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Brexit
"Möchte nicht das Gefühl haben, dass ich nicht Teil Europas bin"

Mehr als 3.000 britische Juden haben nach dem Brexit-Votum die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, weil sie Europäer bleiben wollen. Artikel 116 des Grundgesetzes garantiert Nachkommen von NS-Verfolgten, dass sie eine aberkannte Staatsbürgerschaft wiederbekommen. Nicht alle wollen dann aber in Deutschland leben.

Von Kirsten Serup-Bilfeldt | 05.11.2018
    Eine Flagge der Europäischen Union und eine Fahne vom Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland, der Union Jack
    Viele Briten sind mit dem Brexit unzufrieden - darunter auch viele Nachfahren jüdischer Flüchtlinge (Jens Kalaene/dpa)
    "200 boys and girls wave a greeting to England, land of the free..."
    Und dann stehen sie da, im Land der Freiheit - am Parkestone Quay im Hafen von Harwich, ein Köfferchen mit nur wenigen Habseligkeiten an der Hand, ein Namensschild um den Hals: 200 Jungen und Mädchen aus München, Dresden und Berlin, aus Leipzig, Köln und Hamburg. An diesem 2. Dezember 1938 trifft der erste Transport mit jüdischen Kindern in Großbritannien ein. Dame Stephanie Shirley, heute eine der erfolgreichsten Unternehmerinnen Großbritanniens, erinnert sich:
    "Meine Eltern schickten mich nach England. In die Arme von fremden Leuten und wohlwissend, dass sie mich nie wiedersehen würden, auf einen sogenannten Kindertransport als ich fünf Jahre alt war."
    "Ich fühle mich hier sehr zu Hause"
    Es gibt nicht viele deutsche Fremdwörter im englischen Wortschatz, aber der Ausdruck "Kindertransport" gehört zweifellos dazu. Er bezeichnet die Rettung jüdischer Kinder aus Hitler-Deutschland, zu der sich Großbritannien 1938 entschlossen hatte. Von Dezember 1938 bis August 1939 öffnete das Land seine Grenzen, um rund 10.000 jüdische Kinder vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu bewahren. Hin- und hergerissen zwischen Sorge und Dankbarkeit schickten deutsche Eltern ihre Jungen und Mädchen über den Ärmelkanal in eine ferne Sicherheit, in ein neues Zuhause, zu neuen "Eltern". Und irgendwann wurden diese deutschen Kinder zu waschechten Briten. So wie Lee Green und Paul Cohn:
    "Ich denke englisch, ich träume englisch, ich atme englisch. Ich ess' nicht englisch - aber sonst ist alles englisch... Ich fühle mich doch hier sehr zu Hause…"
    Jüdische Kinder aus Deutschland spielen 1938 im englischen Exil Fußball
    Tausenden von jüdischen Kindern wurde 1938 ein neues Leben in Großbritannien geschenkt (imago stock&people)
    Ein "Hallo" nach Europa
    An diesem Sommertag 2016 sitzt Thomas Harding auf dem Rasen vor der deutschen Botschaft im Londoner Stadtteil Belgravia. Hinter ihm wehen die deutsche und die Europafahne. Er blättert in einem abgegriffenen Pass, der ein großes rotes J trägt - der Pass seines emigrierten deutschen Großvaters. Gerade hat Harding, nur wenige Wochen nach dem Brexit-Referendum, in der Botschaft einen Antrag zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft gestellt:
    "Als Europäer muss ich das tun. Ich habe festgestellt, dass ich viel offener gegenüber Deutschland geworden bin und nun, nach dem Brexit, ist mir klargeworden, dass meine Familie und ich nicht in verschiedenen europäischen Ländern leben können. Und überdies muss ich ja weder meinen britischen Pass abgeben noch zwangsläufig in Deutschland wohnen. Ich habe also nichts zu verlieren. Für mich ist es weniger ein Abschied von Großbritannien als ein 'Hallo' nach Europa."
    Möglich macht dieses "Hallo nach Europa" der Artikel 116 des Grundgesetzes. Er garantiert Verfolgten des NS-Regimes und ihren Nachkommen das Recht, eine im Dritten Reich aberkannte deutsche Staatsbürgerschaft wieder einzufordern. Die Zahlen der Briten, die das seit dem Brexit, also seit Juni 2016 tun, sind kontinuierlich gestiegen. Rund 3.500 Antragsteller berufen sich inzwischen auf diesen Artikel im Grundgesetz. Die Motive für diesen Entschluss sind zumeist pragmatischer Natur.
    Europäerin bleiben
    So wie bei Lady Julia Neuberger. Ihre Familie stammt aus Heilbronn, ihre Mutter kam 1937 nach Großbritannien. Sie selbst ist Rabbinerin an der West London Synagoge. Sie und Lord Jonathan Sacks sitzen als einzige Rabbiner im Britischen Oberhaus. Selbstverständlich fühlt sich Julia Neuberger als Britin; die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, ist aber für sie ein Zeichen von Offenheit und Pragmatismus. Der zusätzliche deutsche Pass mache sie "nicht weniger britisch - nur europäischer", sagt sie, gleichzeitig sei er auch ein Bekenntnis zu ihrer Vergangenheit:
    "Ich werde ja nicht in Deutschland leben, sondern hier in London bleiben. Aber mir ist klar, dass es auch ein Stück meiner eigenen Geschichte ist. Und ich sehe keinen vernünftigen Grund, warum mir das fortgenommen werden sollte. Ich möchte nicht das Gefühl haben müssen, dass ich nicht ein Teil Europas bin. Natürlich bin ich das, meine gesamte Lebensgeschichte, mein Hintergrund, all das ist europäisch."
    Eine Teilnehmerin der Demonstration für ein zweites Brexit-Referendum hat sich eine EU-Fahne auf das Gesicht gemalt.
    Viele Briten wollen Teil Europas bleiben (Yui Mok/PA Wire/dpa)
    Außerdem, sagt sie, bewundere sie, wie sich Deutschland mit seiner Nazi-Vergangenheit auseinandergesetzt habe. Dass das nicht alle so sehen, weiß Michael Newman aus Erfahrungen in seiner Familie:
    "Für manche Menschen ist es psychologisch sehr schwer, sich vorzustellen, die Staatsbürgerschaft eines Landes wieder anzunehmen, das sie selbst oder ihre Vorfahren verfolgt hat."