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Naher Osten
Hintergründige Ergänzung zur Berichterstattung

Gudrun Harrer liefert mit "Nahöstlicher Irrgarten. Analysen abseits des Mainstreams" ein profundes Hintergrundbuch zur politischen Gegenwart im Nahen Osten.

Von Ulrich Pick |
    Das vorliegende Buch hat eigentlich nur eine einzige Schwachstelle: seinen Untertitel. Denn wirkliche "Analysen abseits des Mainstreams", wie es dort heißt, liefert es leider nicht. Dafür müssten sich im Text genau genommen auch interessante Gedankenspiele und Prognosen finden, die über das Aufzeigen der Fakten hinausgehen. Was vor uns liegt, ist ein profundes Hintergrundbuch zur politischen Gegenwart im Nahen Osten, das durch Kenntnisreichtum besticht und demjenigen, der mehr wissen möchte, als die tägliche Häppchen-Berichterstattung bietet, erhellende Zusammenhänge aufweist. Denn Gudrun Harrer zeigt, dass die für Europäer oft schwer zu begreifende und manchmal widersprüchlich anmutende Politik zwischen Levante, Persischem Golf und Rotem Meer erheblich verständlicher wird, wenn man sich die religiösen, geografischen und vor allem die geschichtlichen Verflechtungen anschaut.
    "Was wiederum heißt, dass das, was wir als Auseinandersetzung mit einem radikalen Islam sehen, nicht immer so war und nicht immer so sein wird. Das ist ein Phänomen der Moderne. Dennoch ist es nützlich, wenn man etwas zu den historischen Hintergründen weiß, um zu verstehen, was da im Nahen Osten heute alles plötzlich, wie es auf Neudeutsch heißt, 'aufpoppt'."
    Zu Beginn steht - sehr aktuell - der Irak, wo die Autorin im Jahr 2006 Sondergesandte des österreichischen EU-Vorsitzes sowie Geschäftsträgerin der dortigen Wiener Botschaft war. Sie lässt den Blick weit schweifen: von der amerikanischen Unterstützung Saddam Husseins gegen Ayatollah Khomeini nach der Islamischen Revolution über den von Bush Senior "nicht zu Ende geführten" Krieg gegen den irakischen Diktator 1991, die anhaltende Unterdrückung der schiitischen Mehrheit durch die sunnitische Minderheit bis zu der mit Lügen begründeten und unprofessionell durchgeführten Besatzung des Landes unter Bush junior 2003, die in der anschließenden Rache der durch Iran unterstützten Schiiten mündet. Dies alles sind die Voraussetzungen, damit Gudrun Harrer den Fokus richten kann auf jene Kämpfer, die im Namen Al-Qaidas ins Land kamen und nun unter anderen Bezeichnungen - beispielsweise: "Islamischer Staat"- weiterwüten:
    "Aus aller Herren Länder setzten sich die sunnitischen Dschihadisten in Richtung Irak in Bewegung, wo sie die Verlierer von 2003 einsammelten. Erst ab 2007, als sie in einem Albtraum des gegenseitigen Abschlachtens von Sunniten und Schiiten erwachten, begannen die 'Aufständischen', sich wieder von Al-Qaida abzuwenden. Aber die Saat war gesät, sie blieb in der Erde, und mit Ausbruch des Aufstands in Syrien begann sie wieder zu sprießen. Schon Musab al-Zarqawi, der 2006 getötete Chef der irakischen Al-Qaida, hatte immer nicht nur für den Irak, sondern für den ganzen Raum gedacht: "Bilad al-Sham", Großsyrien mit dem Westirak."
    Kräftespiele in der Region veranschaulicht
    Dieser geografische Wunschtraum der Islamisten dient der Autorin, klug auf einen Faktor hinzuweisen, der entscheidend zur Unruhe in der Krisenregion beigetragen hat: die von Briten und Franzosen im Ersten Weltkrieg mit einer gewissen Beliebigkeit und teilweise mit dem Lineal gezogenen Staatengrenzen. Dass die Gotteskämpfer sie im Fall von Irak und Syrien nicht anerkennen, ist letztlich nur die Bestätigung, dass beide Länder im Grunde genommen nie zu innerlich stabilen Nationalstaaten geworden sind, sondern Gebilde blieben, deren ethnische und religiöse Spannungen durch autoritäre Herrscher gedeckelt wurden. Um dies zu konkretisieren, beschreibt Gudrun Harrer sehr anschaulich den Aufstieg und die religiösen Hintergründe der Alawiten-Dynastie in Syrien sowie ihre Unterdrückung der sunnitischen Mehrheit im Land. Harrer beschreibt detailgenau, mit welcher Brutalität Hafiz al-Assad, der Vater des jetzigen Präsidenten, die syrischen Muslimbrüder 1982 beim Massaker in Hama auszulöschen versuchte. Mindestens 20.000 Menschen starben. Gerade die Beschreibung der Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten zählt zu den Stärken des Buches. Denn an ihnen gelingt es der Autorin, die Kräftespiele in der Region zu veranschaulichen. Beispielsweise, indem sie auf eine gewisse Spiegelbildlichkeit der Krisenherde Syrien und Bahrain aufmerksam macht:
    "Bekämpft in Syrien eine aus der religiösen Minderheit der Alawiten stammende Herrscherfamilie, die Assads, einen Aufstand, der von der sunnitischen Mehrheit im Land getragen wird, so sind es in Bahrain Mehrheits-Schiiten, die gegen ein sunnitisches Königshaus und eine sunnitische Elite aufstehen. Je nachdem, auf welcher Seite des Persischen Golfs man sich also befindet, ist der bahrainische Aufstand gut oder böse: für die Golfiraner gut, für die Golfaraber böse. Die schiitischen Iraner unterstützen die bahrainischen Rebellen, und die sunnitischen Golfaraber unterstützen das bahrainische Regime. Genau umgekehrt ist es in Syrien. Die sunnitischen Golfaraber unterstützen die syrischen Rebellen und die schiitischen Iraner unterstützen das syrische Regime."
    "Das Gefühl, machtlos zu sein"
    Zu den weiteren Schwerpunkten des vorliegenden Buches zählen ein hintergründiger Essay über Ägypten und seinen neuen starken Mann, General Abdulfattah al-Sisi, eine leider etwas unkritische Innenansicht des alternden saudischen Königshauses sowie eine umfassende Beschreibung der Islamischen Republik Iran, in deren Mittelpunkt das umstrittene Atomprogramm des Landes steht. Hier erweist sich Gudrun Harrer als ausgesprochen kenntnisreich, zumal die nuklearen Experimente Irans ein Dorn in den Augen Israels sind, das immer noch mit einem Militärschlag droht, nachdem es bereits zuvor Atomanlagen im irakischen Osirak sowie im syrischen Al-Kibar zerstört hat. Besonders hervorzuheben sind zudem die Ausführungen über ein Phänomen, welches die nahöstliche Politik kennzeichnet, wie kaum ein zweites: der Gedanke der Verschwörung. Im Gespräch nennt es die Autorin einen "Schlüsselbegriff":
    "Ich glaube, es hat sehr, sehr viel zu tun mit der Entstehung dieser Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg: Nämlich das Gefühl, eben machtlos zu sein, und dass es hinter allem einen tieferen Sinn gibt, den der kleine Bürger im Nahen Osten eben nicht sieht. Es war ja wirklich während des Ersten Weltkriegs und danach so, dass wirklich jeder jeden angelogen hat, verschiedene Zusagen an verschiedene Seiten gemacht wurden. Dass jeder gewusst hat, dass der andere lügt, und dennoch wurde so getan, wie wenn alles in Ordnung wäre. Und dass auch europäische Intrigen - zum Beispiel zwischen Frankreich und Großbritannien - bis nach dem Zweiten Weltkrieg auf nahöstlichem Boden ausgetragen wurden."
    Fazit: Das vorliegende Buch ist eine ebenso solide wie hintergründige Ergänzung zur täglichen Nahostberichterstattung und kann wärmstens empfohlen werden.
    Gudrun Harrer: Nahöstlicher Irrgarten. Analysen abseits des Mainstreams, 192 Seiten. Kremeyer und Scheriau. 22 Euro.