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Nahost-Experte: Israel hat dem Libanon den Krieg erklärt

Der Nahost-Experte Michael Lüders wertet die Blockade-Ankündigung Israels gegen den Libanon als Kriegserklärung. Diese Reaktion auf die Entführung zwei Soldaten durch die Hisbollah sei unverhältnismäßig, sagte der Publizist. Nach seiner Einschätzung wäre die Lage im Nahen Osten dauerhaft nur dann zu beruhigen, wenn Syrien und der Iran in Friedensbemühungen einbezogen würden.

Moderation: Christine Heuer |
    Christine Heuer: Seit gestern operiert das israelische Militär im Libanon, einem unabhängigen Staat mit einer eigenen Regierung. Die Welt hat sich offenbar noch nicht entschieden, was Israels Reaktion auf die Entführung zweier Soldaten durch die Hisbollah im Südlibanon, seine Bombardements auf Ziele in dem Land und die Seeblockade, die Israel gegen den Libanon plant, was all das eigentlich ist - eine weitere Eskalation der Gewalt oder schlicht und einfach Krieg. Am Telefon ist der Nahost-Experte Michael Lüders. Guten Tag, erst einmal, Herr Lüders!

    Michael Lüders: Schönen guten Tag!

    Heuer: Die französische Regierung spricht jetzt von einem unverhältnismäßigen Kriegsakt. Die israelischen Zeitungen titeln mit Worten wie "Ein Zwei-Fronten-Krieg findet nun statt". Stimmt das, ist das ein Krieg?

    Lüders: Es ist eine sehr, sehr gefährliche Eskalation, die man in der Tat mit dem Begriff Krieg umschreiben kann. Denn wenn die israelische Regierung erklärt, dass sie gegenüber dem Libanon eine vollständige Blockade zur See, zu Luft und zu Lande, verhängen will, dann ist das natürlich, formal gesehen, eine Kriegserklärung. Sicherlich hat Israel in jeder Beziehung das Recht, völkerrechtlich gesehen, die zwei von israelischem Territorium entführten israelischen Soldaten wieder frei zu bekommen. Aber die Unverhältnismäßigkeit der Mittel scheint mir doch recht offenkundig zu sein.

    Es hat ja in der Vergangenheit auch schon Entführungen der Hisbollah gegeben, israelische Soldaten, die lange Zeit im Libanon festgehalten wurden. Am Ende sind sie dann frei gekommen, übrigens auch mit Hilfe von deutschen Diplomaten. Und letztendlich weiß man auch in der Regierung in Jerusalem, dass der Verhandlungsweg die einzige Alternative ist. Aber man möchte den Preis für die libanesische Regierung so hoch wie möglich schrauben, um nicht es zur Mode werden zu lassen, dass israelische Soldaten entführt werden. Allerdings geht die israelische Regierung von einer unrealistischen Einschätzung libanesischer Kräfteverhältnisse aus. Die Hisbollah ist ja nicht allein eine Terrororganisation, wie sie in der Regel bei uns gesehen wird. Sie ist eine schiitische Massenbewegung, die eine der wesentlichen Säulen libanesischer Politik darstellt. Würde die libanesische Armee, wie von Israel gefordert, die Hisbollah entwaffnen, würde es ohne Zweifel im Libanon zu einem Bürgerkrieg kommen.

    Heuer: Die libanesische Regierung sucht nun Hilfe bei der internationalen Gemeinschaft und hat gefordert, den UN-Sicherheitsrat einzuschalten. Muss das jetzt geschehen?

    Lüders: In der Tat muss die internationale Staatengemeinschaft handeln. Es kann nicht so weitergehen, dass Israel und der Libanon sich auf einen Weg begeben, der eine weitere Eskalation zur Folge hat. Es braucht ja wirklich nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass auch Syrien möglicherweise in diesen Konflikt hineingezogen wird. Das ist also ein sehr unguter Weg. Mir scheint ein Denkfehler der israelischen Politik darin zu bestehen, dass man glaubt, mit Hilfe von militärischer Gewalt alleine, die Hamas oder die Hisbollah in die Schranken verweisen zu können. Israel hat alles Recht natürlich, seine Staatsbürger zu schützen. Aber umgekehrt bedarf es doch einer gewissen Verhältnismäßigkeit der Mittel, sonst droht der Konflikt vollends außer Kontrolle zu geraten. Und es rächt sich natürlich auch, dass man seitens der israelischen Regierung weder mit der Hamas, noch mit der Hisbollah, direkt verhandeln will, oder mit der libanesischen Regierung. Dann wäre natürlich es viel leichter, diese Konflikte zu lösen. So haben wir eine Drohkulisse, und wie wollen die beiden Seiten jetzt aufeinander zugehen? Das geht nur mit Hilfe internationaler Vermittler, und da bieten sich die Vereinten Nationen als erstes an.

    Heuer: Bieten sich nicht aber auch die USA und auch die EU an, die ja bisher im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern immerzu versucht haben, zu vermitteln, von denen jetzt aber viele den Eindruck haben, sie verhalten sich viel zu ruhig?

    Lüders: Ja, in der Tat, das ist der Fall. Die Europäische Union hat sich vollständig verabschiedet aus der nahöstlichen Politik. Im Grunde genommen ist die EU seit dem Wahlsieg der Hamas im Januar diesen Jahres vollkommen eingeschwenkt auf die amerikanische Linie. Und man hat im Grunde genommen der israelischen Regierung signalisiert, wir haben keine Einwände, wenn ihr die Hamas-Regierung stürzen wollt. Und dazu wird es vermutlich kommen. Nur das Dilemma ist ja, wer soll danach die Regierung übernehmen auf palästinensischer Seite? Zu befürchten ist, dass Chaos und Anarchie sich ausweiten, dass es zu einer Somalisierung der Verhältnisse in den von Israel besetzten Gebieten kommt. Und das wäre für Israel eine sehr viel gefährlichere Situation als ein direkter Kontakt mit der Hamas, als ein Verhandeln mit diesen Organisationen, die wir als Terrororganisationen sehen, die aber den Terror in erster Linie als Mittel zum Zweck begreifen, um die Gründung eines palästinensischen Staates zu erreichen. Es gibt keinen Grund, diese Bewegungen zu mögen, aber man muss sie als Teil der Realität im Nahen Osten anerkennen. Die Alternative ist noch mehr Gewalt und immer mehr Gewalt, auf die Gefahr hin, dass Israel am Ende diese Gewalt nicht mehr kontrollieren kann.

    Und es ist ja eben auch ein Irrtum zu glauben, die arabische Seite würde auf diese Gewalt der israelischen Militärs reagieren durch, ich sage mal, Kapitulation, durch Einlenken. Das Gegenteil ist richtig: Solche Aktionen wie jetzt im Libanon rufen nur immer neue Gewalttäter, auch Selbstmordattentäter, auf den Plan.

    Heuer: Jetzt fragen sich alle, Herr Lüders, wie man herauskommt, aus diesem Teufelskreis. Eine Frage, die sich im Nahost-Konflikt immer wieder stellt, aber vielleicht selten oder noch nie so dringlich wie im Moment. Manche verfallen da auf die Idee, Iran oder auch Syrien - Syrien haben Sie schon erwähnt - vielleicht als Vermittler einzusetzen. Ist so etwas überhaupt denkbar?

    Lüders: Ich glaube, dass es eine dauerhafte Friedensregelung in der Region - wir haben ja mehrere Konflikte, die hier ineinander greifen, mittlerweile - nur geben kann, wenn man Syrien und Iran miteinbeziehen wird. Das ist natürlich nicht gewollt, weder in Washington, noch in Jerusalem. Es gibt gute Gründe, dies nicht zu wollen. Aber auch hier gilt, beide Staaten sind Teil der Realität im Nahen und Mittleren Osten. Und es hilft nicht weiter, eine der Konfliktparteien immer wieder zu dämonisieren und zu sagen, mit denen wollen wir nicht. Es geht ja nicht darum, dass man Frieden unter Freunden schließt, das ist nicht nötig. Aber man muss Frieden mit Feinden schließen, und dazu gehören natürlich auch Syrien und Iran. Und hier werden alle Konfliktparteien aufeinander zugehen müssen, sonst geraten diese Konflikte außer Kontrolle.

    Man weiß ja jetzt schon nicht mehr so genau, wo hört eigentlich der Nahost-Konflikt auf und wo fängt die nächste Krise im Irak an? Denn die Mentalität der Gewalttäter ähnelt sich und natürlich kopieren die Palästinenser und auch die Hisbollah bestimmte Methoden, die sich im Irak als "erfolgversprechend", erwiesen haben. Und es gibt die große Gefahr einer endemischen Gewalt, die vom Nahen Osten bis Pakistan reicht, bis nach Indien hinein. Wenn man dieses nicht will, muss man anfangen zu verhandeln. Die Palästina-Frage - das ist etwas, was wir häufig unterschätzen in Deutschland, in Europa - hat ein ungeheueres, emotionales Sprengpotenzial in der gesamten islamischen Welt, von Marokko bis Indonesien. Und wir dürfen diese Gefühle der Menschen nicht außer Acht lassen, sonst kommt es wirklich zu einer massiven Explosion, die am Ende auch Israel nicht unbeschadet überstehen dürfte.

    Heuer: Heute treffen sich der US-Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin, und wir dürfen annehmen, dass auch in ihrem Gespräch der Nahost-Konflikt eine große Rolle spielt. Welches Signal könnten die beiden heute vielleicht nach außen senden, um den Prozess, den sie beschrieben haben und sich wünschen und für sinnvoll hielten, auf den Weg zu bringen?

    Lüders: Ich fürchte, dass beide sich darauf beschränken werden, bloße Appelle zu richten an die beteiligten Parteien, nicht weiter auf die Gewaltkarte zu setzen. Ich denke, weder in der USA noch in der Europäischen Union ist man gegenwärtig bereit, wirklich Druck auf alle Konfliktparteien auszuüben, und das schließt die israelische ausdrücklich mit ein. Man hat das in der Vergangenheit nicht getan, man möchte das auch jetzt nicht tun. Ich denke, die Lage muss sich erst noch dramatisch verschlechtern, bis man auch in Washington und Brüssel begreift, dass in diesem Konflikt mehrere Parteien zur Vernunft zu rufen sind und nicht nur die palästinensische oder die libanesische beziehungsweise die Hisbollah. Aber zu dieser Erkenntnis, bis die reift, das dauert noch, und bis dahin werden vermutlich noch viele Menschen in Israel und in den Nachbarstaaten diese Nicht-Politik mit ihrem Leben bezahlen.

    Heuer: Der Nahost-Experte Michael Lüders. Ich danke Ihnen für das Gespräch.