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"Nachdenken, wie wir in Europa friedlich zusammenleben können"

Der ehemalige Staats- und Parteichef der Sowjetunion Michail Gorbatschow hat Deutsche und Russen als die "Helden der Vereinigung" bezeichnet. Jetzt sei es wichtig, dass Europa Russland endlich verstehe und nicht ständig herumschubse.

Michail Gorbatschow im Gespräch mit Sabine Adler |
    Jasper Barenberg: Eine dreiviertel Stunde dauerte der Militäraufmarsch zum 40. Geburtstag der DDR am 7. Oktober 1989. Von der Tribüne grüßte die Partei- und Staatsführung um Erich Honecker, doch hinter der fröhlichen Fassade gärte schon der kommende Volksaufstand. Als Ehrengast damals dabei Michail Gorbatschow. Meine Kollegin Sabine Adler hatte Gelegenheit, mit dem damaligen Staats- und Parteichef der Sowjetunion über seine Erinnerungen an diesen Besuch zu sprechen, über den Weg zur deutschen Einheit und seinen vergeblichen Kampf für den Erhalt der Sowjetunion.

    Sabine Adler: Das Jahr 1989, an das man sich in Deutschland ausgesprochen gern erinnert, wird in Russland eher als Jahr gesehen, in dem sich der Zerfall der Sowjetunion ankündigte. War das so?

    Michail Gorbatschow: 1989 fanden die ersten wirklich freien Wahlen in der tausendjährigen Geschichte Russlands statt. Wir wussten damals nicht, worauf es bei freien Wahlen ankam. Woher auch. Bisher kandidierte immer nur ein Kandidat, für den alle stimmten, und fertig.

    In dieser Wahl 1989 erlebten 35 Bezirkssekretäre ihre Niederlage. Darunter war auch ein Kandidat des Politbüros. Die Mitglieder des Politbüros waren so schockiert, dass ich nicht einmal die Sitzung eröffnen konnte, sie hörten nicht auf zu diskutieren. Ich gratulierte ihnen, das waren schließlich die ersten Perestroika-Wahlen! Und die Kommunisten haben zu 84 Prozent gesiegt. Das war ein ehrlicher Sieg von Kommunisten aus gesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften, Vereinigungen, ganz andere Persönlichkeiten als sonst.

    Und dann sagte einer, ich will ihn gar nicht bei Namen nennen: "Was für Kommunisten sollen das schon sein?" Dann drehte sich alles darum, wie die Abgewählten nun versorgt werden sollten. Man tat, als hätte man eine Katastrophe zu bewältigen.

    Adler: Für den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, aber auch für die DDR-Führung waren Sie von Anfang an ein wichtiger Gesprächspartner, umso mehr, je mehr sich der Widerstand gegen das DDR-Regime formierte. Wie haben Sie das erlebt?

    Gorbatschow: Im Juni 1989 war ich zu einem Besuch in der Bundesrepublik. Die Situation war erschütternd. Zwei Länder, zwei Völker gingen aufeinander zu, um die Situation zu beenden, die nach der faschistischen Aggression entstanden war. Damals fragte man Kohl und mich: Und was ist mit der Wiedervereinigung, haben Sie diese Frage erörtert? Kohl und ich antworteten mit unterschiedlichen Worten sinngemäß das gleich: "Ja, die Zeit dafür wird kommen. Das ist eine Frage für das 21. Jahrhundert." Ja und drei, vier Monate später fiel in Berlin die Mauer und in den Bruderstaaten des Warschauer Paktes vollzogen sich mit Ausnahme Rumäniens samtene Revolutionen.

    Es begann eine große Debatte unter den Europäern, einige waren kategorisch gegen die Wiedervereinigung. Ich wurde gefragt, wie wir uns verhalten, und ich sagte: Mit der Wiedervereinigung muss man sich anfreunden. Wer im Oktober zur 40-Jahr-Feier der DDR kam, konnte die Fackelzüge sehen. Der konnte aber auch die Stimmung erkennen, diese Unruhe! Wer die Helden der Vereinigung sucht, dem sage ich: Deutsche und Russen sind es. Sie haben sich an das, was sie verbindet, erinnert: an ihre Geschichte.

    Und am Ende des Jahres 1989 traf ich den Papst in Rom, der die Perestroika unterstützte und der mir sagte: Europa muss mit zwei Lungenflügeln atmen.

    Adler: Wie erfolgte die Abstimmung mit den Amerikanern?

    Gorbatschow: Es gab dieses Treffen mit George Bush senior auf Malta. Der wollte unbedingt, dass wir Muskeln zeigen, und dazu gehörte für ihn, dass wir unser Gespräch auf einem Kriegsschiff abhalten. Aber am Morgen des nächsten Tages stellten wir fest, dass die See tobte, ein Treffen auf dem amerikanischen Kriegsschiff unmöglich war. Also trafen wir uns auf einem zivilen sowjetischen Schiff, der Maxim Gorki, mit dem sonst Touristen unterwegs sind. Anstelle einer Machtdemonstration erklärten wir schon in den ersten fünf, zehn Minuten, dass wir uns nicht mehr als Gegner betrachten, und damit ging der Kalte Krieg zu Ende. Auch das geschah in diesem denkwürdigen Jahr 1989.

    Adler: Sie haben die Sowjetunion mit aller Kraft zu erhalten versucht, am Ende vergeblich. Wie weh tat dieses Scheitern?

    Gorbatschow: Die Sowjetunion hätte man erhalten können und sollen. Meine Mitstreiter und ich haben in dieser Frage verloren. Sollten sie ohne mich weitermachen und dem Volk Rechenschaft ablegen! Nur: Wer jetzt von einer Wiederauferstehung der Sowjetunion träumt, macht sich Illusionen. Nicht mehr als neun Prozent der Menschen wollen heute zur UdSSR zurückkehren.

    Adler: In Deutschland werden Sie bis heute sehr geschätzt und sogar verehrt, in Russland dagegen müssen Sie sich schwerste Vorwürfe gefallen lassen. Sie werden als Verräter nationaler Interessen bezeichnet, weil Sie den Vertrag über die Reduzierung strategischer Waffen 1991 unterzeichnet haben. Sind Ihre Landsleute ungerecht, undankbar?

    Gorbatschow: Mir tut es leid, wenn ich einen solchen Blödsinn kommentieren soll. Solche Unterstellungen erfüllen den Tatbestand der Verleumdung! Seit 20 Jahren muss ich mir das jetzt anhören. Diese Verträge wurden damals mit allen Dienststellen, Ministerien abgesprochen und zum Schluss natürlich auch im Politbüro diskutiert. Ich, Gorbatschow, habe nie vergessen, wem ich verantwortlich bin, wen ich zu schützen habe. Ich kann mich nur ganz energisch dagegen wehren, das sind alles Lügen.

    Adler: Mit welchem Gefühl blicken Sie heute, 20 Jahre nach dem Fall der Mauer, auf den Zustand Europas?

    Gorbatschow: Wir müssen erreichen, dass Europa Russland endlich versteht. Es ist erstaunlich und auch enttäuschend gewesen, wie der Westen auf die Probleme Russlands während der Regierungszeit von Boris Jelzin reagiert hat. Die Menschen hatten ein halbes Jahr keinen Lohn bekommen, die Industrieproduktion fiel um die Hälfte. Westliche Berater kamen, applaudierten der hiesigen Führung. Das hinterließ bei der russischen Bevölkerung den Eindruck, dass es dem Westen gefällt, wenn es den Menschen hier schlecht geht. Aber: Russland ist sich selbst genug, wir haben alles! Energie, Rohstoffe, Arbeitskräfte. Unser Grund und Boden reicht aus, um 800 Millionen Menschen zu ernähren. Solche Sprüche aus dem Westen, Russland sei ein Aggressor, ein Imperialist, sind alle Quatsch. Denken wir doch lieber darüber nach, wie wir in Europa friedlich zusammenleben können! Russland ist bereit, seine Ressourcen zu teilen.

    Adler: Sie sind immer wieder in Deutschland. Finden Sie, dass die Deutschen Russland gegenüber die nötige Dankbarkeit zeigen?

    Gorbatschow: Und wie viele Brandstifter sind unterwegs, die die Atmosphäre vergiften! Diskreditieren! Ich empfehle unseren Politkern immer, dem keine Beachtung zu schenken, ein solides Land zu bleiben und sich sicher weiterzuentwickeln. Als in München der damalige Präsident Putin auftrat, sagte er nichts Neues, als er vor der Weltherrschaft der USA warnte. Zugegeben: Er tat es sehr emotional. Aber wie die deutschen Medien über Putin herfielen, wie sie von einem neuen Kalten Krieg schrieben, das war beispiellose. Russland will gegen niemanden kämpfen. Wofür? Russland hat alles. Unser Land muss modernisiert werden. Aber nicht mit der Europäische Union, wenn die uns ständig herumschubst. Präsident Obamas Haltung gefällt mir, der offen sagt, dass wir unterschiedliche Ansichten haben, aber dennoch zusammenarbeiten können.

    Barenberg: Erinnerungen an das denkwürdige Jahr 1989 und die Folgen für Russland und Europa. Michail Gorbatschow war das im Gespräch mit Sabine Adler, 20 Jahre nach den Jubelfeiern der Ost-Berliner Staats- und Parteiführung zum 40. Geburtstag der DDR.