Sonntag, 05. Mai 2024

Archiv

Nacht-Geschichten
Von Abgründen, Sehnsüchten und Ängsten

Nachts herrscht in einer Stadt eine besondere Atmosphäre. Das Leben ist nur zu ahnen. Manche Menschen können nur nachts arbeiten, andere sind unfreiwillig wach. In ihrem Prosadebüt erzählt die Münchner Journalistin Mercedes Lauenstein Geschichten von solchen Nachtmenschen - und blickt mit psychologischer Tiefe in ihre Seelen.

Von Sandra Hoffmann | 12.05.2016
    Leuchtende Nachtwolken über Kühlungsborn
    Die Nacht hat ihren eigenen Zauber. (IAP)
    "Ich bin drauf gekommen, dadurch dass ich halt auch oft wach bin. Und rauszugehen ist für mich auch so’n – also irgendwie hab ich das Gefühl, die Stadt ist so eine andere, und man sieht so ein intimes, eigenes Gesicht der Stadt, wenn alles leer ist, und ahnt dann nur so das Leben der Bewohner da drin, da so durchzuwandeln und sich Gedanken zu machen, das hat was sehr meditatives und es ist was anderes, als drin zu sein, weil man so zwischen allem ist. Und irgendwie fühl ich mich dann auch näher zu der ersehnten Verbindung zu den Leuten."
    Mercedes Lauenstein hat ein ganz wunderbares Buch geschrieben über Menschen, die nachts, wenn die Stadt eigentlich schläft, noch wach sind. Ihre Protagonistin streicht durch die Straßen der Innenstadt, durch Gegenden am Stadtrand, und dort, wo noch ein Licht brennt im Haus, klingelt sie. Und wenn sie Einlass bekommt, befragt sie die Menschen nach den Gründen ihres Wachseins. Und so stellt sich in den 25 einzelnen Geschichten ein ganzes menschliches Panoptikum zusammen: Wir begegnen Menschen, die Glück empfinden, wenn sie nachts alleine wach sind, Menschen, die wach sind, weil sie nachts ihr Leben sortieren wollen, alte Tagebücher lesen und ihr Leben verstehen wollen, das ihn vorkommt, als sei es schon bald vergangen; Wir treffen auf Menschen, die eigentlich jemanden erwarten, und in diesem Warten liegt eine Hoffnung auf die Zukunft, andere Menschen, die ziemlich verrückt sind, und einsame, die froh sind, endlich aus ihrem Leben erzählen zu können. Insgesamt stellt sich der schöne Eindruck ein, der Mensch an sich ist ein sehr eigentümliches Wesen, und in der Nacht noch viel mehr als am Tag:
    "Man darf ja auch nicht vergessen, dass das Buch schon auch sehr fiktiv ist und dass das alles auch das ist, was dann mir so zugeflogen ist, was ich mir zu treffen oder zu sehen, erhofft habe, aber irgendwie sind wir ja alle seltsam und freuen uns, wenn wir die Seltsamkeiten der anderen so entdecken oder die Schwächen, die Verletztheiten."
    Eine Geschichte, wie in einem Rausch geschrieben
    "Das ist auch das Schöne, finde ich, dass wenn man sich nachts so drauf einlässt und man die Leute so beobachtet, man dann spürt, die sind alle gar nicht so normal oder so heil, wie man denkt, die haben es ja alle viel besser als ich, oder ein viel sortierteres Leben oder so."
    Tatsächlich ist es die große Stärke vieler Geschichten dieses Buches, dass wir auf den sieben, acht oder neun Seiten, auf denen wir sehr jungen, sehr alten, gesunden und kranken Menschen, Männern und Frauen begegnen, sehr nahe an diese Menschen herankommen, manchmal so nahe, dass wir fast traurig sind, nicht noch mehr zu erfahren, über zum Beispiel den verrückten Mann, der Egon heißt und in der zehnten Geschichte vorkommt. Egon öffnet nachts um 3.04 Uhr die Türe und spricht schon über die Sprechanlage ziemlich stakkatoartig mit der Erzählerin, die ihrerseits schon im ersten Moment der Begegnung mit Egon ein wenig Angst hat vor ihm. Trotzdem betritt sie mit ihm die Wohnung, und schnell gerät die Szene zu einem dichten Kammerspiel aus Verwirrtheit, wahnsinnig poetischem Unsinn und schließlich ziemlich gefährlichem Grusel. Das ist lesenswert und dicht geschrieben aber kein Erlebnis, das man einer Frau im echten Leben wünscht. Und man ist froh, zu wissen, dass Mercedes Lauenstein nicht nur die Wirklichkeit abschreibt, sondern manches, nicht nur in "Egon" auch erfunden ist.
    "Interessanterweise ist Egon die Geschichte gewesen, die habe ich in so einem Rausch, fast ohne Korrekturen von oben bis unten runtergeschrieben, und auch noch nachmittags, die meisten Geschichten sind nachts entstanden. Ich hatte so ein ganz langes Dokument mit Figuren, die es geben könnte, oder mit Sätzen, oft war es aber so, dass ich mich hingesetzt habe, um zu schreiben, und gedacht habe, jetzt konstruiere ich die nächste perfekte Geschichte und dann hab ich doch einfach runtergeschrieben, und interessanterweise habe ich an Egon so wenig gearbeitet, und da habe ich auch irgendwie gemerkt, das ist gut, das war so eine interessante Erfahrung vom Schreiben, das Gute geht vielleicht doch irgendwie einfach (...) und ich hatte ein bisschen das Gefühl von einer höheren Macht, die mir was einflüstert, das war ziemlich schön: Ich hoffe, das überkommt mich noch mal irgendwann."
    Die meisten Menschen sind nachts auf sich zurückgeworfen
    Das wünscht man sich sehr, denn nicht nur in Egon haben wir das Gefühl, dass hier eine Erzählerin am Werk ist, die ihren Figuren auf den Grund gehen kann, die sie in ihrer psychologischen Tiefe begreifen möchte und dies manchmal fast intuitiv tut, die Fragen hat an das Leben und seine zyklische Abfolge: Etwa, wie funktioniert das menschliche Gemüt bei Helligkeit und wie bei Dunkelheit?
    Und so lässt sie Leonie, eine junge Frau nachts um 3:13 sagen: "Die Nacht mag ich nicht. Es ist, als würden die Leute nachts aus ihren Häusern verschwinden, in ein Land gehen, zu dem ich keinen Zugang habe, und mich hier den bösen Geistern zum Fraß überlassen. Ich fühle mich nachts ausgeschlossen, ich kann die Ruhe nicht genießen, ich wünschte, es gäbe jemanden, der nachts vor meiner Tür bügelt, wie meine Oma früher. Zurzeit schlafe ich meistens erst ein, wenn draußen die ersten Menschen zur Arbeit fahren. Erst, wenn das das Triebwerk wieder in Gang kommt, kann ich aufhören zu grübeln."
    So ist das in vielen Geschichten, die in diesen 25 Nachtbegegnungen erzählt werden, wir werden stehen den Abgründen, den Sehnsüchten und Ängsten der Figuren gegenüber, oftmals ganz ungeschützt.
    "Also ich glaube schon, dass das was mit der Atmosphäre der Ruhe zu tun hat, nachts, und der Stille, dass doch, glaub ich, die meisten Menschen nachts auf sich zurückgeworfen sind, weil diese ganzen Sachen wie, ich muss zum Arzt, ich muss noch einkaufen, ich muss den Bus kriegen, irgendwer ruft mich gleich an, das fällt alles weg, und wenn man sich nicht berauscht, oder gleich schläft, entsteht da so eine ganz intime Atmosphäre in der Nacht, weil man vielleicht viel mehr über sich selbst nachdenkt oder den Ort, an dem man grad steht im Leben, mir geht es oft so, (…) dass ich oft einen tieferen Zugang zu mir selbst auf einmal hab, und so ganz intensive Gedanken- und Erlebniswelten verfalle."
    Mercedes Lauenstein: "Nachts",
    Aufbau Verlag, Berlin, 2015, 191 Seiten, 18.95 Euro.