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Nahost-Konflikt
"Religion kann man wunderbar missbrauchen"

Pater und Seelsorger Nikodemus Schnabel lebt in einem Kloster im völkerrechtlichen Niemandsland zwischen Israel und Palästina. Nach seiner Erfahrung sehnen sich die meisten Menschen in der Region nach Frieden und Versöhnung. Allerdings fehle auf beiden Seiten Selbstkritik und ein Blick für das Leid der anderen, sagte er im DLF.

Nikodemus Schnabel im Gespräch mit Christoph Heinemann | 24.12.2015
    Der deutsche Pater Nikodemus Schnabel steht vor der Dormitio-Abtei in Jerusalem.
    Der deutsche Pater Nikodemus Schnabel steht vor der Dormitio-Abtei in Jerusalem. (Imago / EPD)
    Christoph Heinemann: Politisch hat das sogenannte "Heilige Land" in diesem Jahr wieder für traurige Schlagzeilen gesorgt: In den letzten Monaten haben auch wir berichtet, dass Palästinenser immer wieder versuchen, Israelis mit Messern zu töten, oder mit Autos Menschen zu überfahren. Die israelischen Sicherheitskräfte reagierten, das heißt, es gab einmal mehr Tote auf beiden Seiten.
    Seti zwölf Jahren lebt der Benediktinermönch Nikodemus Schnabel in Jerusalem. Er hat ein Buch geschrieben: "Zuhause im Niemandsland - mein Leben im Kloster zwischen Israel und Palästina". Und das ist wörtlich gemeint: das Kloster Dormitio steht auf dem Zionsberg, und damit völkerrechtlich auf neutralem Gebiet. Ich habe ihn vor dieser Sendung gefragt, ob diese Attentate etwas Neues darstellen oder inzwischen zur Normalität in Israel gehören?
    Nikodemus Schnabel: Ja man muss es leider sagen: Es ist Teil einer Normalität und ich kann jetzt auch nicht sagen, dass es jetzt die schlimmste Phase meines Dortseins wäre. Ich bin 2003 eingetreten, da war noch Intifada. Da sind Cafés in die Luft gegangen, es sind Busse in die Luft gegangen. Das heißt so gesehen: Ich kenne auch schlimmere Phasen. Ich kenne auch mehrere Gaza-Kriege, Libanon-Krieg. Es ist einfach jetzt eine neue Spielart der Gewalt und der Aggression, des Giftes, was versprüht wird.
    Heinemann: Wer versprüht Gift?
    Schnabel: Auf beiden Seiten die Scharfmacher, also eine Minderheit. Jetzt habe ich gesagt, beide Seiten. Auch das muss man, glaube ich, kritisch sehen, weil ich denke, jede Person, die dort lebt im Heiligen Land, jeder Mensch ist ein Identitätsmix. Und oft tun wir den Menschen schon unrecht, dass wir sagen, "Die Israelis", "Die Palästinenser", "Die Juden", "Die Muslime", "Die Christen. Diese Leute gibt es gar nicht. Jeder hat in sich mehrere Identitäten vereint. Aber wenn wir jetzt mal vergröbern, die Palästinenser, die Israelis, gibt es auf beiden Seiten Scharfmacher, Extremisten, die leider jetzt wieder kurz mal die Oberhand haben, und die große Mehrheit auf beiden Seiten leidet darunter, die eigentlich Frieden will, Koexistenz und eigentlich ganz normal den Alltag gestalten.
    "Es gibt auf beiden Seiten Status-quo-Gewinnler"
    Heinemann: Ist denn eine der beiden Seiten mit dem Status quo zufrieden?
    Schnabel: Schwierig.
    Heinemann: Man fragt sich ja, warum ändert sich nichts.
    Schnabel: Ich glaube, es gibt auf beiden Seiten Status-quo-Gewinnler. Ich glaube, es gibt die Status-quo-Gewinnler jetzt auf der israelischen Seite, vielleicht die radikaleren, die sagen, ja, wir wollen eigentlich ein Ein-Staaten-Szenario voranbringen unter den Bedingungen, die wir dann stellen, und ich glaube, es gibt auf der anderen Seite auch Status-quo-Gewinnler, die sagen, solange das jetzige politische Szenario bleibt und Israel jetzt auch nicht nach links rückt politisch, können wir sehr gut auch international unsere Opferrolle, auch diese Karte spielen. Diese Gewinnler auf beiden Seiten sind aber nicht die normalen einfachen Menschen, die eigentlich ihr normales Leben führen wollen. Die sind Verlierer auf beiden Seiten.
    Heinemann: Und die denken was?
    Schnabel: Die denken, dass sie es nicht verstehen, was das Ganze soll. Ich spreche ja wirklich mit beiden Seiten. Ich habe die große Gnade, nicht nur, dass unser Kloster völkerrechtlich im Niemandsland liegt zwischen Israel und Palästina, zwischen dem hebräisch- und dem arabischsprachigen Jerusalem, sondern eine meiner Aufgaben ist, eben auch Seelsorger zu sein für die deutschsprachigen Katholiken in ganz Israel, ganz Palästina. Das heißt ganz konkret: Wenn ich Kindergottesdienst feiere, können ein paar Kinder besser Hebräisch als Deutsch, ein paar besser Arabisch als Deutsch. Und das heißt, ich bin hier wirklich auch involviert in die Narrative und die Leidensgeschichten beider Seiten. Beide Seiten empfinden einfach Schmerz, Nichtverständnis, warum geht das jetzt schon wieder los, warum jetzt schon wieder Gewalt, warum schon wieder Tod, warum schon wieder Hass. Das ist das, was mich irgendwie auch beruhigt und mir Mut macht, dass ich auf beiden Seiten sehr viele Menschen kenne, die eigentlich sich sehnen nach Frieden, Zusammenleben, Gerechtigkeit und, ganz wichtig, Versöhnung.
    "Es gibt sehr, sehr, sehr viele Grautöne"
    Heinemann: Welche Rolle spielen die sozialen Medien im unfriedlichen Gegeneinander?
    Schnabel: Eine ungute. Das kann ich jetzt wirklich so sagen. Man muss - und ich glaube, das ist, was ich bei vielen auch wirklich schockiert wahrnehme - sich positionieren. Gerade beim letzten Gaza-Krieg fand ich es sehr, sehr extrem, wo wirklich mein Freundeskreis, der sonst sehr differenziert ist, sehr fähig ist zu Grautönen und eigentlich sehr reflektiert ist, auf einmal Propaganda gepostet hat, und zwar entweder wirklich Pro-Hamas-Propaganda, oder absolute Pro-Israelische-Propaganda, die schon übers gute Maß hinausging.
    Und ich kam mir so allein und verlassen vor, wo ich dachte, nein, es ist nicht so, die einen sind nur Opfer und die anderen sind nur Täter. Die Welt ist komplizierter und ich fand mich da wirklich so zwischen allen Stühlen, habe gesagt, Leute, jetzt guckt doch noch mal genau hin, es ist nicht alles Schwarz-Weiß, sondern es gibt sehr, sehr, sehr viele Grautöne.
    Heinemann: Vor der Haustür findet Krieg statt. Radikalisiert der Bürgerkrieg in Syrien junge Männer in Gaza und in den besetzten Gebieten? Bekommen Sie das mit?
    Schnabel: Interessanterweise der Krieg in Syrien, auch im Irak, der sogenannte Daesch, der sogenannte Islamische Staat, wie auch immer, ist schon ein Thema, aber nicht so das bestimmende Thema. Es gibt ganz kleine Kreise innerhalb der Muslime, die da liebäugeln in dem Sinne, endlich gibt es mal eine Macht, die dem Westen und damit auch Israel mal wirklich Paroli bietet, und das attraktiv finden. Aber eigentlich - und das ist sehr interessant - sind beide Seiten - jetzt spreche ich wieder von zwei Seiten, Israelis und Palästinenser - doch sehr stark eigentlich fixiert auf ihre eigene kleine Welt.
    Und obwohl Syrien so nah ist und gerade, wenn man am Golan ist, auch wirklich das Kriegsgeschehen sehen und hören kann - auch unser Kloster in Tabgha am See Genezareth, wir sind Ohrenzeugen des Geschehens -, ist es doch irgendwie merkwürdig weit weg, da zum Beispiel es ja auch keine syrischen Flüchtlinge in Israel und Palästina gibt.
    "Geh zurück nach Italien - das ist der Klassiker"
    Heinemann: Sie berichten über eine zunehmend aggressive antichristliche Gewalt von einigen nationalreligiösen jüdischen Splittergruppen. Wie äußert sich diese Aggressivität?
    Schnabel: Die äußert sich erst mal im Alltäglichen durch Spuckattacken, dass Leute vor oder hinter einem ausspucken, ganz selten einen anspucken, aber das vor einem Ausspucken ist leider fast eine tägliche Realität.
    Heinemann: Das erleben Sie, wenn Sie durch Jerusalem gehen?
    Schnabel: Genau. Im Habit, wenn ich als Mönch erkennbar bin, ist das ein Szenario, mit dem ich rechnen muss und was sehr häufig vorkommt, natürlich in gewissen Vierteln und auch nur von diesen Splittergruppen. Nicht der Jude an sich spuckt mich an. Da muss man sagen, sehr, sehr, sehr viele Juden wissen auch darum und wir hatten, glaube ich, noch nie so viele jüdische Freunde und ich auch so viele jüdische Freunde, wie seitdem diese Gewalt zunimmt. Aber Sie haben mich ja gefragt, wie sich das äußert. Das ist ein Phänomen.
    Das andere sind Verbalattacken, einfach "go home to Italy", "geh zurück nach Italien". Das ist der Klassiker, weil in diesem primitiven Weltbild dieser Leute alle Mönche aus Italien kommen. Dass es auch noch Katholiken außerhalb Italiens gibt, ist in dem Weltbild dieser Leute nicht vorgesehen. Und dann natürlich bis hin - das sind dann die Höhepunkte - wirklich zur Vandalisierung von Autos, Graffitis oder Brandanschlägen. Der traurige Höhepunkt war im Sommer diesen Jahres, 18. Juni, wo wirklich unser Nebenkloster am See Genezareth mit Brandbeschleunigern angesteckt wurde von Leuten dieser Gruppierung mit 1,6 Millionen Euro Schaden und zwei Menschen im Krankenhaus, ein älterer Mitbruder, eine junge Volontärin. Das zeigt, da ist auch enormes Gewaltpotenzial dahinter, ein enormes Hasspotenzial und auch eine enorme Zerstörungsbereitschaft.
    "Große Zweifel, ob Religion das Grundübel der gesamten Menschheit ist"
    Heinemann: Sie sprechen von Hooligans der Religion. Wie erklären Sie sich diesen Hass und diese zunehmenden Feindseligkeiten?
    Schnabel: Dieser Begriff Hooligans der Religion, den würde ich mir wünschen, wenn er vielleicht irgendwie Schule macht, oder wenn er diskutiert würde, weil ich bin immer wieder konfrontiert mit zwei Antworten, die mir nicht gefallen, wenn es um das Thema Religion und Gewalt geht. Es gibt die eine Gruppe, die Religionskritiker, die sagen, schau Dir doch nur die Religionen an, überall wo Religionen an der Macht sind, gibt es Hass, gibt es Zerstörung, gibt es Gewalt, und eigentlich die wahre Fratze jeder Religion ist Gewalt.
    Dann gibt es oft die Gegenreaktion, oft auch von kirchlicher, religiöser Seite: Das hat nichts mit Religion zu tun. Diese Sachen, was der Daesch macht, hat nichts mit dem Islam zu tun; was diese radikalen Splittergruppen, nationalreligiösen Juden tun, hat nichts mit dem Judentum zu tun und so weiter. Und auch die Extremisten von christlicher Seite haben nichts mit den Religionen zu tun.
    Ich sage, beide Antworten springen mir zu kurz. Beide erfassen nicht die Gesamtdimension. Den einen kann ich sagen, wenn man nach Nordkorea schaut und auch in die Geschichte, atheistische Regime sind nicht wirklich attraktiver und gewaltfreier als religiöse. Das heißt, ich habe da große Zweifel, ob Religion das Grundübel der gesamten Menschheit ist. Und da ist meine Position, dass wahre Religion zum Frieden führt, nämlich für mich - und da zitiere ich meinen Regelvater, den Heiligen Benedikt aus dem 6. Jahrhundert -, Religion ist Gottsuche. Und wenn Religion wirklich die Menschen anleitet zum Ringen, Zweifeln, Kämpfen, diese Beziehung mit Gott, da wirklich darum ringen, dann erkenne ich, ich bin selbst ein armseliger Sünder, und wer bin ich, dass ich mich über andere erhebe, dass ich mir besser vorkomme als andere. Der andere ist genauso von Gott geliebt, genauso Abbild Gottes. Das ist die positive Religion.
    Und dann gibt es eben diese Hooligans der Religion. Das sehe ich auch. Ich bin da auch nicht doof und nicht blind. Religion ist wunderbar missbrauchbar, gerade in unserer heutigen globalisierten Zeit. Wir haben Bildungsverlierer, Leute sind verwirrt, wo ist mein Platz, man versteht die Welt nicht, die klassischen Blöcke sind zerbrochen, und dann kann jemand hinkommen und sagen, pass mal auf, ich erkläre Dir in drei Minuten die Welt, das ist richtig, das ist falsch, das ist gut, das ist Sünde, das sind Deine Freunde, das sind Deine Feinde, und dann hat man wunderbar wieder ein Schubkastensystem, man kann die Welt wieder in Schubladen stecken, man kriegt die Welt organisiert, man hat keine Identitätskonflikte mehr, und das ist für mich Hooliganismus der Religion.
    Dieses Bild habe ich aus dem Fußball angelehnt, dass ich sage, Hooligans sind ja auch Teil der Fußballkultur, aber jeder echte Fußballfan würde sich von ihnen auch abgrenzen. Deswegen, um zu zeigen, diese Spannung, die ich sehe. Religion kann man wunderbar missbrauchen, wenn man sie wirklich primitiv als billigen Identitätsantwortgeber nimmt. Religion kann aber auch Menschen zu einer wirklichen großen Höhe und Sensibilität und zu einem Blick der Heiligkeit im anderen Menschen verleihen.
    "Beide Seiten sind sehr stumm, wenn es um Selbstkritik geht"
    Heinemann: Welche geistigen Sperren müssten überwunden werden für ein friedliches Miteinander?
    Schnabel: Ich glaube, da kann Religion wirklich hilfreich sein, weil was ich im Heiligen Land beobachte, ist eine unerträgliche Form des Selbstmitleids auf allen Seiten. Egal mit wem man spricht, alle können abendfüllend erzählen von ihrer Leidensgeschichte, individuell wie kollektiv, eben die Juden von der Schoa, von den Juden-Pogromen, von der Tatsache, dass sie umgeben sind von Nationen, die sie hassen und auslöschen wollen, was alles stimmt, wo ich auch voll dahinter stehe.
    Die Palästinenser können abendfüllend erzählen, dass sie niemand in die Gaskammern geschickt haben, dass sie jetzt büßen müssen, was dem europäischen Judentum angetan wurde, dass den europäischen Juden erzählt wurde, hier sei ein Volk ohne Land. Dabei gab es ein Volk in diesem Land, das vertrieben wurde und jetzt hinter Stacheldraht, Mauern und Checkpoints lebt. Wie gesagt, auch das stimmt alles.
    Aber wie gesagt, beide Seiten sind sehr stumm, wenn es um Selbstkritik geht, also auch mal selbst zu benennen, was man vielleicht falsch gemacht hat, und beide Seiten sind noch sprachunfähiger, wenn es um die Wunden, das Leid der anderen geht. Und da sehe ich eigentlich auch den Königsweg für einen künftigen Frieden, weil ich glaube, der Frieden ist nicht erreichbar mit Roadmaps, Plänen oder irgendwelchen Karten und da mit Stiften irgendwas einzeichnen, sondern da ist sehr viel Emotionalität drin, nämlich auch viel religiöse Emotionalität und viel geschichtsbewusste Emotionalität.
    Das sind ja so die zwei Faktoren, die wir oft im Westen unterschätzen, wie wichtig Religion ist, wie wichtig Geschichte ist, und ich glaube, diesen Gordischen Knoten kann man nur lösen, wenn man das ernst nimmt und die Leute darauf sensibilisiert, die Geschichte des anderen, der anderen wahrzunehmen, anzuerkennen, auch mit ihrem ganzen leidvollen, und dann eigentlich zu einer Position kommt, die ich selbst vertrete. Ich selbst sage ja auch, ich bin weder proisraelisch, noch propalästinensisch, sondern pro Mensch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.