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Nachfahren geflohener Juden
Schwieriger Weg zum deutschen Pass

Immer mehr britische Juden, deren Vorfahren in der Nazizeit fliehen mussten, wollen Deutsche werden. Sie berufen sich dabei auf das Grundgesetz, aber die deutschen Behörden lehnen das oft ab. Dagegen regt sich Widerstand - in Großbritannien und in Deutschland.

Von Korbinian Frenzel | 22.08.2019
Ein britischer und ein deutscher Reisepass.
Der deutsche Pass ist in Zeiten des Brexits begehrt - für viele Nachfahren geflohener Juden aber schwer zu bekommen (picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild)
Peter Guillery hat es beim Aufräumen gefunden, nach dem Tod seines Vaters: ein graues Stück Papier, ein Dokument aus einer anderen Zeit - ausgestellt vom 22. Polizeirevier in Berlin, 1934. "Das ist der Kinderausweis meines Vaters", erzählt Peter Guillery, "ein Dokument übersät mit Stempeln: Niederlande, Schweiz, schließlich Großbritannien". Stationen der Flucht des damals 9-Jährigen. Seine alleinerziehende, jüdische Mutter hatte ihn und seine Schwester über Nacht auf die Reise geschickt. Zielort: London. Nach dem Krieg, erzählt Peter Guillery, ist sein Vater offiziell Brite geworden:
"Und er wollte eigentlich Zeit meines Lebens nicht viel mit Deutschland zu tun haben. Aber wir haben dann doch die Möglichkeiten geprüft, wie er wieder Deutscher werden könnte, und zwar nach dem Brexit-Referendum."
"Kein Anspruch auf den deutschen Pass nach Artikel 116"
Artikel 116 des Grundgesetzes macht dies grundsätzlich möglich, das hatten der Historiker Peter Guillery und sein Vater recherchiert. Im zweiten Absatz des Artikels heißt es, Zitat: "Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern." Peter Guillery:
"Ich dachte, er würde wütend werden bei diesem Gedanken, aber er sagte: Ja, es würde doch passen, wenn ich wieder Deutscher würde."
Kinderausweis mit Foto aus der Zeit des Nationalsozialismus, Peter Guillerys Vater
Dokument aus einer anderen Zeit: Der Kinderausweis von Peter Guillerys Vater (Deutschlandradio / Korbinian Frenzel)
Peter Guillerys Vater stellte den Antrag. Die Antwort der deutschen Behörden kam für ihn allerdings zu spät; er starb im vergangenen Jahr. Es war sein Sohn, der die Ablehnung in Empfang nahm: kein Anspruch auf den deutschen Pass nach Artikel 116, lautete der Bescheid des Bundesverwaltungsamtes. Der 62-Jährige will diese Entscheidung nicht akzeptieren und hat sich deshalb in einer Initiative mit mehr als 100 anderen Betroffenen zusammengeschlossen.
Gesetzliche Hürden für deutsche Staatsbürgerschaft
"Ich bin Nick Courtman. Ich bin 1991 in London geboren. Meine Großmutter, Eva Goldschmied, ist 1923 geboren in Berlin Charlottenburg."
Nick Courtman zum Beispiel. Auch seine Großmutter musste aus Nazi-Deutschland fliehen. Der Enkel kennt mittlerweile jeden Fallstrick des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts, seit er sich in der "Article 116 Exclusion Group" engagiert. Im Falle von Peter Guillerys Vater etwa, so erklärt es der 28-Jährige, führte dessen Entscheidung, nach dem Krieg Brite zu werden:
"Wenn wir es rein technisch betrachten, zum freiwilligen Verzicht auf die deutsche Staatsangehörigkeit, was es natürlich nicht ist. Das ist eine Deutung, zu der man nur gelangen kann, wenn man von der historischen Realität absieht, was die deutsche Verwaltung anscheinend sehr gerne macht."
Nick Courtman selbst hat den Antrag, Deutscher zu werden, noch nicht gestellt, weil auch der aussichtslos wäre – derzeit, sagt er. In seinem Fall sei das eine Frage des Geschlechts:
"Wenn mein Großvater statt meiner Großmutter aus Deutschland geflohen wäre, dann hätte ich heute einen uneingeschränkten Einbürgerungsanspruch in Deutschland."
Der Anspruch auf den deutschen Pass, das ist der Hintergrund, konnte bis 1953 bei binationalen Ehen nur durch den Vater, nicht aber durch die Mutter an die Kinder weitergeben werden. Nick Courtmans Großmutter hatte einen Briten geheiratet.
Viele Briten wollen Deutsche werden – wegen des Brexits
Für Nick Courtman, der in Deutschland studiert hat und derzeit über deutschsprachige Literatur in Cambridge promoviert, war es lange kein Thema, selbst den deutschen Pass haben zu wollen:
"Weil es nicht nötig war. Aber nach dem Brexit kam der Gedanke, vielleicht möchte ich das machen. Und als ich dann erfahren hatte, dass ich dazu nicht berechtigt war, aus vollkommen willkürlichen Gründen, nahm das eine ganz andere Bedeutungsebene für mich an."
Nick Courtman hat seither viele Briefe geschrieben an die Fraktionen im Bundestag, an Fachpolitiker, die das Problem seit langem kennen. Neu ist der Druck durch den Brexit: Vor dem Referendum, im Jahr 2015, beriefen sich gerade einmal 43 Briten auf den Wiedergutmachungsartikel, um Deutsche zu werden. 2016 waren es bereits 684, fast alle Anträge kamen in der zweiten Jahreshälfte, also nach dem Referendum. 2017 dann verdoppelte sich die Zahl der Anträge noch einmal.
Einbürgerungsdebatte im politischen Berlin angekommen
Quer durch die Reihen sorgt das für Bewegung im Bundestag und in der Regierung in Berlin. Eva Högl, innenpolitische Sprecherin der SPD, hält es für absolut wichtig:
"Dass wir die Wiedereinbürgerung erleichtern gegenüber den Möglichkeiten, die bereits jetzt bestehen. Warum müssen wir das erleichtern? Weil wir tatsächlich sehr restriktive Regelungen haben für Nachfahren von ehemaligen deutschen Staatsangehörigen."
Noch in diesem Sommer, so die Ankündigung des Parlamentarischen Staatssekretärs im Innenministerium, Günter Krings (CDU), soll es deshalb deutliche Erleichterungen geben. Einen entsprechenden Erlass hat das Ministerium erarbeitet. Die Sozialdemokratin Eva Högl erhofft sich davon, dass die größten Ungerechtigkeiten auf dem Weg zur deutschen Staatsangehörigkeit beseitigt werden, etwa in Fällen, wie jenem von Nick Courtman:
"Wir müssen natürlich die Unterschiede zwischen Männern und Frauen beseitigen, das sind viele Regelungen, die noch sehr nachteilig sind, wenn die Vorfahren zurückgehen auf die Mutter, die Großmutter, die Urgroßmutter."
Oder auch von Peter Guillerys Vater, der nach bisheriger Einschätzung des Bundesverwaltungsamtes nicht zu den Verfolgten nach Artikel 116 des Grundgesetzes zählt.
"Dann müssen wir über den 116 hinaus auch die Definition von Verfolgung, Diskriminierung, nationalsozialistischem Unrecht weiten. Es gibt auch Personen, denen die deutsche Staatsangehörigkeit nicht aberkannt wurde oder die nicht gezwungen wurden, sie abzugeben. Sie haben sie freiwillig, zum Beispiel durch Heirat, abgegeben, oder um in Großbritannien eine neue Heimat zu finden. Da müssen wir das trotzdem als Verfolgung anerkennen, weil die Menschen in der Regel ja immigriert sind, weil sie in Deutschland nicht mehr leben und arbeiten konnten."
Grüne wollen das Staatsbürgerrecht dauerhaft ändern
Reicht für all das ein Erlass, wie ihn die Große Koalition plant? Zweifel darüber herrschen nicht nur bei der Betroffenen-Initiative in London, sondern auch bei der Opposition in Berlin. Filiz Polat, Obfrau der Grünen im Innenausschuss, warnt:
"Es gibt gesetzliche Grundlagen, die kann man durch einen Erlass quasi interpretieren zugunsten der Betroffenen, aber man kann sie nicht außer Kraft setzen. Insofern sehen wir die Notwendigkeit, dass das Gesetz geändert werden muss."
Die Grünen bringen deshalb nach der Sommerpause einen Gesetzentwurf in den Bundestag ein, der das Staatsbürgerrecht dauerhaft ändern soll. Es gehe jetzt vor allem um die Nachfolgegenerationen, sagt die Grünen-Politikerin, und ihren Wunsch:
"Dass eine Wiedereinbürgerung unproblematisch möglich ist und eben nicht so entwürdigend als Bittstellerinnen in den Konsulaten, Botschaften, oder auch aus dem Inland heraus, eine Wiedereinbürgerung zu erstreiten. Das auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite auch nicht die Erfahrung machen zu müssen, abgelehnt zu werden, was in einer Vielzahl der Fälle bereits geschehen ist."
"Ich möchte deutsch sein"
In der britischen "Article 116"-Initiative sind seit Beginn des Jahres viele versammelt, die ein "Nein" der deutschen Behörden bekommen haben - und es sind nicht nur Kinder und Enkel von einst Geflohenen. Auch Betroffene der ersten Generation sind dabei:
"Ich bin Stefan Feuchtwang, geboren in Berlin 1937."
Stefan Feuchtwang hat seinen Antrag auf deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Brexit-Referendum gestellt – er, der sich immer zuerst als Europäer empfunden hatte, wollte es auf diese Weise bleiben können, erzählt der heute 82-Jährige. Vor einem Jahr kam die Ablehnung des Bundesverwaltungsamtes. Der Grund: Sein Vater, Sohn des Oberrabbiners von Wien, selbst ein Geschäftsmann in Berlin, hatte noch die österreichische Staatsbürgerschaft, als er mit der Familie am Tag des "Anschlusses" 1938 die Koffer packte und aus Nazi-Deutschland floh. Stefan Feuchtwang kann die Ablehnung seines Antrages nicht verstehen:
"Ich war deutsch, weil meine Mutter deutsch war. Und mein Vater lebte in Berlin. Und ich war in Berlin geboren. Das macht mich deutsch."
Stefan Feuchtwang wird jetzt wohl Widerspruch einlegen gegen den Bescheid, jetzt, da auch in Berlin politisch Bewegung in die Sache kommt. Für ihn bleibt ein Wunsch und eine Gewissheit:
"Ich möchte deutsch sein. Ich bin deutsch."