliz hatte zuletzt die antike syrische Stadt Palymra eingenommen. Aktivisten berichten, die Dschihadisten hätten dort eine nächtliche Ausgangssperre verhängt und töteten regierungstreue Soldaten. Der UNO-Sicherheitsrat zeigte sich in einer Erklärung besorgt über das Schicksal der Bewohner von Palmyra. Insbesondere die Lage von Frauen und Kindern sei beängstigend, da der IS dafür bekannt sei, diese zu entführen und auszubeuten. Es sei vor allem Aufgabe der syrischen Behörden, die Bevölkerung zu schützen.

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Vor einigen Monaten konnte man noch den Eindruck haben, dass die US-geführte internationale Koalition die Terrormiliz Islamischer Staat zum Rückzug gezwungen hat. Seit einigen Tagen aber legen militärische Vorstöße der Dschihadisten ein ganz anderes Bild nahe: Im Irak kontrolliert der IS inzwischen ein Drittel des Territoriums, die Miliz hat die Stadt Ramadi erobert und stößt weiter nach Osten in Richtung Bagdad vor. In Syrien haben die Kämpfer Palmyra eingenommen, sie beherrschen inzwischen die Hälfte des Landes, und jetzt scheint auch ein Vorstoß ins Zentrum, in Richtung Damaskus möglich; außerdem natürlich der Anschlag auf eine Moschee in Saudi-Arabien, über den wir heute schon berichtet haben. Am Telefon ist Omnid Nouripour, der außenpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag. Schönen guten Morgen!
    Omnid Nouripour: Schönen guten Morgen!
    Barenberg: Herr Nouripour, Palmyra ist ein unschätzbar wertvolles Weltkulturerbe, ist aber auch strategisch von großer Bedeutung. Ramadi liegt etwa 100 Kilometer von Bagdad entfernt. Wie bedrohlich sind die militärischen Vorstöße der IS?
    Nouripour: Es ist schon in der Tat sehr bedrohlich und es ist ja beängstigend, zu sehen, dass die Hauptstädte beider Länder immer näher ran kommen an das Gebiet von ISIS, wobei man aber auch wissen muss: Es ist nicht so, dass ISIS in den letzten Wochen stärker geworden ist – die Zentralregierungen in Irak und in Syrien sind deutlich schwächer geworden. Und jede einzelne neue Stadt, die von ISIS erobert wird, wird dazu führen, dass sie wiederum stärker werden, weil sie zum Beispiel in Ramadi sehr viele Rüstungsgüter haben tatsächlich kassieren können, weil sie einfach die Städte in der Regel relativ gründlich plündern, und wenn man bedenkt, dass die vor drei, vier Monaten noch Geldprobleme hatten, dann ist das für sie alles eine Stärkung. Und propagandistisch ist es sowieso sehr klar, dass es jetzt nicht mehr heißt, ISIS ist auf dem Rückzug, sondern wieder imstande, zu gewinnen.
    Barenberg: Aber ich verstehe Sie richtig: IS, also was Sie ISIS nennen, diese Terrormiliz, ist nicht stärker, als wir alle gedacht haben?
    Reintegration der Sunniten als Schlüssel zur Befriedung
    Nouripour: Die sind nicht stärker geworden vor diesen Eroberungen. Jetzt sind sie es natürlich, weil in Ramadi haben Sie Berichten nach sehr, sehr viele zum Beispiel gepanzerte Fahrzeuge jetzt wieder vorgefunden der irakischen Armee, die sie erobert haben. Aber man muss es einfach sich anschauen, was im Irak beispielsweise passiert ist. Im Irak hat man, nachdem Mossul vor einem Jahr, relativ genau vor einem Jahr gefallen ist, gesagt: Na ja, es gibt einen Schlüssel zur Befriedung des Landes, zur Zurückweisung von ISIS und zur Stabilisierung des Iraks, und das ist die Reintegration der Sunniten. Die Sunniten waren unterdrückt, waren diskriminiert durch den alten Premierminister, und deshalb haben sie immer stärker mit ISIS zusammengearbeitet. Jetzt, zwölf Monate später, müssen die Sunniten einfach feststellen, dass diese Reintegration nicht erfolgt, im Gegenteil, dass sie bedroht sind. Und es gibt einige Anzeichen dafür, dass manche von ihnen natürlich kooperiert haben mit ISIS, um zu überleben, gerade in Ramadi. Wir haben in den letzten zwölf Monaten erlebt, dass die iranischen Revolutionsgarden, extrem verhasst bei den Sunniten im Irak, jetzt ins Land reinfallen und die irakische Armee unterstützen, aber natürlich propagandistisch auch ausschlachten, dass sie endlich Tikrit, quasi die ideologische Hauptstadt der Sunniten, erobert hätten. Wir haben erlebt, dass die Peschmerga im Norden des Landes mit deutschen Waffen die Sunniten aus Kirkuk vertreibt. Und das sind alles keine Anzeichen gewesen und keine Zeichen gewesen an die Sunniten, dass man ernsthaft daran interessiert ist, sie zurück ins Land zu bekommen. Und deshalb gibt es da einen Rückzug wieder zurück zur ISIS, was natürlich extrem bedrohlich ist, aber ich habe selbst im Mai letzten Jahres in Bagdad Sunnitenführer aus Anbar, das ist die Region, in der Ramadi sich befindet, getroffen, die mehr oder minder den Satz gesagt haben: Na ja, wir haben zwischenzeitlich die Wahl gehabt, schlecht unter ISIS leben oder unter Maliki zum Beispiel zu sterben. Und deshalb muss man denen ein anderes Gefühl verleihen. Das ist in den letzten zwölf Monaten nicht geschehen.
    Barenberg: Warum nicht, ist ja die Frage? Denn das war ja die große Hoffnung, die sich mit der neuen Regierung in Bagdad verbunden hat, auch durch Druck aus den USA, eine integrative Regierung, der es eben gelingt, Schiiten und Sunniten wieder zu irgendeiner Form der Zusammenarbeit zu bringen. Warum ist das gescheitert bis jetzt?
    "Abadi hat nie die Unterstützung bekommen von uns, die er gebraucht hätte"
    Nouripour: Weil Abadi sehr viel getan hat dafür und auch sehr stark Signale versucht hat, zu senden, während sein Vorgänger Maliki, der nicht weg war, ... Der Maliki ist in den letzten Monaten durchs Land gezogen und hat die schiitischen Milizen besucht und ihnen erklärt, Abadi wäre ein Weichei. Man könne doch nicht nachgeben, die Sunniten hätten auch unter Saddam Hussein in den 80er- und 90er-Jahren die Schiiten abgeschlachtet. Und ich rede über 800.000 unter Waffen – das ist diese Parallelstruktur der Schiiten, die deutlich stärker ist mittlerweile als die offizielle irakische Armee, in der zumindest versucht wird, zu integrieren, die Sunniten und die Schiiten. Und Abadi hat nie die Unterstützung bekommen von uns, die er gebraucht hätte, sei es monetär, sei es politisch, sondern wir haben uns einfach nur gefreut, dass Maliki weg ist und fertig war es. Das heißt, wir haben nicht besonders viel dafür getan, dass der imstande ist, sich gegen Malikis obstruktive Politik zur Wehr zu setzen.
    Barenberg: Schauen wir auf die militärische Seite. Sie haben es erwähnt, auch in Ramadi haben wir wieder erlebt, dass die Miliz Rüstungsgüter, militärische Ausrüstung von den Streitkräften des Irak erbeutet. Auf der anderen Seite gibt es ein Trainingsprogramm, es gibt das Versprechen, die irakische Armee auszurüsten. Warum ist da kein Effekt spürbar?
    Nouripour: Weil es immer nur darum geht, dass wir ein bisschen Rüstung reingeben, aber dass wir nicht uns darum bemühen, dass die Struktur sich verändert, dass es nicht darum geht, dass man ernsthaft eingegangen ist, auch Deutschland nicht, eine ernsthafte Sicherheitssektorreform, weil es nicht darum geht, in die Ministerien zu gehen, um mit den Entscheidungsträgern darüber zu reden, dass die doch endlich die alten Versprechen einlösen sollen, dass die Sunniten, vor allem auch die sunnitischen Verbände, die es gibt (...) integriert werden in die irakische Armee. Eine Armee, die auf tönernen Füßen steht, weiterhin zu bewaffnen, heißt, dass es sehr, sehr leicht wird, dass sie weiterhin die Waffen verlieren. Das heißt, die Fehler, die offenkundig geworden sind in Mossul vor einem Jahr, als ISIS da hin kam und tatsächlich einfach neu bestückt wurde durch alles, was die irakische Armee hat liegen lassen, haben sich in Ramadi mehr oder minder (...). Und wenn ich jetzt sehe, dass genau die schiitischen Milizen, die so verhasst sind bei den Sunniten, diejenigen sind, die Ramadi zurückerobern sollen, dann kann ich nur sagen: Das kann sein, dass es militärisch funktioniert, aber die Frage ist, ob danach irgendein Sunnite noch sich seines Lebens im Irak sicher sein kann oder ob sie nur noch einen einzigen Schutz haben, und das ist ISIS. Und das ist katastrophal.
    Barenberg: Sie haben angedeutet, dass die Bundesregierung eine falsche Politik macht. Was könnte sie anderes tun?
    Nouripour: Das Wesentliche wäre, das Erste wäre, zu begreifen, dass man da was tun kann. Wir haben in dem letzten Jahr die Situation gehabt, dass die Jesiden im Sindschar-Gebirge im Norden des Landes unter dramatischen Umständen umzingelt waren. Im Übrigen sind sie weiterhin bedroht. Die Bundesregierung hat sich das überlegt, es gab eine riesengroße Solidarität auch in Deutschland und den großen Wunsch, dass man doch diesen armen Menschen helfen soll, sehr berechtigterweise – und die Bundesregierung hat dann Waffen an die Peschmerga gegeben, die da eigentlich gar nicht waren. Im August waren sie auf Sindschar, die ersten Peschmerga waren am 18. Dezember im Sindschar-Gebirge. Heißt, man hat einfach nur irgendwas gemacht, damit man irgendwas gemacht hat, statt sich anzugucken, was passiert. Die Frage, die mir in Bagdad permanent gestellt wurde, ist: Ihr Deutschen habt eine andere Glaubwürdigkeit als die Amerikaner, weil ihr 2003 beim Krieg nicht dabei wart. Wo seid ihr denn, um hier die Stimme zu erheben gegen die falsche Politik aus Bagdad? Wo seid ihr denn, um drauf aufmerksam zu machen, dass man nicht ein Drittel des Landes, nämlich die Sunniten, einfach systematisch ausgrenzen kann? Und jetzt in diesen Tagen: Wo sind wir denn eigentlich, wenn es darum geht, der irakischen Armee so zu helfen, dass sie einfach in ein anderes Denken kommt? Es geht nicht darum, dass jetzt die Bundeswehr dort aufräumen soll, es geht darum, dass es nicht ausreichend ist, wenn man ein paar Leute im Norden ausbildet, ohne dass es irgendeinen Rückbezug hat auf die Ministerien in Bagdad.
    Barenberg: Sagt Omnid Nouripour, der außenpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, zur Situation im Nahen Osten und den militärischen Vorstößen der IS-Dschihadisten dort. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen!
    Nouripour: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.