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Nachkriegszeit
Besatzerkinder und die Folgen der Stigmatisierung

Im Nachkriegsdeutschland wurden sie geringschätzig "Russenkinder" und "Brown Babies" genannt: Kinder, die aus Beziehungen von Besatzungssoldaten und deutschen Frauen entstanden waren. Historiker schätzen ihre Zahl auf mindestens 200.000. 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Lebenswege der Besatzungskinder in das Blickfeld der Forschung gerückt - und die Lehren, die sich daraus für den Umgang mit den Opfern moderner Konflikte ergeben.

Von Alexander Budde | 11.06.2015
    Drei Kinder mit Schultasche und Schultüte blicken über die Schulter - der schwarze Wolfgang, Brünhilde und die schwarze Sylvia.
    Die Besatzungskinder Wolfgang, Brünhilde und Sylvia an ihrem ersten Schultag (undatierte Aufnahme). (dpa / Koll)
    Winfried Behlau war ein junger Mann von 13 Jahren, als sich seine Mutter offenbarte.
    "Meine Mutter hat mir einmal was erzählt, wie ich entstanden sei. Die hat mir ganz kurz gesagt: Dein Vater ist ein Russe, ich bin damals vergewaltigt worden. Ich hielt mich damals für unglaublich cool, hab sie in den Arm genommen. Und dann hat lebenslang ein großes Schweigen eingesetzt."
    Die Kriegerwitwe flieht mit ihren Kindern und Schwestern ins lippische Lage, um ihre Erinnerungen errichtet sie eine Mauer des Schweigens. Der Vater bleibt ein Tabu in der Familie, an dem der Sohn lange nicht zu rühren wagt. Erst Jahrzehnte später erfährt Behlau von einer Tante, was Sowjetsoldaten im Sommer 1945 den Frauen auf dem elterlichen Bauernhof im ostpreußischen Ottendorf angetan haben. Amtliche Bescheide aus den frühen Nachkriegsjahren registrieren das Kind, das sich ungeliebt fühlt, als "Kriegsschadensfall".
    "Ich fürchte, dass meine Mutter in der Anfangszeit mit ihrer Zuwendung ein bisschen zögerlich war. Aus der Kindheit her weiß ich, dass ich auch Prügel bezogen hab. Was man aber auch den Verhältnissen schulden muss, denn meine Mutter hat es bestimmt nicht leicht gehabt: In den 50er- und 60er-Jahren herrschte Kalter Krieg, die Russen waren die Bösen. Bei allen Verwandtentreffen wurde über die Flucht berichtet. Und dann war es schon für mich ein Schock, auf einmal zu sehen: "Du bist ein Kind des Feindes!"
    70 Jahre nach Kriegsende ist das Schicksal der Besatzungskinder in Deutschland noch immer kaum aufgearbeitet. Historiker schätzen allein die Zahl der sogenannten Russenkinder auf mindestens 100.000. Auch französische, britische und amerikanische Besatzungssoldaten zeugten in Zeiten des Krieges Kinder mit einheimischen Frauen - sei es durch Vergewaltigung oder in mehr oder weniger freiwilligen Beziehungen.
    Für die Alliierten blieben die Kinder Privatsache, nur die Vereinigten Staaten haben bislang ihre Militärarchive für Forschung im Kontext geöffnet. Ein kleiner Teil der Kinder wuchs in Heimen auf. Die wenigsten Mütter heiraten und folgten ihren Männern in deren Heimat nach.
    Vom Feind gezeugt und unehelich geboren, erfuhren fast alle Besatzerkinder mehr oder weniger ausgeprägte Ablehnung: in der eigenen Familie, in der Schule, unter Nachbarn. Die Psychologin Heide Glaesmer von der Universität Leipzig gräbt tief in den zugänglichen Archiven, rückt den Zeitzeugen mit ausgeklügelten Fragebögen zu Leibe. In ihrer Studie untersucht sie, wie sich das doppelte Stigma auf die Lebenswege der Kinder von Besatzungssoldaten auswirkte.
    "Was wir heute wissen aus unserer Forschung ist, dass es in fast allen Familien ein tiefes Schweigen darüber gab. Das kommt sicher daher, dass schondie Mütter diskriminiert und stigmatisiert wurden, dafür, dass sie sich mit den Besatzern eingelassen haben, dass sie uneheliche Kinder geboren haben. Die sind häufig unter großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten aufgewachsen, weil die keinen Unterhalt für die Kinder bekommen haben. Dann gibt es sogenannte aversive Kindheitserfahrungen, das sind Erfahrungen von Missbrauch und Vernachlässigung, und das ist, was wir in dieser Gruppe häufiger finden als in der Bevölkerung. Und in unserer Studie haben wir leider auch zeigen können, dass die heute noch viel häufiger psychische Belastungen haben als die Allgemeinbevölkerung derselben Geburtskohorten."
    Vaterlos wuchsen viele Kriegskinder heran. Doch im Unterschied zu ihnen eint fast alle Besatzerkinder die Erfahrung, dass vom leiblichen Vater kaum mehr geblieben ist als eine Leerstelle: Es gibt in aller Regel keine Fotos von ihm, keine Andenken, keine Erzählungen.
    "Viele der Besatzungskinder haben gesagt, ich habe das sehr spät erfahren und es war nicht möglich, mit meiner Mutter darüber zu reden. Wenn man nichts über seinen Vater weiß, wer er war, wie er hieß, ob er noch lebt, fehlt auch ein wichtiger Baustein in der eigenen Identitätsbildung."
    Elisa van Ee erforscht, wie sich posttraumatische Stress-Symptome von Flüchtlingsfrauen auf die Interaktion von Mutter und Kind auswirken. Kinder suchen häufig Gründe der Ablehnung bei sich selber, gibt die Psychologin am Institut für Psychotraumata im niederländischen Diemen zu bedenken. Ihre Bedürfnisse hätten noch viel zu wenige Helfer in den Aufnahmeländern im Blick.
    "Die Flüchtlingsfamilien leben oft sehr isoliert in ihren Unterkünften. Das bedeutet, dass es nicht viele Bezugspersonen rund um das Kind gibt, die ihm Geborgenheit vermitteln können. Wenn es einen Lehrer oder Sozialarbeiter gibt, der eine Beziehung aufbaut, der für Routinen sorgt, kann das für die emotionale Reifung des Kindes sehr hilfreich sein. Die ständig wechselnden Wohnorte während des Asylverfahrens sind es nicht. Wir sollten alles tun, damit diese Kinder in möglichst stabilen Verhältnissen aufwachsen."
    Die Russenkinder sind inzwischen im Rentenalter. Marianne Guthmann sagt, sie sei ein Kind der Liebe.
    "Meine Mutter verstehe ich immer besser. Die hat ja versucht, mich zu schützen, die hat versucht, sich selber zu schützen vor offener Feindseligkeit. Richtig wütend bin ich bis heute auf meine Oma. Die hat nämlich ein Foto, was mein Vater meiner Mutter mitgegeben hat, das hat die vernichtet. Und ich war dadurch verloren. Man will wissen, wem bin ich ähnlich? Was habe ich geerbt? "
    Wie andere Russenkinder auch, macht sich Guthmann schließlich selbst auf die Suche nach dem unbekannten Vater. Sie schreibt an die Botschaft in Moskau, an das Rote Kreuz, sucht in Facebook-Profilen nach Informationen. Und stößt nach zwölf Jahren privater Fahndung in Minsk auf ihren leiblichen Bruder.
    "Der hat sich unglaublich gefreut. Der schickte mir einen so berührenden Brief und kam sofort, hat meine Mutter kennengelernt. Und hat alles mitgebracht: alte Filme von seinem Vater. Und meine Mutter saß da nur und sah dann meinen Vater, unseren Vater, als älteren Mann, als Großvater. Und das ist so ein Happy End gewesen!"