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Nachwachsende Nerven

Neurologie. - Wenn bei Verletzungen Nerven durchtrennt wurden, dauert es geraume Zeit, bis das Gefühl in die betroffenen Bereiche zurückkehrt. Bei größeren Schäden überbrücken Ärzte einige Areale mit Nerven, die aus unverletzten Körperteilen stammen. Doch durch die Entnahme der Nerven entstehen neuronale Schäden. Magdeburger Ärzte haben mit einer Mixtur aus Muskel- und Stammzellen möglicherweise einen Ausweg gefunden.

Von Michael Engel | 05.03.2008
    Es sind solche Unfälle, die sie antreiben. Dr. Gerburg Keilhoff möchte den Verkehrsopfern helfen, wenn tiefe Wunden zu einem Nervenabriss zum Beispiel im Bereich der Schulter geführt haben: Mit der Folge von Lähmungen in Armen und Händen. Alternative Nerventransplantate - im Brutschrank gezüchtet - sollen neuronale Brücken bilden. Bei Ratten funktioniert es schon.

    Im "Institut für medizinische Neurobiologie", im sterilen Luftstrom einer Werkbank, nimmt die Biologin eine durchsichtige Dose in die Hand und hebt den Deckel.

    " Also, das ist eine Kulturschale. In der haben wir Stammzellen drin. Die sind angezüchtet. Sie sind aus dem Knochenmark der Ratte gewonnen worden, sind dann gereinigt worden. Sind dann ausgestreut worden, um das Transplantat an sich herzustellen, um den Muskel damit zu füllen. "

    Stammzellen, Knochenmark, Muskeln, Transplantat: Was Dr. Gerburg Keilhoff in 20 Sekunden abspult, wäre, wenn es beim Menschen funktionierte, ein medizinischer Meilenstein: Die Biologin kann Muskeln mit Unterstützung von adulten Stammzellen aus dem Knochenmark in ein Nerventransplantat verwandeln. Und das Ergebnis ist beeindruckend: Die Ratten hüpften nach dem Einsetzten der künstlichen Nervenfasern munter durch den Käfig.

    " Natürlich, wir haben ja den Ischiasnerv durchschnitten. Die Ratte zieht also ihr Bein hinterher. Die kann zum Beispiel also auch ihre Zehen nicht spreizen. Und wenn Sie dann sehen, nach sechs Wochen, fängt sie wieder an, die Zehen zu benutzen. Und wenn nach zwölf Wochen die Leute fragen, welche von den Ratten sind die, die operiert wurden, und sagen, das können wir nicht unterscheiden, dann ist das richtig gut. "

    Um einen Muskel in eine funktionstaugliche Nervenfaser zu verwandeln, sind drei Schritte nötig. Zuerst muss dem Tier ein winziges Stück Muskelfaser entnommen werden, die der späteren Nervenfaser entspricht. Durch mehrmaliges Einfrieren und Auftauen sterben die länglichen Muskelzellen ab. Übrig bleibt eine Zellwandstruktur aus mikroskopisch kleinen Röhren: Die "Leitschiene" für die Nervenfasern. Im zweiten Schritt muss diese Matrix aus Kollagen mit sogenannten "Schwanzellen" besiedelt werden. Dr. Keilhoff nimmt dazu adulte Stammzellen aus dem Knochenmark desselben Tieres.

    " Zuerst mal muss man diese Stammzellen natürlich kultivieren. Weil die Stammzellen haben ja von sich aus eine Richtung vorgegeben. Die können also zu Knochenzellen, zu Knorpelzellen oder auch zu Fettzellen werden, und das ist ihr normales Schicksal. "

    Wachstumsfaktoren verwandeln die Stammzellen in der Kulturschale in sogenannte "Schwanzellen". Das sind Zellen, die unsere Nerven wie eine Kabelisolierung ummanteln. Herangezüchtete Schwanzellen werden mit einer Spritze in die Muskelfasermatrix injiziert. Im letzten Schritt wird das so vorbereitete Transplantat mit der durchtrennten Nervenfaser im Körper vernäht. Die nun auskeimenden Nervenenden finden fast automatisch ihren Weg durch die Röhren der Matrix. Die darin befindlichen Schwanzellen versorgen den neuronalen Keimling mit Nährstoffen und ummanteln die sich bildenden Fasern.

    " Etwa nach acht Wochen kann ein ungeübtes Auge den Muskel nicht mehr von einem normalen Nerven unterscheiden. Sie haben also sehr wohl dort einen neuen Nerven, der dann auch nur seine zwei Millimeter im Durchmesser hat. "

    Noch ist unklar, wann das Verfahren beim Menschen eingesetzt werden kann. Der Handlungsdruck ist groß: 80 Prozent der Unfallopfer mit Nervenschädigungen leiden unter neuronalen Störungen, im schlimmsten Fall unter Lähmungen. Dr. Hisham Fansa, der die Transplantate eingenäht hat, rechnet gleichwohl in frühestens zwei Jahren mit den ersten klinischen Versuchen. Zunächst, so der plastische Chirurg, der heute im Städtischen Klinikum Bielefeld-Mitte arbeitet, muss noch geklärt werden, ob von den rückprogrammierten Stammzellen möglicherweise eine Krebsgefahr ausgeht. Aus diesem Grund müssen die transplantierten Versuchstiere noch längere Zeit unter Beobachtung stehen.