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Der Regisseur Andreas Kriegenburg verlässt im Sommer das Hamburger Thalia Theater und wechselt ans Deutsche Theater in Berlin. Als Abschiedsinszenierung präsentiert er Molières "Menschenfeind". Statt auf die Weiten des Bühnenraums setzt er dabei auf die Close-ups einer Kamera - eine Inszenierung, bei der jeder Lidschlag von Bedeutung ist.

Von Michael Laages | 20.03.2009
    So porentief nahe sind wir den Schauspielerinnen und Schauspielern vielleicht noch nie, in jedem Fall lange nicht gewesen. Denn Andreas Kriegenburg unternimmt für diesen "Menschenfeind" den Versuch, den bewährten Widerspruch aufzulösen zwischen Bühnen- und Kamerakunst, also zwischen Theater hier - und dort Film oder Fernsehen.

    Stets wird ja am Theater gerühmt, dass das Publikum hier "echten Menschen" mit "richtigen" Gedanken und Gefühlen gegenübersitze, während sich auf Leinwand und Bildschirm neben all dem technischen Spektakel und Brimborium eben die Möglichkeit eröffnet, den Menschen extrem hautnah auf die Pelle zu rücken; im Zucken von Mundwinkel oder Augenbraue, in Lidschlag oder Grimasse noch viel, viel mehr zu erfahren von all der inneren wie äußeren Bewegung, die ein Text und eine Geschichte auszulösen vermögen, als noch aus den vordersten Reihen im Theater sichtbar sein kann; und erst recht ganz hinten im Saal.

    Und so sieht Kriegenburgs versuchsweise Lösung des Problems aus - auf zwei bühnenhohen Leinwänden finden die zentralen Dialoge statt in Moliéres trauriger Komödie um den Moral-Fundamentalisten, der keine Kompromisse schließen will mit der Welt, wie sie ist, und dem darum gerade ihre schönsten Bestandteile aus den Händen gleiten, Liebe nämlich und Freundschaft, Leidenschaft und Lust; all die beißend-scharfen Wort-Gefechte sprechen zum Beispiel Jörg Pose als Misanthrop Alceste und Helmut Mooshammer als sein unbeirrbar freundlich lächelnder Freund Philinte hinter den Leinwänden, in Echtzeit, live und in nächstmöglicher Close-up-Einstellung, in eine Kamera.

    Und als sei auch das noch nicht nah genug, ist Célimene, die leichtlebig-lotterhaft-liebenswerte Angebetete des Herrn Alceste, gegen Ende - da sich ihr Selbst fast aufzulösen beginnt in dem fuchsteufelswilden Kampf, der um sie ausgefochten wird - langwierig damit beschäftigt, sich höchst kompliziert - und dass es den Betriebsarzt graust! - Farb-Folien aus den Pupillen zu fummeln. Bis in die Augenfarbe sollen wir hier die Veränderung der Menschen-Darsteller und Darsteller-Menschen verfolgen; und noch nie waren derart viele ordentliche Zahnreihen zu sehen im Theater.

    Derweil findet auf der "wirklichen" Bühne, also vor den Leinwänden, im wesentlichen die immerwährende Party statt, in deren Verlauf all diese mäßig kompatiblen Menschen der Moderne aufeinander treffen; samt all ihrer Vorstellungen darüber, worüber sich bis zu welchen Grenzen schmerzfrei reden lässt und worüber lieber nicht.

    Zwei eitle Gecken umschwärmen Célimene und Eliante, eine nahe Verwandte; noch viel eitler treibt es mit beiden der Dichterling Oronte; dessen kitschigen Versen wiederum Madame Arsinoé, ähnlich fundamentalistisch gesinnt wie Monsieur Alceste - aber vor allem hinter ihm her -, hier Alexandras schlagerhistorische Fremdlings-Arie vom "Zigeunerjungen" entgegen blökt, bis zum Abwinken.

    Im übrigen wird auf dieser Party abendfüllend Tango-Musik gespielt und oft auch dazu getanzt; und gerade in dieser Allgegenwart von Musik und Bewegung erweist sich Kriegenburgs Inszenierung als überaus reich an kleinen Erstaunlichkeiten, an sonderbaren Verführungs- und Abwehrschlachten - und dies alles eben vor den riesenhaften Live-Video-Bildern, in denen all diese mehr oder minder ausweglos in sich selbst verstrickten und im Miteinander verlorenen Zeitgenossen – fast - das Innerste nach Außen kehren.

    Wobei natürlich mit der Zeit auch das Problem dieser Versuchsanordnung unübersehbar wird: die unabweisbare Dominanz des Kamerabildes. Wichtig wäre der Transfer - und mit ihm die Antwort auf die Frage, ob Kamera-Bild und echter Bühnen-Mensch auch irgendwie miteinander kommunizieren können - damit nicht einfach nur eins neben dem anderen her läuft.

    Hier reicht's dann aber leider nur bis zur nächstliegenden Notlösung - mit den in zeitgenössischen Inszenierungen viel zu gern benutzten Mikrofonen versuchen die Akteure der "richtigen" Bühne Schritt zu halten mit den Riesen-Köpfen auf der Leinwand. Und da die funkelnden Dialoge im "Menschenfeind" zuvörderst den Manns-Bildern gehören, müssen die Frauen in dieser Aufführung schon mächtig viel tun, um präsent zu sein.

    Dennoch gelingt es ihnen eindrucksvoller als allen anderen - Verena Reichhardt als der schrillen Verehrerin von Zigeunerjungen, der immens präsenten jungen Thalia-Debütantin Caroline Dietrich - der Marion Münch darüber hinaus ein atemnehmendes Kostüm verpasst hat - und der reifen Célimene von Judith Hofmann. Was sich - jenseits des Pupillen-Gefummels - schlussendlich in deren Gesicht abspielt, bietet Stoff für ein neues Stück.

    Alexander Simon, Claudius Franz und Marquardt Müller-Elmau sind die übrigen gurrenden Kerle; und auch sie werden dem eigenen Kamerabild gerecht. Es ist halt immer etwas mehr in sich selbst verliebt - und härter, heißer, kälter und weicher als die Wirklichkeit. Insofern ist Andreas Kriegenburgs "Menschenfeind" zum Hamburger Abschied ein Experiment für Schauspieler - und eine Übung für uns, die wir ihnen so gern zuschauen.